Gottesfrevel im Christentum und im IslamWen trifft Gottes Zorn?

Geschichtlich hat sich der Gottesfrevel und die Klage darüber ganz unterschiedlich gezeigt: erstens in der Häresie als der Gott und seine Offenbarung verdrehenden Falschlehre; zweitens in der Apostasie als der Gott und seine Religion verachtenden Abkehr, drittens in der Pollution als der Gott und seine Reinheit besudelnden Beschmutzung. Wo aber liegen die Unterschiede zwischen der Tradition des Islam und der des Christentums?

Turmbau zu Babel
Der Turmbau zu Babel, der Sündenfall: Die Bibel beschreibt zahlreiche bekannte Frevel an Gott. Selten blieben sie ungesühnt.© KNA

Wortgeschichtlich steckt in „Frevel“ die Bedeutung „übermütig“, „hartnäckig“, „verschlagen“. Beim Gottesfrevel ist es der Übermut gegenüber Gott oder Göttern, die daraufhin mit ihrem Zorn antworten und den Frevler töten. Sich vor dem Gotteszorn zu schützen, ist einer der wirkmächtigsten Religionsantriebe, ist überdies eine Erstquelle zwischenmenschlicher Religionsgewalt, weil sich die jeweilige Religionsgesellschaft vor dem Gotteszorn zu schützen sucht und deswegen von sich aus den Frevler noch vor Ausbruch des Gotteszornes tötet. Der tödlich bestrafte Gottesfrevel hat sich hauptsächlich auf drei Sachfeldern ausgewirkt: in der Häresie, in der Apostasie und in der Pollution.

Das Neue Testament kommt mit einer anderen Lösung, nämlich allein Gott die Rächung des Frevels anheimzustellen und sie den Menschen zu entziehen. Das ermöglicht ein Freibleiben von zwischenmenschlicher Religionsgewalt und eröffnet religiöse Toleranz. Rainer Forst nennt in seiner Habilitationsschrift „Toleranz im Konflikt“ Jesu Gleichnis vom Unkraut im Weizen „die für die Rechtfertigung christlicher Toleranz prominenteste Stelle“ (Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt 2003, 65). Das Gleichnis besagt: Das Unkraut ist nicht vorzeitig auszureißen; vielmehr gilt: „Lasst beides wachsen“. Exegetisch ist klargestellt: „Die matthäische Parabel gibt die Scheidung allein und ausschließlich in die Hand des Weltrichters“ (Ulrich Luz). Die Konsequenz daraus lautet: Es gibt kein letztgültiges Urteil in den Zeiten der Kirche und es gibt erst recht keine Ketzer-Hinrichtung. Die Vorstellung vom allein Gott zustehenden Urteil kann man als „eschatologischen Vorbehalt“ bezeichnen.

Die Auswirkungen daraus sind epochal. Der philosophisch wie theologisch gebildete Laktanz (gest. 320) hält dafür, dass Gott selbst seine frevelnden Feinde vernichtet. „Der Herr hat sie ausgetilgt und weggefegt von der Erde“ (Von den Todesarten der Verfolger 52). Vom Menschen fordert Laktanz ein Doppeltes: die Freiwilligkeit der Gottesverehrung und überdies kein Zürnen gegen die Gottesverweigerer: „Wir erwarten nicht, dass jemand unseren Gott gegen seinen Willen (…) verehrt, noch dass wir, wenn jemand ihn nicht verehrt, ihm deswegen zürnen“ (Laktanz, Divinarium institutionum libri septem, V,20). Forst sieht in dieser Position „ganz zentrale, für die Zukunft des Toleranzdiskurses wegweisende Argumente genannt“ (Toleranz im Konflikt, 63).

