Hugo Ball, DADA und der KatholizismusGegenwelten

2016 feiert DADA seinen 100. Geburtstag. Als Geburtsstunde der künstlerischen Bewegung gilt die Eröffnung des „Cabaret Voltaire“ durch Hugo Ball, der sich wenige Jahre später dem Katholizismus zuwandte.

Dadaismus - Geburtstag Hugo Ball
Dada wurde im Zuge der Mode sogar zum Markennamen, etwa von Seifen, oder wie hier: Parfümfläschchen. Dass der Begründer Hugo Ball sich in einer späteren Phase auch dem Studium von Heiligen widmete, ist vielen unbekannt.© KNA

Hugo Ball stand nur wenige Minuten auf der Bühne der Weltliteratur, doch diese wenigen Minuten machten ihn berühmt. Es waren die Bretter einer schummrigen Kneipe in der Züricher Unterstadt, in der mitten im Ersten Weltkrieg Exilanten verschiedener Länder Europas zusammenkamen. Und das, was er auf diesen Brettern des „Cabaret Voltaire“ im Februar 1916 vortrug, waren sinnlose Lautreihen, sechs Gedichte, nicht mehr, mit denen eine neue Kunstrichtung begann, die bis heute weltweit Folgen zeitigt: DADA. In diesem Jahr wird sie 100 Jahre alt.

Seiner Frau Emmy Ball-Hennings, keiner unbedeutenden Schriftstellerin, war dieser Auftritt so unwichtig, dass sie ihn in ihrem Vorwort zu einer Neuauflage seines Tagebuchs „Flucht aus der Zeit“ von 1946 nicht einmal erwähnte. Dieses Tagebuch beruht auf Notizen, die sich Hugo Ball von 1913 bis 1921 machte; es ist eine Bearbeitung dieser Notizen von Anfang 1926 und erschien Mitte 1926 im Verlag Duncker & Humblot, dessen Lektor Ludwig Feuchtwanger, Bruder des Schriftstellers Lion Feuchtwanger, ihm zugetan war. Ein Jahr später, am 16. September 1927, starb Hugo Ball mit 41 Jahren im Tessin, wohin er sich ab Juni 1917 immer wieder zurückgezogen hatte. Sein größter literarischer Erfolg, die Biografie des Freundes Hermann Hesse, war gerade zu dessen 50. Geburtstag bei Samuel Fischer erschienen.

Sozialist, Ästhet, Mönch

Das Tagebuch „Flucht aus der Zeit“ gibt Anhaltspunkte für Hugo Balls Entwicklung als Künstler und Kritiker seiner Zeit, als Sozialist, Ästhet und Mönch, wie er im Tagebuch sagte (unter dem 5. Januar 1921): „Der Sozialist, der Ästhet, der Mönch: Alle drei sind sich darüber einig, dass die moderne bürgerliche Bildung dem Untergang zu überantworten sei. Das neue Ideal wird von allen dreien seine neuen Elemente nehmen.“ Diese Sicht Balls, der die drei unterschiedlichen Gestalten aus drei unterschiedlichen, einander bisweilen sogar feindlichen Bereichen, in sich, in seinen eigenen Bestrebungen zu vereinen suchte, gilt es festzuhalten gegen alle landesüblichen Trennungen, will man den katholischen Autor, seine Intention, seine Arbeit verstehen.

Deshalb ist es auch nicht ganz richtig, den „späten“ Hugo Ball, der nur vier Jahre nach den Auftritten im „Cabaret Voltaire“ zur katholischen Kirche zurückkehrte, von dem Dadaisten abzutrennen. Und jener Hugo Ball, der 1919 nach der furchtbaren Katastrophe des Ersten Weltkriegs seine fulminante Analyse der deutschen Ideologie „Zur Kritik der deutschen Intelligenz“ nicht nur gegen die evangelisch-lutherische Kirche als Staatsreligion des militaristischen Preußens wandte, jener Hugo Ball wiederum ist dem nur ein Jahr später revertierten Katholiken näher, als es zunächst den Anschein hat.

Diese drei kurzen Phasen eines allzu kurzen Lebens sind miteinander verbunden in der einen Person und ihrem Streben, das immer aus einer Quelle gespeist wurde, wenn es auch in verschiedene Richtungen ging. Diese drei Phasen werden durch drei Werke markiert.

