Ein Gespräch mit dem Präfekten der Glaubenskongregation Kardinal Gerhard Ludwig MüllerBarrieren abbauen

Wohin will Papst Franziskus? Wie ist sein Apostolisches Schreiben „Amoris Laetitia“ zu bewerten? Und wie steht es derzeit um das Verhältnis des Lehramts zur wissenschaftlichen Theologie? Darüber sprachen wir mit dem Präfekten der Glaubenskongregation, Kardinal Gerhard Ludwig Müller.

Kardinal Gerhard Ludwig Müller
Kardinal Gerhard Ludwig Müller: „Wenn man voll und ganz katholisch sein will, muss man das Zweite Vatikanische Konzil anerkennen.“© Paul Haring/CNS photo

Herr Kardinal Müller, wir befinden uns in einer Zeit, in der viel über den Niedergang von Kirche und Glauben geklagt wird. Gab es in den letzten Jahrzehnten auch positive Entwicklungen?

Gerhard Ludwig Müller: Eine solche Bilanz ist schwierig. Denn es stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien das beurteilt werden soll. Wir als Christen haben ein eschatologisches Geschichtsverständnis. Das Handeln Gottes in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi ist Grund und Maß von allem. Daher rechnen wir von Anfang an mit einem dramatischen Auf und Ab der Geschichte und nicht nur mit einer harmonischen Aufstiegs- oder tragischen Abwärtsbewegung. Zweifellos haben wir bei uns in Deutschland gerade mit der liturgischen und biblischen Bewegung sowie mit der Ökumene auch positive Zeichen zu vermelden. Trotzdem bedrückt es uns, wenn die Frequenz des Gottesdienstbesuches zurückgeht, wenn Getaufte der Kirche, ihrer Mutter, den Rücken zukehren, wenn viele Jugendliche ihre Wurzeln nicht mehr im christlichen Glauben haben. Aber statt in Resignation zu verfallen, soll uns dies ein Aufruf sein, uns mit neuem Mut als missionarische Kirche zu verstehen.

Waren die Fünfzigerjahre mit einer als selbstverständlich empfundenen Volkskirche eine bessere Zeit?

Müller: Sicher war es besser, dass vor 50 Jahren mehr Leute in die Kirche gegangen sind. Auch wenn man das letztlich nicht beurteilen kann: Wenn die Umgebung katholisch sozialisiert ist, werden auch viele Menschen einfach mitgetragen. Das Getragen-Werden vom katholischen Milieu hat einen Vorteil, aber auch den möglichen Nachteil, dass der Glaube dahindümpelt und einer Prüfung nicht standhält. Wann immer man Zeitpunkte aus der Vergangenheit hernimmt und zur Norm erklärt, stellt man sich selbst ein Bein.

An welchen Stellen ist denn die Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils innerhalb der katholischen Kirche besonders gelungen? Was sind für Sie die großen Errungenschaften?

Müller: Die Mehrzahl der Katholiken wird hier die Liturgie nennen. Die Liturgieerneuerung kreist um die Umsetzung einer participatio actuosa, der lebendigen und sichtbaren Anteilhabe aller an den heiligen Geheimnissen. Das ist schon ein großer Schritt nach vorne gewesen. Durch die biblische Bewegung hat sich die Leseordnung positiv verändert, in dem der Schatz des Wortes Gottes vielen leichter und reichhaltiger zugänglich gemacht wird. Wichtig ist ebenso die Beteiligung der Laien am ganzen kirchlichen Leben und ihre Verantwortung in Gesellschaft und Kultur. Es gab das Laienengagement auch vorher schon durch Vereine und Verbände im politischen Bereich. Der Apostolat der Laien wurde jetzt aber noch einmal tiefer theologisch begründet mit dem gemeinsamen Priestertum aller Gläubigen. Bestimmte Elemente wurden damit deutlicher ins Licht gerückt: dass wir etwa von Kirche als Gemeinschaft aller Gläubigen reden und damit nicht sofort nur den Papst und die Bischöfe meinen. Zusammen mit den Bischöfen und Priestern bilden alle Gläubigen aufgrund der Taufe die eine Kirche. Das darf natürlich nicht falsch verstanden werden.

An welche Missverständnisse denken Sie?

Müller: Diese neue Betonung meint nicht: Wir sind Kirche, als ob die Kirche uns gehöre. Wir sind nicht der Souverän, sondern Christus ist das Haupt der Kirche. Hier darf nicht der Gedanke einer Volkssouveränität auf die Kirche als Volk Gottes, Leib Christi und Tempel des Heiligen Geistes übertragen werden. Nicht wir als Volk wählen uns einen Gott nach unseren Bedürfnissen, sondern wir sind erwählt und berufen worden in diese Kirche als sichtbare Lebensgemeinschaft mit Gott und untereinander. Auf der anderen Seite ist leider in manchen Medien zu oft noch sachlich falsch von der Kirche die Rede, wenn man nur die Amtsträger meint. Dasselbe gilt, wenn gesagt wird, dass der Papst vor 40 000 Menschen die Messe gehalten habe, so als ob die Gläubigen Zuschauer wären. Er ist zwar der Vorsteher und Christus handelt als Haupt der Kirche durch ihn, aber er hat zusammen mit 40 000 Gläubigen die heilige Messe gefeiert.