Johannes Chrysostomus (gest. 407) zog weitere Konsequenzen: Jesus habe das Ausreißen des Unkrauts verboten. „Das sagte er, um Kriege, Blutvergießen und Morde zu verhindern. Darum ist es auch nicht erlaubt, den Häretiker zu töten, weil man sonst einen unversöhnlichen Krieg über die Welt brächte“ (Matthäus-Kommentar, Homilie 46). Für die Ostkirche ist die Wirkung durchschlagend gewesen: „Man begegnet in der byzantinischen Geschichte keinem Fall, in dem gegen einen christlichen Ketzer ein Bluturteil ergangen wäre“ (Hans-Georg Beck, Actus fidei. Wege zum Autodafé, 55).

Im Westen wurde Augustinus (gest. 430) maßgeblich. Selbstverständlich kennt auch er das Weizen-Unkraut–Gleichnis: „Denn der Herr selbst hat, als die Knechte das Unkraut sammeln wollten, gesagt: ‚Lasset beides wachsen bis zur Ernte‘, wofür er (der Herr) auch den Grund benannte: ‚damit ihr nicht beim Sammeln des Unkrauts zugleich den Weizen ausreißt‘“ (Contra epistulam Parmeniani, 114). Toleranz ist für Augustinus grundsätzliche Pflicht aller Christen: Selbst die Verweigerer der Glaubensgefolgschaft „müssten sie als Feinde ertragen und müssten geliebt werden, da man ja, solange das Leben währt, nie wissen kann, ob sie nicht noch ihren Sinn zum Besseren wenden“ (De civitate dei I,9).

Augustinus’ Äußerungen sind immer auch eingefärbt von den Auseinandersetzungen mit den Donatisten, und gegen sie als Abweichler billigt er Zwangsmaßnahmen, aber nicht zuerst mit Schrecken, vielmehr mit Belehrung: „Freilich würden sie nur in Schrecken gesetzt und nicht auch belehrt, so würde dies als eine Art Tyrannei erscheinen“ (Augustinus, Brief an Vincentius). Möglich sind gleichwohl drastische Gegenmaßnahmen: „Durch die Strafe der Verbannung und durch Vermögensverluste sollen sie ermahnt werden“. Biblisch rechtfertigte Augustinus diese Gewalt anhand des Wortes: „Nötige sie einzutreten“, entnommen dem Gleichnis vom Gastmahl mit der Nötigung der Eingeladenen (Lk 14,23: compelle intrare). Die Forschung ist sich einig: Augustinus befürwortete Maßnahmen, die für unser Verständnis mehr als drastisch sind, aber er lehnte die in aller Religionswelt obligate Frevler-Tötung ab, „da die Kirchenzucht ohne Blutvergießen geübt wird“ (Augustinus, 1. Brief an Macedonius IV, 10). Im Westen zeigte sich Religionsgewalt am frühesten in der Mission. An Bonifatius, den „Missionar Deutschlands“, schreibt der damalige Papst, er solle die Hacke der Rechtgläubigkeit ergreifen und das heidnische Unkraut ausrotten. Karl der Große wird dafür belobigt, mittels Mission das Unkraut ausgerissen zu haben. Tatsächlich ist die Gewaltmission zwar nie ohne Proteste gegen Zwang und immer auch mit Plädoyers für Freiheit verlaufen, aber im Ganzen zeigt die Mission eben doch Gewalt. Damit aber wurden gleichzeitig Phänomene beseitigt, die auch wir heute aus Menschenrechtsgründen bekämpfen. Germanische Quellen wissen von Menschenopfern, nämlich „jeweils den, den das Los bestimme, bei ihrem Fest unverzüglich den Göttern zu opfern“ (Vita Wulframni 6, 666). Dem trat Karl der Große entgegen: „Wenn einer einen Menschen dem Teufel opfert und ihn nach heidnischer Sitte den bösen Geistern als Opfer darbringt, der soll des Todes sterben“ (Kapitular von Paderborn). Anzuführen sind weiter die bei Germanen und Slawen übliche Tötung der Mädchen, zuletzt auch die Totenfolge, dass nämlich Gefolgsleute sowie Ehefrauen oder Sklavinnen ihrem Adelsherrn ins Grab folgen mussten.