Da sind zunächst die Lautgedichte. Das sind in der Ausgabe „Gesammelte Gedichte“ der Stieftochter Annemarie Schütt-Hennings von 1963 nur sechs von 78 Gedichten, die anderen sind „konventioneller Art“; die Lautgedichte stellen also im lyrischen Schaffen Hugo Balls eine Ausnahme dar. In der kritischen Ausgabe aller Gedichte, die Eckhard Faul in den „Sämtlichen Werken“ im Jahre 2007 vorlegte, sind es nun zehn Gedichte von insgesamt 150. Zehn Gedichte, die die Welt bewegten. Dass die Lautgedichte aus einer katholischen Erfahrung kamen, bestätigte er selbst. Das Gewand, das er bei seinem Vortrag trug, gemahnte an das eines Bischofs, und sein Vortrag erinnerte an das Psalmodieren in der Kirche. Seine Zeit als Messdiener in seinem Geburtsort Pirmasens tauchte wieder auf. Der schöne Klang der lateinischen Sprache, das waren damals für ihn Lautgedichte, deren Bedeutung er noch nicht verstand.

Im Tagebuch variiert er den Beginn des Johannes-Evangeliums unter dem 16. Juli 1915. Hier hat er die künstlerische Innovation mit der Zeitkritik gekoppelt. Der Hintergrund von DADA ist die Schlacht von Verdun: „Das Wort ist preisgegeben; es hat unter uns gewohnt. Das Wort ist zur Ware geworden. Das Wort sie sollen lassen stahn. Das Wort hat jede Würde verloren.“ Und unter dem 15. Juni 1916: „Christus ist Bild und Wort. Das Wort und das Bild sind gekreuzigt worden.“

In der zweiten Phase veröffentlicht Ball die Schrift „Zur Kritik der deutschen Intelligenz“. Dies ist eine große Polemik gegen die deutschen Intellektuellen von Luther über Kant und Hegel bis zu Marx und Nietzsche, die 1919 in Bern erschien. Hugo Ball will den deutschen Sonderweg markieren, der in den Weltkrieg führte. Seine Schrift ist eine Gegenschrift zu der im gleichen Jahr publizierten Apologie der deutschen Ideologie durch Thomas Mann: „Bekenntnisse eines Unpolitischen“. Das sind zwei unabhängig voneinander entstandene Schriften, die eine in Deutschland, die andere im Exil geschrieben. Sie sind wie Antipoden und sollten deshalb immer miteinander gelesen und interpretiert werden. Die von Hugo Ball ist ungleich luzider als die von Thomas Mann. Diese Schrift liegt erstmals ungekürzt in den „Sämtlichen Werken“ vor, die auch die spätere Kürzung und Bearbeitung enthält, die Ball „Die Folgen der Reformation“ nannte, die negativen Folgen der Reformation. Das ist eine Schrift, die im Jahre des Reformationsgedenkens wieder gelesen werden sollte.

Die dritte Phase ist gekennzeichnet durch das Werk „Byzantinisches Christentum. Drei Heiligenleben“. Dies ist ein Buch, an der Ball seit Ende 1920 arbeitete und das 1923 erschien. Es ist ein Triptychon, ein dreiflügeliger Altar, könnte man sagen, in dem Hugo Ball drei frühe orientalische Kirchenväter porträtiert, Heilige und Asketen, die er seiner Zeit entgegenstellt: Johannes Klimax, Dionysios Areopagita und Simeon der Stylit. In der Mitte, am ausführlichsten behandelt, steht Dionysios Areopagita, der Begründer der abendländischen Mystik. Unter dem 18. Juni 1921 heißt es im Tagebuch: „Als mir das Wort DADA begegnete, wurde ich zweimal angerufen von Dionysios Areopagita: D.A. – D.A.“ Hier schließt er die erste und die dritte Phase seines Werkes aus späterer Einsicht zusammen: Dada und Dionysios Areopagita. Auch diese Schrift erschien, wohl kommentiert, in den „Sämtlichen Werken“.

