Beim von Papst Franziskus ausgerufenen „Jahr der Barmherzigkeit“ geht es keineswegs bloß um theoretische Ausführungen, sondern um konkrete Taten, Zeichen und Gesten. Ganz in diese Richtung ist die Entsendung der sogenannten Missionare der Barmherzigkeit einzuordnen, die der Papst am Aschermittwoch vorgenommen hat. Es handelt sich um mehr als 1000 Priester aus aller Welt, deren Auftrag darin besteht, „Zeugen der Nähe Gottes und seiner Art zu lieben“ zu sein (Ansprache an die Missionare der Barmherzigkeit, 9. Februar 2016) und Gottes Barmherzigkeit den Menschen nahezubringen. Der Papst aus Argentinien hatte ihre Aufgabe bereits zuvor wie folgt umschrieben: „Ein lebendiges Zeichen dafür zu sein, dass der Vater jeden aufnimmt, der seine Vergebung sucht. Sie sollen allen eine Begegnung voller Menschlichkeit anbieten, eine Quelle der Befreiung, einen Ort der Verantwortung, die es ermöglicht, alle Hindernisse zu überwinden und das einst in der Taufe geschenkte Leben wieder aufzugreifen“ (Verkündigungsbulle zum außerordentlichen Jahr der Barmherzigkeit „Misericordiae vultus“, 11. April 2015, Nr. 18).
Schon aus diesen Ausführungen wird ersichtlich, dass dabei dem Sakrament der Beichte eine besondere Bedeutung zukommt. Den Missionaren der Barmherzigkeit wird daher die Vollmacht erteilt, „auch von jenen Sünden loszusprechen, die normalerweise dem Apostolischen Stuhl vorbehalten sind“, mit anderen Worten, ihnen ist eine besondere Vergebungsgewalt verliehen worden, wodurch praktisch alle Sünden vergeben werden können, wenn der Beichtende darum bittet und die entsprechenden Voraussetzungen mitbringt.
Die Aussendung der Missionare unterstreicht einen Aspekt des Jahres der Barmherzigkeit, der bisher wenig im Blickpunkt stand: Die Barmherzigkeit Gottes ist nicht ein schönes Gefühl oder ein theoretisch-abstraktes Bekenntnis. Barmherzigkeit soll vielmehr erfahrbar werden als Versöhnung mit Gott, mit den Anderen und mit sich selbst. So sehr auch versucht wird, es zu verdrängen: Versöhnung und Vergebung brauchen alle Menschen, denn wer sagt, dass er ohne Sünde sei, führt sich selbst in die Irre (vgl. 1 Joh 1,8). Papst Franziskus wird nicht müde, vor einer falschen Selbstgerechtigkeit zu warnen, die dem Pharisäer eigen ist, der vorne am Altar stehen bleibt und seine guten Taten lobt (vgl. Lk 18,9-14), der aber nicht erkennt, wie wichtig auch für ihn das Geschenk der Vergebung ist. Die Sünden, auch die kleinen, verletzen und bringen Unordnung in das Beziehungsgeflecht mit Gott und dem Nächsten.
Verlorenes Sündenbewusstsein
Schon seit Längerem ist ein Bewusstsein für die Sünde verloren gegangen, was auch damit zu tun haben kann, dass in früheren Jahrzehnten die Sünde möglicherweise zu stark betont wurde. Außerdem besteht die Tendenz, leichtfertig vieles zu entschuldigen, wobei unterschiedliche Begründungen – manchmal freilich eher Ausreden – angeführt werden: Die Verhältnisse hätten sich geändert, heute werden die Dinge anders gesehen als früher, es machen alle so, die Gesellschaft habe sich weiterentwickelt und vieles andere mehr. Die individuelle Freiheit wird zwar betont, aber die Konsequenzen dieser Freiheit werden oft ignoriert.
Es fehlt weitgehend das Bewusstsein, eigenes Handeln auch verantworten zu müssen, und zwar vor Gott, vor dem Nächsten und vor sich selbst. Zugleich haben Psychologen und Psychiater Hochkonjunktur; es scheint, dass viele Menschen im Umgang mit dem, was die Kirche „Sünde“ und „Schuld“ nennt, nicht zurechtkommen, sondern daran zu zerbrechen drohen. Dabei geht es nicht primär um die Einhaltung gewisser Gebote, dieser Eindruck ist oft fälschlicherweise erweckt worden, sondern es geht um das Gelingen des Lebens. Dazu gehört auch der Umgang mit den Fehlern und Schwächen, die jeder Mensch hat, und durch die das Leben scheitern kann. Oft werden kleine und große Kompromisse geschlossen, die das Fundament des eigenen Lebens schleichend, aber stetig aushöhlen. Jedes menschliche Tun hat Auswirkungen, zum Guten wie auch zum Schlechten.