Ketzertötung?

Eine weitere Quelle von Religionsgewalt ist die Pollution, die heute nur noch als „kultische Reinheit“ unterschätzt wird. Gemeint ist nicht die ethische Reinheit, sondern die Verunreinigung durch bestimmte Stoffe, zumeist durch solche sexueller Art. Daraus ergibt sich die allgemeine Pflicht, Menschen, sofern sie durch eigenes Verhalten oder durch Andere polluiert sind, zu reinigen. Eine sogar kriegerische Reinigung findet sich im Ersten Makkabäer-Buch, was dann im Mittelalter zur Rechtfertigung der Kreuzzüge diente: Das durch Christi Blut konsekrierte Heilige Land sei vom Schmutz der Heiden mittels deren Blut rein zu waschen. Papst Innozenz III. (gest. 1216) ließ in alle in der Christenheit zu feiernden Messen die Bitte einfügen: „Gott (…) wir bitten dich demütig, das Land, das dein Sohn mit seinem eigenen Blut geheiligt hat (consecravit), den Händen der Feinde des Kreuzes Christi zu entreißen und dem christlichen Kult zurückzugeben“. Gegen diese lehramtlich-päpstliche Deutung protestierten indes die Kanonisten: Ein jeder, auch der Ungläubige, sei als Mensch ein Ebenbild Gottes; es gebe sogar den edlen Heiden.

Bei der Ketzerverfolgung erbrachte das Weizen/Unkraut-Gleichnis im Westen für 1000 Jahre Gewaltlosigkeit. Im Jahre 1022 erfolgte „die erste sicher bezeugte Ketzerverbrennung des Abendlandes“ (Heinrich Fichtenau, Ketzer und Professoren, München 1992, 35). Aber Hierarchie und Klerus wollten zunächst „vom Bluturteil gegen die Ketzer noch nicht viel wissen“ (Beck, Actus fidei, 61). Ein letzter großer Verteidiger des Weizen/Unkraut-Gleichnisses war der heute kaum noch bekannte Gerhoch von Reichersberg (gest. 1169). „Wo also beide (Weizen und Unkraut) zugleich wachsen, sind sie auf Geheiß Gottes zu ertragen. Selbst wo das Unkraut zu stark überwiegt und den Weizen zu ersticken droht und allein auf dem Acker vorzuherrschen beginnt, (…) muss man sich hüten, dass man nicht das Unkraut beseitigt und zugleich auch den dazwischen stehenden Weizen“ (Ex commentario in psalmos, Hannover 1897, 486). Besonders erregt zeigte sich Gerhoch über die Tötung des zum Ketzer verurteilten Arnold von Brescia; dann sei möglicherweise der Heilige Stuhl von schuldhaftem Blutvergießen befleckt. Wenn bis zu Innozenz III. (gest. 1216) von „Ketzerkrieg“ oder „Ketzerkreuzzug“ die Rede ist, hat sich dieser Krieg nicht gegen die Ketzer als solche gerichtet, sondern gegen deren Unterstützer (Jörg Oberste, Krieg gegen Ketzer?, in: Andreas Holzem [Hg.], Krieg und Christentum, Paderborn 2009, 386).

Dann aber schlug die tolerante Deutung um: Päpste und Theologen rechtfertigten die Ketzertötung. Spätestens Papst Innozenz IV. (gest. 1254) stimmte zu. Thomas von Aquin (gest. 1274) hielt in voller Kenntnis des Weizen/Unkraut-Gleichnisses dafür: Hartnäckige Ketzer verdienen, „nicht nur von der Kirche durch den Bann ausgeschieden, sondern auch durch den Tod von der Welt ausgeschlossen zu werden“; den ausgeschlossenen Häretiker überlässt die Kirche „dem weltlichen Gericht, damit er durch den Tod aus der Welt getilgt werde“. Dieser Umschlag ist doppelt verwunderlich, einmal weil Thomas den Gewissensentscheid, auch den sachlich falschen, für verpflichtend hielt, zum andern weil sich die Theologie jetzt trotz aller Vorwarnungen eine zweifelsfreie Aussonderung des Unkrauts anmaßte.