Was sind die wichtigen Akzente des jetzigen Pontifikats, um in der Rezeption des Konzils noch weiterzukommen?

Müller: Dem Papst gelingt es, Festgefahrenes wieder in Bewegung zu bringen. Das schafft er durch die Art seines Auftretens. Wo vorher eine Mauer war, gelingt es ihm, Menschen anzusprechen, die in Distanz waren zur Glaubensgemeinschaft. Es wäre natürlich zu wünschen, dass sie sich dann auch näher mit seiner Botschaft beschäftigen, die ja nicht sein, sondern Christi Evangelium ist. Sie sollen die neu gefühlte Nähe zur Kirche nicht nur an Papst Franziskus festmachen, sondern an Jesus Christus. Der Papst hat selbst am Anfang auch deutlich gesagt, dass er lediglich als Stellvertreter Christi auf den Herrn verweist, von dem das Heil kommt. Der Papst ist kein Superstar. Es ist sicher schön, ein Autogramm oder Selfie mit ihm zu bekommen. Aber der geistliche Sinn einer Rom-Reise ist zuerst das Pilgern zu den Apostelgräbern. Es ist ein sekundärer Effekt, dann vielleicht auch den Papst zu sehen oder durchaus geistlich bedeutsam, mit ihm zu beten und die Eucharistie zu feiern. Insgesamt allerdings hat der Papst erreicht, dass viele Menschen der Kirche nicht mehr so misstrauisch oder gar feindselig gegenüber stehen. Viele Barrieren sind durch Franziskus abgebaut worden. Das sollte nicht als Kritik an Vorgänger-Päpsten verstanden werden, weil überhaupt das modische Gegeneinanderausspielen der Päpste nicht von einem weiten katholischen Geist zeugt. Es ist aber das besondere Charisma von Franziskus, dass er bis hin zu den größten Gegnern hin entwaffnend wirken kann.

Franziskus hat von Anfang an Akte der Relativierung des Papst­amtes gesetzt. In „Evangelii Gaudium“ war von einer heilsamen Dezentralisierung die Rede. Inwiefern verändert sich nicht zuletzt durch seinen Stil das theologische Profil des Papstamts?

Müller: Die Lehre vom Papsttum als göttliche Stiftung kann niemand relativieren, dies hieße Gott korrigieren zu wollen. Der Nachfolger Petri ist in seiner Person das immerwährende Prinzip der Einheit der Kirche im Glauben und in der Christus-Gemeinschaft, so sagt es das Zweite Vatikanum. Aber 2000 Jahre lang hat es unterschiedliche epochale Stile gegeben, das Petrusamt auszuüben. Es ist etwas anderes, ob man unter altrömischer Herrschaft oder in einer Feudalgesellschaft lebt oder es in einer globalen Weltgemeinschaft mit den Möglichkeiten des Internets und den sozialen Netzwerken zu tun hat. Darüber hinaus gibt es auch die individuellen Stile. Papst Franziskus versucht alles, was förmlich oder distanzierend wirkt, zu überwinden und Berührungsängste abzubauen. Er geht da über konventionelle Grenzen hinweg. Dezentralisierung ist das, was er theologisch lebt. Rom ist nicht im säkularen Sinn Machtzentrum und Schaltzentrale einer Weltorganisation. Die Universalkirche besteht in und aus den Ortskirchen. Die Partikularkirche von Rom mit dem Papst an der Spitze hat innerhalb der Gemeinschaft der Ortskirchen weiterhin eine ganz spezifische, im Apostel Petrus gegebene Bedeutung für die Einheit der Kirche und ihr Bleiben in der Wahrheit des Evangeliums. Vor einiger Zeit gab es Leute, die in bestimmten Tendenzmedien als engste Berater des Papstes gehandelt werden, denen zufolge man den Sitz des Papstes nach Medellín verlegen oder die Ämter der Kurie auf die Ortskirchen verteilen könnte. Das ist grundlegend falsch und sogar häretisch. Man müsste dazu nur einmal die Dogmatische Konstitution „Lumen gentium“ des Zweiten Vatikanischen Konzils lesen, um die ekklesiologische Absurdität solcher Gedankenspiele zu erkennen. Der Sitz des Papstes ist die Kirche des heiligen Petrus zu Rom. Alle Verheißungen Jesu an Petrus und der Auftrag, die ganze Kirche als oberster Hirte zu weiden, sind auf die römische Kirche übergegangen und damit auf ihren Bischof, den Papst. Da geht es nicht nur um ein organisatorisches Jonglieren, sondern darum, die von Gott gegebene Einheit zu bewahren. Es wäre auch ein Missverständnis, die Kurie als zentralen Verwaltungsapparat des Papstes anzusehen. Die gepflegte Paranoia vom organisierten Widerstand kurialer Kreise, die sich nicht von Papst Franziskus reformieren lassen, ist nur die Gegenprobe auf das Missverständnis der römischen Kurie als politischem Machtapparat. Es geht vielmehr um die Repräsentanz der leitenden Kleriker der römischen Kirche, der Kardinäle, die den Primat des Papstes mittragen und ihm schon im Rahmen der römischen Kirche ein dem Primat inhärentes synodales Gepräge geben.