Die Gebote Gottes sollen dem Menschen als Kompass dienen, den richtigen Weg einzuschlagen, der Christus selber ist (vgl. Joh 14,6). „Am Anfang des Christseins steht nicht ein ethischer Entschluss oder eine große Idee, sondern die Begegnung mit einem Ereignis, mit einer Person, die unserem Leben einen neuen Horizont und damit seine entscheidende Richtung gibt“ (Benedikt XVI., Enzyklika „Deus caritas est“, 25. Dezember 2005, Nr. 1). So werden die Gebote zum Merkmal der Unterscheidung, denn wer „meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich liebt“ (Joh 14,21). Es geht also nicht um eine selbstgerechte Nachfolge, sondern um eine realistische Nachfolge Christi, bei der das eigene Scheitern durchaus einen Platz hat, wenngleich sich der Christ mit dem Scheitern nicht zufriedengibt.
Das Bewusstsein der eigenen Sünden ist Ausdruck jenes Realismus, der der Heiligen Schrift zugrunde liegt, denn Jesus wusste, „was im Menschen ist“ (Joh 2,25). Je mehr der Gottesbezug schwindet, umso schwieriger wird es, das eigene Scheitern zuzugeben, denn gewöhnlich äußert sich dies im Gewissen, dem verborgensten Kern des Menschen, „in dem er allein ist mit Gott, dessen Stimme in seinem Innersten widerhallt“ („Gaudium et spes“, Nr. 16). Wer so lebt, als ob es Gott nicht gäbe, ist zwar ein „freier“ Mensch, aber die Freiheit läuft nur zu leicht Gefahr, orientierungslos zu werden und schädliche Auswirkungen zu haben. Schon hier lässt sich erahnen, worauf Barmherzigkeit hinzielt.
Scheitern als Anfang verstehen
Der Weg der Barmherzigkeit und der Versöhnung ist daher von der Gottesfrage nicht zu trennen. Wenn Gott als der barmherzige Vater anerkannt und erfahren wird (vgl. Lk 15,11-32), dann wird selbst das vermeintliche Scheitern nicht zum Ende, sondern zum Anfang eines neuen Lebens. Dazu sind die eigenen Taten im Licht seiner Gegenwart zu betrachten und zu beurteilen. Die Sünde ist die freie Tat des Einzelnen, aber sie zieht weite Kreise; dies wird besonders deutlich, wenn es sich um Taten gegen die Gerechtigkeit, die Menschenwürde oder das Gemeinwohl handelt.
Die Tradition der Kirche unterscheidet zwischen lässlichen (leichteren) Sünden und schweren Sünden, die auch Todsünden genannt werden; bei Letzteren wird die Liebe im Herzen des Menschen durch einen schweren Verstoß gegen Gottes Gebot zerstört (vgl. KKK, Nr. 1855). Es gibt – auch dies entspricht der tagtäglichen Erfahrung – unterschiedliche Arten, wie man vom Weg abkommen kann. So kann es sich um kleine „Verfahrer“ handeln, oder aber auch um große, durch die man – wenn man nicht umkehrt – eben nicht an sein Ziel gelangt. Die schwere Sünde oder Todsünde wird von daher verständlich, sie ist immer auch eine Ablehnung Gottes und führt zur schwerwiegenden Beschädigung der Gottesbeziehung. Dieser Schaden ist aber nicht irreparabel, vielmehr wartet Gott, der barmherzige Vater, sehnsüchtig auf die Umkehr des Sünders. Daran erinnern die Missionare der Barmherzigkeit, sie sollen Türen zu den Herzen der Menschen öffnen (vgl. Predigt zur Aussendung der Missionare der Barmherzigkeit, 10. Februar 2016).
Ihnen ist vor allem die Spendung des Bußsakramentes aufgetragen, denn in der Beichte geschieht Umkehr, Vergebung und Versöhnung. Die Zusage der Barmherzigkeit Gottes ermöglicht so einen Neuanfang, unabhängig davon, wie weit man auch vom Weg abgekommen sein sollte. Der zusammen mit Jesus Christus gekreuzigte Verbrecher ist dafür ein gutes Beispiel. Er gestand ein, die grausame Strafe der Kreuzigung durch sein Tun verdient zu haben, doch noch in diesem letzten Moment seines Lebens kehrt er um, wendet sich an den Herrn und erhält den Zuspruch der Barmherzigkeit Gottes: „Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lk 23,43). Dieses barmherzige Handeln Gottes bleibt nicht ohne Auswirkungen auf das persönliche Leben. Papst Franziskus bemüht sich, dieses Verständnis nicht nur den Gläubigen, sondern auch den Beichtvätern zu vermitteln. Demnach begegnet im Beichtvater der Mensch der Barmherzigkeit Gottes in ganz konkreter Weise. Der Priester wird zum Werkzeug Christi, er handelt in der Person Christi. So ist es Christus, der durch den Priester handelt, der vergibt und Versöhnung stiftet und dabei hilft, einen neuen Weg einzuschlagen.