Mit der von der Reformation proklamierten „Freiheit des Christenmenschen“ kam keineswegs die moderne Religionsfreiheit. Wohl hat Martin Luther die Ketzerverbrennung zunächst abgelehnt: „Szo solt man die ketzer mit schriften, nit mit fewr uberwinden“ (An den christlichen Adel deutscher Nationen von des Christlichen Standes Besserung, WA 6, Weimar 1888, 455). Später aber lautete sein Urteil anders, erstaunlicherweise anhand des Weizen/Unkraut-Gleichnisses: „Lassts beides wachsen“ (Daß weltliche Oberheit den Widertäufern mit leiblicher Strafe zu wehren schuldig sei. Etlicher Bedenken zu Wittenberg, WA 50, Weimar 1914, 6–15, 13).

Erst die pazifistisch gewordenen Täufer kehrten zur biblischen Toleranz zurück. Balthasar Hubmaier (gest. 1528) forderte: „Lassends baide mitainandern auffwachsen“ (Von Ketzern und ihren Verbrennern 8). Ihm folgte auch Menno Simons (gest. 1561). Für den neuzeitlichen Katholizismus ist Friedrich Spee (gest. 1635) anzuführen, der angesichts der Hexenverfolgung dafür hielt: „Wenn Gefahr droht, dass zugleich der Weizen mit ausgerauft werde, dann darf das Unkraut nicht vertilgt werden“ (Cautio Criminalis oder Rechtliches Bedenken wegen der Hexenprozesse, 29).

Thomas Hobbes (gest. 1679) erklärt die Konfessionskämpfe aus dem religiös gebundenen Gewissen, das statt zum Frieden zum Krieg führt. Demgegenüber hat der absolute Souverän den Frieden herbeizuführen. Christliche Fürsten, die sich nicht dem Papst unterwerfen, erweisen sich wie „unser Heiland“, der gebot, „Weizen und Unkraut zusammen wachsen zu lassen“ (Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates). John Locke (gest. 1704), dessen Einfluss als immens einzuschätzen ist, lehnt Gewissenszwang ab und will deswegen Trennung von Kirche und Staat. Sein Argument ist der eschatologische Vorbehalt, dass nur Gott die Bestrafung der Irrenden zustehe: Denn Christus hat den Christen in der Parabel vom Unkraut geboten, „dass sie die Ketzer nicht mit Gewalt sollen auszurotten suchen, sondern vielmehr Weizen und Unkraut miteinander wachsen zu lassen bis zur Ernte“ (Brief über Toleranz).

Noch bis in die erste parlamentarische Definition der Religionsfreiheit, wie sie 1848 in der Frankfurter Paulskirche diskutiert wurde, wirkte das Weizen/Unkraut-Gleichnis nach. Wilhelm Emmanuel von Ketteler (gest. 1877) ermutigte die katholischen Abgeordneten dazu, für Religionsfreiheit zu stimmen, verstanden als Recht, den eigenen Glauben zu bekennen, sich dieser oder jener Religionsgemeinschaft anzuschließen, in ihr zu verbleiben oder sie zu verlassen. Zur Begründung verwies Ketteler auf das Weizen/Unkraut-Gleichnis, demzufolge im Christentum letztgültige Urteile über Religionsverhalten nur Gott und nicht Menschen zustünden: „Nein, damit ihr nicht etwa mit dem Unkraut auch den Waizen ausreutet“ (Religionsfreiheit). Ketteler repräsentiert damit „eine neue Ära“ und eröffnet „einen Raum, den die Päpste mit ihrer Staatsdoktrin verschließen wollten“ (Rudolf Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht, Paderborn 2005, 16). Seine Definition für Religionsfreiheit ist aufklärerisch, sogar einig mit Voltaire. Formuliert worden ist in Frankfurt jene Religionsfreiheit, wie wir sie heute grundsätzlich verstehen: Freiheit zum Eintritt und Freiheit zum Austritt.

