Einen „intellektuellen Giganten“ nannte ihn Tony Blair – den britischen Rabbiner Lord Jonathan Sacks. Jetzt hat er den Templeton-Preis gewonnen, eine Art spirituellen „Nobel-Preis“, dotiert mit fast 1,5 Millionen Euro. Der Lebenslauf des 68-jährigen Rabbiners wird dem Lob des ehemaligen britischen Premier-Ministers gerecht: 16 Ehrendoktortitel, zahlreiche Preise, die er unter anderem für einige seiner mehr als 25 Bücher bekam. Der gebürtige Londoner ist außerdem Inhaber mehrerer Professuren, unter anderem lehrt er „Jüdisches Denken“ an der New York University sowie Recht, Ethik und Bibelwissenschaft am King‘s College in London.
In seiner Zeit als Großrabbiner im Vereinigten Königreich, von 1991 bis 2013, war ihm eine stärkere Beteiligung des Judentums am öffentlichen Leben wichtig. Er setzte sich aber auch für den Respekt gegenüber allen Glaubensrichtungen ein. Sacks ist präsent in Radio, TV, Zeitung – und den sozialen Medien. Der Rabbiner scheut Facebook, Twitter und Youtube nicht, sondern sieht darin eine besondere Chance. Denn gerade die junge Generation, deren Ikone laut Sacks das „Selfie“ ist, müsse man erreichen. So kann man seiner sanften Stimme beispielsweise lauschen, wenn er in einem Youtube-Video eindringlich erklärt, warum er stolz ist, ein Jude zu sein. Die Zugriffszahlen sind sechsstellig.
Als bekannt wurde, dass Rabbi Sacks der Templeton-Preisträger 2016 wird, sprach er zu Vertretern der Presse. In seinem Anliegen, die Religion im öffentlichen Diskurs zu stärken, sah er sich bestätigt: „Keine der vier großen Institutionen der Moderne – Wissenschaft, Technik, Marktwirtschaft oder der liberale demokratische Staat – bieten eine befriedigende Antwort auf die drei großen Fragen die sich jeder Mensch an einem Punkt seines Lebens stellt: Wer bin ich? Warum bin ich hier? Und wie soll ich dann leben?“
Eine Koexistenz von Religion und Wissenschaft ist für Sacks nicht nur geboten, für ihn ergänzen sich die beiden Zugänge zur Wirklichkeit sogar: „Wissenschaft nimmt die Dinge auseinander, um zu sehen, wie sie funktionieren. Religion setzt sie zusammen, um zu sehen, was sie bedeuten.“ Für zweiteres steht er mit seinem Leben und Wirken – für ihn ist der jüdische Glaube die entscheide Antwort für die Frage nach dem Woher und Wohin des Menschen. Und davon legt er Zeugnis ab.
Doch auch die Gottesgewissheit eines Großrabbiners kommt an Grenzen – Sacks erzählt in einem Online-Video bewegt von einem Besuch in Auschwitz-Birkenau und fragt: „Wo war Gott?“ Er findet seine Antwort: „Er war in den Worten“, in Torah-Stellen wie „Du sollst nicht töten“. Gott spreche zu den Menschen, er sei bei ihnen, auch in solchen Abgründen. Nur könne er nichts tun, wenn die Menschen nicht hörten – weil er ihnen ihre Freiheit nicht nehme. Wichtig sei daher Vergebung: „Sie erlaubt es, eine neue Welt zu begründen“, erklärt der Rabbiner.
Sacks ist ein Mensch, der Ruhe und Gelassenheit ausstrahlt und zufrieden wirkt. Doch sein Gesicht legt sich in Sorgenfalten, wenn er von zwei schwarzen Löchern spricht, die, so Sacks, einander umkreisen und dabei enorme Turbulenzen verursachen: auf der einen Seite ein extremer Säkularismus, auf der anderen extreme Formen von Religiosität, die gar das Zeitalter der Religionskriege wieder heraufbeschwören. „Sollten diese zwei mächtigen Kräfte kollidieren, würde die Explosion noch viele Jahrhunderte lang Wellen durch das menschliche Universum aussenden“, sagt Sacks. Vor allem diese Sorge motivierte das Forschen des Rabbis in den letzten 25 Jahren. In der Pressekonferenz zog er drei Konsequenzen aus seinen Forschungen.
Erstens müsste den Religionen eine Stimme im öffentlichen Diskurs zukommen. Zweitens müsse in einer globalisierten Welt so hart wie möglich daran gearbeitet werden, den gegenseitigen Respekt und die Freundschaft zwischen den Religionen zu verbessern. Sein Gottesverständnis lässt dabei Platz für andere Religionen: „Die Botschaft des Monotheismus ist nicht, ein Gott, eine Wahrheit, ein Weg, sondern das Wunder, dass die Einheit im Himmel Vielfalt auf der Erde schafft.“ Eine Relecture des Buches Genesis könne die Rivalität zwischen Juden, Christen und Muslimen beenden. Drittens betonte er, wie wichtig es sei, sich öffentlich zu seinem Glauben zu bekennen. „In Zeiten großer Turbulenzen und Veränderungen werden Kulturen zu Igeln. Sie rollen sich zusammen und fokussieren all ihre Energien nach innen und zeigen der Welt nur scharfe Stacheln“. Dies ist für Sacks ein Symptom der Angst – „und Glaube sollte das große Gegenmittel zur Angst sein“. Dafür steht er mit seinem Engagement.