In der Beichte stellt sich der Christ unter das Wort Gottes und erwartet von ihm Orientierung und gegebenenfalls auch Korrektur. Darin liegt die große Chance, den eigenen Lebensweg zu betrachten und neu auszurichten. Es geht nicht um eine Deutung, wie im Gespräch mit dem Psychologen, sondern um Umkehr. Damit diese gelingen kann, ist eine gute Vorbereitung erforderlich. Ein erster Schritt ist das In-Sich-Gehen, die Besinnung. Im Zeitalter der Postmoderne und unter dem ständigen Einfluss einer Informationskultur lässt sich hier bereits die erste Herausforderung aufzeigen. Die Parabel des barmherzigen Vaters lässt diesen Aspekt deutlich werden, denn der jüngere Sohn ging „in sich“ (vgl. Lk 15,17).
Ein weiterer Schritt besteht in der Anerkennung der eigenen Fehler. Es ist notwendig, ohne Masken ganz offen und ehrlich das eigene Leben kritisch zu hinterfragen. Dieser Prozess führt in der Regel zur Erweckung der Reue über die eigenen Sünden. Dies gilt es in einem weiteren Schritt mit Demut anzuerkennen und zu bekennen. Dazu gehört auch, den Schaden wahrzunehmen, der dadurch angerichtet wurde. Im offenen und vollständigen Bekenntnis der Sünden und der Zusage der Sündenvergebung durch den Priester in der Lossprechung wird Barmherzigkeit erfahrbar. Sie äußert sich aber nicht – wie der protestantische Theologe Dietrich Bonhoeffer sie nannte – in einer „billigen Gnade“, durch die die Barmherzigkeit den Gläubigen geradezu hinterhergeschmissen würde. So etwas sei der Todfeind der Kirche, so Bonhoeffer. Vielmehr gehe es um eine „teure Gnade“, die durch den Tod des Herrn am Kreuz erkauft wurde (vgl. Werke, Bd. 4, Gütersloh 2015, Kap. I, 29-43) und demnach auf die Veränderung des Lebens zielt. Daher schließt die Reue den Vorsatz zur Veränderung des Lebens ein, den Entschluss, gestärkt durch die Erfahrung der Barmherzigkeit sich neu auf den Weg zu machen.
Die Reue und die Bereitschaft zur Umkehr verwirklichen sich im Bekenntnis der Sünden während der Beichte. In diesem Bekenntnis werden die Sünden und Unterlassungen (Gedanken, Worte und Werke) in das Licht der Barmherzigkeit Gottes gerückt. Dabei geht es nicht darum, das eigene Verhalten zu erklären, zu entschuldigen oder gar zu rechtfertigen. Vielmehr steht das von der Reue getragene aufrichtige Bekenntnis im Mittelpunkt: „Ich habe gesündigt. Ich bedarf der Vergebung und der Barmherzigkeit“.
Der Priester, der das Bekenntnis entgegennimmt, tritt dem Gläubigen mit Güte, aber auch mit Klarheit entgegen, schließlich gehört es zu den geistigen Werken der Barmherzigkeit, Sünder zurechtzuweisen und der Sünder kommt ja gerade in diesem Anliegen zum Priester. Der Priester soll sich wie ein Richter und ein Arzt verhalten, eine rechte Einordnung des Bekenntnisses vornehmen und helfen, die Umkehr konkret werden zu lassen. In der Lossprechung schließlich wird das Geheimnis der göttlichen Barmherzigkeit Wirklichkeit: „Deine Sünden sind Dir vergeben“ (Lk 7,48). Das Bekenntnis des eigenen Versagens setzt Demut voraus, sodass der Gläubige mehr auf die Größe Gottes vertraut als auf die eigene Schwäche. Diese Demut ist zugleich die Grundbedingung für eine Korrektur des eigenen Lebens. Der Mensch erhält durch die Erfahrung der Vergebung neue Kraft, um das Leben neu auf Gott und nach seinen Geboten auszurichten.
Die Genugtuung (Buße) lässt diese Bereitschaft zur Umkehr Wirklichkeit werden. Sie soll keineswegs bloß auf einer formelhaften Erfüllung einer mehr oder weniger lästigen Pflicht beruhen, sondern darf sich auch konkret in Werken der Gottes- und Nächstenliebe äußern.