Das Dekret des Zweiten Vatikanums über die Religionsfreiheit hat die neutestamentliche Komponente wieder voll zur Geltung gebracht. Es begründet die Religions-Freiheit erneut mit dem Weizen-Unkraut–Gleichnis und folgert daraus: Niemand ist daran zu hindern, „sich einer religiösen Gemeinschaft anzuschließen oder sie zu verlassen“, aut ingrediatur aut relinquat (Dignitatis humanae, Nr. 6).

Der Islam in der derzeitigen Situation

Der renommierte Islam-Forscher Tilman Nagel hat 2014 acht Punkte benannt, welche die Differenzen zwischen der islamischen Religion und der modernen Welt klarlegen (Angst vor Allah? Auseinandersetzungen mit dem Islam, Berlin 2014, bes. 347-373): die „allgemeine Herabwürdigung und Verächtlichmachung Andersgläubiger und Glaubensloser“; die „Geringschätzung von Normen und Werten, die nicht auf der Botschaft des Korans, sondern auf eigenverantwortlichem Gebrauch des Verstandes beruhen“; die „Verwerfung der Pluralität“; die „Verweigerung der Religionsfreiheit durch Bedrohung des Austritts aus dem Islam mit der Todesstrafe“; die „koranischen Strafen“; „Gewalt gegen Andersgläubige, Dschihad“; die Folgsamkeit gegenüber den Geboten Allahs und die „fehlende Gleichberechtigung der Frauen“.

Für die Tötung der vom Islam Abfallenden sind die Ausgangspunkte die uralten: der Zorn Gottes und die Tötung der Frevler. Der Koran droht: „Über sie kommt ein Zorn von Gott“ (16, 106f.). Indem aber der Koran für den erregten Gotteszorn keine genaue diesseitige Strafe festlegt, könnte hier wie im Christentum ein eschatologischer Vorbehalt Allahs gelten. Tatsächlich rät der Koran: „Besser wäre es, wenn ihr geduldig seid“ (16,126). Eine 2015 vorgelegte Untersuchung von Christine Schirrmacher über den Abfall vom Islam resümiert folgenderweise: Insgesamt wird die Position der Befürworter der Todesstrafe nur „von wenigen Theologen grundsätzlich hinterfragt“ (Schirrmacher, „Es ist kein Zwang in der Religion“ [Sure 2,256]. Der Abfall vom Islam im Urteil zeitgenössischer islamischer Theologen, Würzburg 2015, 488). Sofern ein Apostat von privater Hand zu Schaden gekommen ist, „kann dies für die Täter in manchen Ländern gar keine oder nur eine geringe Strafverfolgung nach sich ziehen (zum Beispiel in Pakistan oder Iran)“. Einige Theologen halten ausdrücklich daran fest, „dass es die Pflicht jedes muslimischen Gläubigen sei, einen Apostaten zu töten, wenn die Regierung dieser Pflicht nicht nachkomme“. Apostasie und insbesondere der Übertritt zu dem als minderwertig empfundenen Christentum gelten als gesellschaftlich verfemt, so dass Muslime die Todesstrafe in Ägypten zu 84 Prozent, in Jordanien zu 86 Prozent und in Pakistan zu 76 Prozent billigen (490). Fazit: „Aufgrund der Besonderheiten des Schariarechts hinsichtlich seines Charakters und seiner Genese scheint es schwer vorstellbar, dass sich umfassende Freiheitsrechte in Fragen der Religionszugehörigkeit, des Religionswechsels oder einer fehlenden Religionszugehörigkeit ohne eine grundlegende Neubetrachtung des Schariarechts durch die etablierte Theologie entwickeln könnten“ (492).