Flucht aus der Zeit

Diese drei Phasen seines Lebens und Arbeitens ließen sich als die ästhetische, die politische und die religiöse Phase bezeichnen – und die Tätigkeit Balls davor als eine Art Vorspiel. Das sind seine zwei mit künstlerischer Arbeit als Autor, Regisseur und Dramaturg in München angefüllten Jahre von 1912 bis 1914. Hier lernte er all die später berühmten Künstler und Schriftsteller der Münchener Bohème kennen, seine Bekanntschaft mit Wassily Kandinsky und dem „Blauen Reiter“ begann. Es folgte von 1914 auf 1915 ein Jahr in Berlin, in dem er den Anarchisten Gustav Landauer traf und den Literaten Richard Hülsenbeck.

Ball war auch nach seiner Emigration nach Zürich im Mai 1915 mitten unter wichtigen Intellektuellen und Künstlern seiner Zeit bis zu seinem Rückzug ins Tessin. Zürich war damals ein Tummelplatz nicht nur politischer, sondern auch künstlerischer Intelligenz aus aller Herren Länder, siehe all die großen Namen, die im „Cabaret Voltaire“ 1916 und im Jahr darauf in der „Galerie Dada“ auftauchten: Hans Arp, Richard Hülsenbeck, Tristan Tzara, Marcel Janco, Max Oppenheimer, Hans Richter, Friedrich Glauser. Auch in seiner Berner Zeit von September 1917 bis März 1920 stand Ball in Verbindung zu bedeutenden Intellektuellen, vor allem zu Ernst Bloch, wie Ball Mitarbeiter an der von der Entente finanzierten „Die freie Zeitung“.

Die erste Phase, die ästhetische, reicht also von 1915 bis 1917. Sieht man genauer hin, sind es nur wenige Monate: am „Cabaret Voltaire“ in der Spiegelgasse – um die Ecke wohnte Lenin und wartete auf die bolschewistische Revolution – war Ball nur von Februar bis Juli 1916 beteiligt, also kaum ein halbes Jahr, in dem eben DADA geboren wurde. Die „Galerie Dada“ existierte nur von März bis Juni 1917, also kaum vier Monate. Danach zog Ball sich zum ersten Mal ins Tessin zurück.

Die zweite Phase, die politische, reicht von September 1917, als er für „Die freie Zeitung“ zu schreiben begann, bis März 1920, als die Zeitung eingestellt wurde. Im Verlag dieser Zeitung veröffentlichte Ball 1919 sein Pamphlet „Zur Kritik der deutschen Intelligenz“, das von Hermann Bahr, Ernst Bloch, Otto Flake und Franz Blei zustimmend besprochen wurde. Seine Hoffnung auf eine grundlegende Erneuerung Deutschlands nach all dem Grauen des Krieges erfüllte sich nicht; eine moralische Revolution hatte er erwartet. 1920 und 1921 unternahm er voll Hoffnung zwei Reisen nach Deutschland, von denen er tief enttäuscht zurückkehrte.

Die dritte Phase, die religiöse, setzt im Sommer 1920 ein. Er liest im Tessin die Heiligenleben, die acta sanctorum. 1922 kehrte er nach einer Generalbeichte offiziell in die katholische Kirche zurück. 1924 und 1925 hielt er sich mit seiner Frau einige Zeit in Rom auf. Nach dem Misserfolg der Ende 1924 erschienenen Neufassung „Die Folgen der Reformation“ lebte Ball mit Frau und Stieftochter einsam im Tessin. Nur der Freund Hermann Hesse blieb ihm erhalten, und nur die katholische Zeitschrift „Hochland“ druckte noch Aufsätze von ihm, aber auch dies mit Zurückhaltung. Den Rückhalt in der katholischen Kirche, den sich der fromme Ball erhofft hatte, fand er nur in geringem Maße.

Hugo Ball hatte sich aus der Zeit herausgeschrieben: „Flucht aus der Zeit“ heißt nicht ohne Grund sein Tagebuch. Er war ein Eremit geworden im damals noch armen Tessin. Die Gegenwelten, die er in seinen Werken schuf, die ästhetische, die politische, die religiöse haben ihm nicht zum Erfolg gereicht. Ball blieb ein Einzelgänger, der nach dem Ende des Großen Krieges auch bei den Kriegsgegnern der Deutschen nicht mehr gefragt war. So blieb nur Hesse, der den Freund und seine Frau auch finanziell unterstützte. Hugo Ball starb 1927 an Magenkrebs. Im Tagebuch schrieb er schon unter dem 27. April 1921: „Ich habe mir an der Zeit die Zähne ausgebissen und mir infolge davon auch den Magen verdorben.“

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