Die von Papst Franziskus ausgesandten Missionare der Barmherzigkeit sollen zu Zeugen für die Bedeutung und Schönheit dieses oft unliebsamen Sakraments im Leben der Kirche werden, indem sie die Betonung nicht auf die Sünde, sondern auf die Barmherzigkeit legen. In einer Zeit, in der die Beichte vielerorts ein vergessenes Sakrament ist, setzen sie ein Zeichen dafür, dass die Versöhnung mit Gott und die Erfahrung seiner Barmherzigkeit ihren Ort in der Beichte haben. Sie ist nicht nur eine Notwendigkeit gelebten Christseins, wie Papst Franziskus auch unter Berufung auf seine eigene Erfahrung unterstreicht; die Gläubigen haben sogar ein Recht darauf, damit das Leben aus der Zusage der Liebe Gottes gelingen kann.
Wenn nun den Missionaren der Barmherzigkeit vom Papst die Vollmacht erteilt wurde, auch von jenen Sünden loszusprechen, die dem Apostolischen Stuhl vorbehalten sind, kommt darin eine weitere Dimension zum Tragen: Einige Sünden sind aufgrund ihrer Schwere mit einer Strafe verbunden, deren Aufhebung nur der Apostolische Stuhl vornehmen kann. Dazu gehören beispielsweise die Verunehrung der eucharistischen Gestalten durch Entwenden, Wegwerfen oder den sakrilegischen Gebrauch (schwarze Messen) (vgl. can 1367 CIC); die direkte Verletzung des Beichtgeheimnisses (vgl. can. 1388 §1 CIC); die Gewalt gegen den Papst (vgl. can. 1370 CIC) und weiteres mehr. Durch diese Sünden wird die Gemeinschaft der Gläubigen so nachhaltig gestört, dass sich der Täter selber aus ihr ausschließt (Exkommunikation latae sententiae). Durch die Verleihung der Vollmacht an die Missionare können jene Gläubigen wieder in die Gemeinschaft der Kirche aufgenommen werden. Ihnen werden nicht nur die Sünden vergeben, sondern auch die damit verbundenen Strafen werden aufgehoben, ohne dass diese Aufhebung beim Apostolischen Stuhl beantragt werden müsste, wie es normalerweise üblich ist.
Damit hängt ein anderer Aspekt zusammen, den ebenfalls die Lebenswirklichkeit reflektiert: In der Beichte werden zwar die Sünden vergeben, aber ihre Folgen im Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft der Gläubigen können damit nicht ungeschehen gemacht werden. Wie eine Operation den Patienten heilt, aber Narben hinterlässt, so versöhnt die Beichte den Menschen mit dem barmherzigen Vater, indem die Sünden vergeben werden, aber sie macht die Sünde nicht ungeschehen. Die Größe der Barmherzigkeit Gottes besteht nun darin, auch im Hinblick auf diese „Narben“ eine Abhilfe anzubieten, und dafür steht der Ablass. Gerade im deutschen Sprachraum verbinden sich mit diesem Thema verschiedene Vorurteile und Missverständnisse, die zum Teil auch geschichtlich bedingt sind. Dennoch lohnt es sich, auch darauf einen neuen Blick zu werfen, und zwar aus der Perspektive der Barmherzigkeit. Papst Franziskus hat darauf bestanden, auch dezentral in allen Diözesen heilige Pforten der Barmherzigkeit zu öffnen, wobei durch das Durchschreiten dieser Pforten, in Verbindung mit Beichte, Empfang der heiligen Kommunion, einiger Gebete, der inneren Reue, den Gläubigen ein vollkommener Ablass gewährt werden kann. Nicht zuletzt deshalb wird vom Heiligen Jahr gesprochen, weil die Erlangung des Ablasses die Zusage der Barmherzigkeit Gottes bedeutet, gemäß der Perspektive: „Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer. Denn ich bin gekommen, um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten“ (Mt 9,13).
Die Missionare der Barmherzigkeit sind vor allem Missionare des Beichtsakramentes. Durch ihr Wirken kann das Jahr der Barmherzigkeit dazu beitragen, nicht nur die Liebe Gottes, des barmherzigen Vaters, (wieder) zu entdecken, sondern auch das Sakrament der Beichte als den Ort, wo diese Barmherzigkeit konkret erfahrbar wird. Barmherzigkeit ist keine billige Gnade, sondern ein teures Geschenk, dessen Preis Christus selbst beglichen hat. Gerade in einer Zeit vielfältiger Konflikte und Spannungen verbindet sich damit eine Botschaft der Hoffnung und der Zuversicht. Sie anzunehmen und in die Welt zu tragen ist das Ziel des Jahres der Barmherzigkeit.