Gewalt produziert im Islam des Weiteren die Pollution. Bei den Kreuzzügen herrschten auf islamischer Seite die gleichen Vorstellungen von Reinheit und Unreinheit wie bei den Christen, wobei sich die Islam-Gläubigen aber gegenüber den Christen als weitaus reiner fühlten (Carole Hillebrand, The Crusades. Islamic Perspectives, Edinburgh 1999, 267), erachteten sie doch die ins Heilige Land eingedrungenen „Franken“ nur wie verunreinigte Tiere (276). Aufgrund der eigenen Reinheitsgebote galten die Christen als „Inbegriff von Pollution“, obendrein behaftet mit der „Unreinheit des Feindes“ (285). Dementsprechend wurde zur islamischen Rückeroberung Jerusalems gepredigt. Während aber christlicherseits gegen die Pollutio-Begründungen der Kreuzzüge Bedenken vorgebracht wurden und sogar ein „edler Heide“ kreiert werden konnte, sieht es im Islam bis heute anders aus: „Nirgends werden Andersgläubige auch nur andeutungsweise als gleichberechtigte Partner der Gemeinschaft der ‚Gläubigen‘ aufgefasst“ (357).

Die derzeit gespannte Situation im Nahost-Konflikt ist auch dadurch bestimmt, dass dschihadistische Muslime wie übrigens auch ultraorthodoxe Juden für den Besitz heiliger Orte und deren Reinerhaltung weiterhin zu kämpfen bereit sind. Die Hamas-Bewegung argumentiert damit, die „israelische Besatzung stelle eine Schändung islamischen Stiftungslandes (waqf) dar“ (Hans G. Kippenberg, Rahmungen von Gewalt, in: Christian Gudehus und Michaela Christ [Hg.], Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2013, 66–75, 72), und Usama bin Laden sah den heiligen Boden des Islam durch die Militärpräsenz von US-Soldaten „entweiht“ (73). Gegen Muhammeds Botschaft erhebe sich derzeit eine globale Allianz des Bösen, die einen Verteidigungsdschihad erfordere und die amerikanischen Besatzer zu terrorisieren erlaube (Heinz-Günther Stobbe, Religion, Gewalt und Krieg, Stuttgart 2010, 312-323). Die ultraorthodoxen Israelis deuteten den Sechs-Tage-Krieg als „Krieg der Erlösung“ (Kippenberg, Rahmungen von Gewalt, 71), und die inzwischen vorangetriebene Siedlungspolitik verstehen sie als „messianischen Geschichtsprozess“. Der Kampf, wie ihn Christen und Muslime einst in den Kreuzzügen mit der beiderseitigen Pflicht zur Reinigung vom Heidenschmutz ausfochten, setzt sich also bis heute fort.

Bis heute betrifft die Pollution jeden einzelnen Moslem, wird doch für das Gebet die kultische Reinheit gefordert. Der Koran schreibt vor: „Ihr, die ihr glaubt, kommt nicht zum Gebet, während ihr betrunken seid, bis ihr wisst, was ihr sagt, und auch nicht sexuell verunreinigt – es sei denn, ihr geht vorbei –, bis ihr euch gewaschen habt“ (4,43). Dass die Praxis der äußeren Reinigung bald schon unhaltbar sein wird, ist abzusehen; denn die moderne Medizin, der sich auch die muslimische Welt nicht entziehen kann, entsakralisiert gerade auch die Sexualstoffe, so dass sie nicht mehr verunreinigen.

Beide Religionen, Christentum wie Islam, schätzen, ja fordern das Martyrium als gottgefälliges wie himmlisch belohntes Zeugnis, freilich mit unterschiedlichen Konzepten und Auswirkungen. Nach christlicher Auffassung ist das Martyrium ein „Widerfahrnis“ (Michael Slusser, Martyrium, 207), das bei der Bezeugung des Gotteswortes und im Einsatz für Andere hinzunehmen ist, dabei den höchstmöglichen Preis erfordert, den eigenen Tod, den Gott in besonderer Weise begnadet: „Wenn ihr wegen des Namens Christi beschimpft werdet, seid ihr seligzupreisen, denn der Geist der Herrlichkeit (…) ruht auf euch“ (1 Petr 4,14). Für sich selber erhofft der Erstmärtyrer Stephanus gleichwohl die Gottesnähe: „Herr Jesus, nimm meinen Geist auf“ (Apg 7,59). Diese Aussage konnte aber auch als Aufforderung verstanden werden, das Martyrium zur Erlangung des besonderen Gottesgeistes und der direkten Gottesnähe gezielt anzustreben. Genau das aber wurde im Christentum verboten, denn das Martyrium galt als Widerfahrnis in der Bezeugung des Gotteswortes und als Einsatz für Andere. Es war keine Himmelstreppe. Das islamische Martyrium versteht sich gleichfalls als Zeugnis für Allah, führt aber zu anderen Konsequenzen. Voran stellt der Koran die Belohnung. Dieser Gotteslohn bedeutet für die Märtyrer: „Gärten und Weinstöcke und gleichaltrige Frauen mit schwellenden Brüsten“ (78,32f). Zusätzlich sind Sprüche Muhammeds überliefert, die den Märtyrern den ersten Platz im Paradies, den Schutz vor Feuerspein, die Krone der Ehrwürdigkeit, dazu zweiundsiebzig Paradiesjungfrauen, die Huris, in Aussicht stellen (Adel Theodor Khoury [Hg.], Der Koran. Erschlossen und kommentiert, Düsseldorf 2007, 321). Der islamische Märtyrer ist folglich nicht zuerst dadurch charakterisiert, „dass er Zeugnis ablegt (…), sondern durch seine göttliche Belohnung“ (Michael Bonner, Märtyrer VII. [Islam], in: RGG 5, 2002).

Von höherer islamischer Theologie her wird an das Verbot des Selbstmordes erinnert, das allerdings im Koran nicht mit letzter Sicherheit nachzuweisen ist, sodann an das Verbot, Unbeteiligte nicht töten zu dürfen (Tilmann Seidensticker, Der religiöse und historische Hintergrund des Selbstmordattentats im Islam, in: Kippenberg und Seidensticker [Hg.], Terror im Dienste Gottes, Frankfurt 2004, 107–116, 108), wofür der Koran anordnet: „Wenn einer jemanden tötet, jedoch nicht wegen eines Mordes oder weil er auf Erden Unheil stiftet, so ist es, als hätte er die Menschen alle getötet“ (5,32) (Khoury, 259). Das die Welt verändernde Selbstmordattentat vom 11. September 2001 auf das New Yorker World Trade Center hat der Haupttäter selbst im Vorhinein kommentiert: jeden Akt im Flugzeug mit religiösen Gebeten und Riten vollziehen, die zu tötenden Piloten als Schlachtopfer darbringen, dabei die sichere Erwartung auf Eintritt als Märtyrer ins Jenseits und dort von den Huris empfangen zu werden (Die „Geistliche Anleitung“ der Attentäter des 11. September, in: Terror im Dienste Gottes, 17–27). Die Selbstmord-Attentate sind inzwischen steil in die Höhe gegangen: von Null im Jahre 1995 zu 500 im Jahre 2010. Dass dabei Unbeteiligte, gerade auch eigene Glaubensangehörige, mit in den Tod gerissen werden, ist Fakt, widerspricht allerdings dem Koran.

Dringendst gebietet sich zur Zeit eine Mahnung an all jene, die „den wahren Islam als anders“ beschwören. Bernard-Henri Lévy, einer der derzeitigen französischen Meisterdenker, forderte vom Islam eine klare Distanzierung von aller Religionsgewalt: „Jene unter uns, deren Glauben der Islam ist, haben die Pflicht, sehr laut und in großer Zahl zum Ausdruck zu bringen, dass sie diese verirrte und widerwärtige Form theologisch-politischer Leidenschaft ablehnen“ (Das ist die Stunde einer schonungslosen Wahrheit, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Januar 2015, 11). In Wirklichkeit vermittelt der Terroranschlag auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“, wie beim Attentat sofort vorhergesagt wurde, „einen Vorgeschmack auf das, was zu folgen droht“ (Rainer Hermann, Endstation islamischer Staat? München 2015, 130). Zu registrieren sind inzwischen die Attentate vom 13. November 2015 in Paris und am 22. März 2016 in Brüssel. Die Verantwortung mag nur bei der kleinen Gruppe der Salafisten liegen, deren Zahl auf 30 000 bis 40 000 geschätzt wird. Der innerislamische Streit über das bedrohliche Gewaltpotenzial ist heftig genug. Hamed Abdel-Samad, der eine kritische Biographie Mohammeds geschrieben hat, unterstellt, der Islam zeige derzeit ein „Potenzial, Gewalt zu bejahen und im Namen des Islam zu unterstützen“ (Mouhanad Khorchide, Abdel-Samad, Stefan Orth [Hg.], „Zur Freiheit gehört, den Koran zu kritisieren“. Ein Streitgespräch, Freiburg 2016, 18). Khorchide möchte zwischen Islam und Islamismus differenzieren, demzufolge „der Kern des Gewaltproblems nicht der Koran ist“ (19), was bedeute, „den Koran im Sinne demokratischer Grundwerte zu lesen“ (45f.). Wie bedrohlich für beide die Situation ist, zeigt der Polizeischutz für Abdel-Samad und die Morddrohungen gegen Khorchide.

Sowohl Christentum wie Islam haben eine Rückbesinnung vollzogen. Im Christentum führte diese Rückbesinnung zur altchristlichen Toleranz zurück. Das Christentum hat sich überdies auf die neutestamentliche Nichtigkeit der Pollution wie auch auf die Nichtexistenz heiliger Orte zurückbesonnen. Ganz anders im Islam, der weltweit zweitgrößten Religionsgemeinschaft. Auch hier geschah eine Rückbesinnung. Die nach dem Ersten Weltkrieg als tiefste Erniedrigung empfundene Auflösung des Osmanischen Reiches führte politisch dazu, dass alle islamischen Länder unter westliche Hoheit kamen. Angesichts des Glaubens, Allah sei der einzig Wahre und Höchste, angesichts auch des Auftrags, die Religion Allahs nötigenfalls mit Waffen zum Siege zu führen, musste die erfahrene Ohnmacht zur Rückbesinnung führen. Zuerst in Ägypten bildete sich eine neue Bewegung, die heute als „Muslim-Bruderschaft“ bekannt ist: „Allah ist unser Ziel. Der Prophet ist unser Führer. Der Koran ist unsere Verfassung. Dschihad ist unser Weg. Auf dem Weg Allahs sterben, ist unsere höchste Hoffnung“ (Hillel Fradkin). Dringlichst ist der Niedergang rückgängig zu machen, und dem haben auch der Koran und die Scharia zu dienen; letztere war beim Tode vorgeblich in all ihren Bestimmungen bereits zugänglich als mündliche Überlieferung (Nagel, Grundlage des islamischen Rechts, 11). Koran und Scharia haben deswegen authentisch religiösen Charakter. Die Folge ist, „dass alles Recht islamischer Tradition Offenbarungscharakter hat“. Das bedeutet zugleich, dass somit eine unmittelbare Übernahme von Bestimmungen oder Auslegungsmethoden aus nicht islamischen Quellen ausgeschlossen ist.

Die christliche Rückbesinnung führt zurück zur frühchristlichen Religionstoleranz. Die islamische Rückbesinnung führt zurück faktisch zur Religionsgewalt.

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