Mit welchen Folgen?

Müller: Die Synodalität beginnt nicht erst bei der Zusammenarbeit der Bischöfe und des Papstes auf weltkirchlicher Ebene. Denn der Papst ist nicht eine Art ort-loser Überbischof, der sich zufällig und aus Gewohnheit in Rom aufhält, sondern er ist der Bischof der Kirche von Rom und als solcher auch Hirte der Universalkirche. In den alten Dokumenten der Väterzeit spricht man vom Primat der römischen Kirche mit dem Papst an der Spitze. Später hat sich das nicht ganz korrekt reduziert, sodass man nur noch vom Primat des Papstes wie von einer kirchlich isolierten Einzelperson spricht. Das Papsttum aber ist in Rom ver-ortet. In diesem Sinn ist die römische Kirche mater et magistra aller Kirchen des Erdkreises.

Wie kann es denn gelingen, die Vielfalt der Weltkirche im Bestreben nach Einheit besser zur Geltung zu bringen?

Müller: Indem man an die Spitze der Kongregationen und Päpstlichen Räte Bischöfe oder Priester beruft, die aus den verschiedenen Kontinenten und Kulturen stammen. Das müssen geistlich und theologisch qualifizierte Personen sein, die pastorale Erfahrungen haben mit der Leitung einer Diözese. So kann man eine innerkuriale Ämterlaufbahn vermeiden, die sich nach Lage der Dinge nur auf eine Nation stützt. Je nachdem, worum es geht, braucht es eine entsprechende Qualifikation. Die Glaubenskongregation zum Beispiel muss seit Kardinal Joseph Ratzinger, der sie ganz neu geprägt hat, von einem Präfekten und Sekretär geleitet werden, die in der systematischen Theologie zu Hause sind – und nicht von jemand, der in Diplomatie oder Verwaltung besonders bewandert wäre, während etwa der Päpstliche Rat für die Gesetzestexte sich auf fachlich höchst kompetente Kanonisten stützen muss. Das Machtspiel, dass Posten aufgrund von Freundschaften oder Abhängigkeiten vergeben werden, muss der durch die Erbsünde verwundeten Natur zum Trotz immer wieder durchkreuzt werden. Das ist Reform der Kirche im Geiste des Dienstes für Gottes Reich, die Kirche und den Heiligen Vater.

Was sagt denn der Dogmatiker zur Aussage von Papst Franziskus in „Amoris Laetitia“, dass die kirchliche Lehre nicht wie Felsbrocken auf die Gläubigen geworfen werden soll? Wie muss man diesen Satz verstehen?

Müller: Theologisch ist da nicht viel dazu zu sagen. Vielleicht ist dieser Satz aus einem bestimmten Empfinden heraus formuliert. Diese Bilder sind mehr zum paränetischem und weniger zum dogmatischen Gebrauch bestimmt. Ich glaube nicht, dass Gott uns die Gebote gegeben hat, damit wir sie als Waffe gegen andere benutzen, sondern dass wir durch ihre Erfüllung selig werden. Selig, die das Wort Gottes hören und befolgen, heißt es in Lukas 11,28. Insofern wäre ich nicht glücklich, das sage ich ganz offen und bescheiden, wenn jemand sich auf den Papst beruft, um unsere treuen und eifrigen Theologieprofessoren als „Gesetzeslehrer“ abzuwerten. Die Theologie und die Theologen sind unentbehrlich für die Verkündigung der Kirche. Denn wir sollen jedem Rede und Antwort stehen, der uns nach der Vernunft der Hoffnung und des Glaubens fragt, wie es im ersten Petrusbrief 3,15 heißt. Nicht die Bildung ist der Zunder des Hochmutes, sondern der Stolz, der seinen Sitz im Herzen und nicht im Kopf hat, in den er freilich hinauf steigen kann.

Ist die Kirche nicht doch mal mehr mal weniger in die Gefahr des sogenannten Pharisäertums geraten?

Müller: Das ist wohl die Veranlagung eines jeden Menschen. Auch diejenigen, die andere als kalte Gesetzeslehrer brandmarken, stehen allerdings in derselben Gefahr. Das ist nicht besonders christlich: Da wird dann dieses Bild von den Steinen genommen, um Steine auf andere zu werfen. Deswegen bin ich nicht besonders überzeugt davon, dass alle Bilder immer glücklich gewählt sind. Wir alle sollen uns vereinen im Ziel, sowohl den Legalismus als auch den Laxismus in der Auslegung und Anwendung der Gebote Gottes zu überwinden. Wenn wir uns zerstreiten, mit Siegerposen auftrumpfen und bittere Vorwürfe gegeneinander richten, dann haben wir irgendetwas falsch verstanden. Wahrheit und Liebe gegeneinander auszuspielen ist das Spiel des Diabolos.

Ist die katholische Kirche nicht gerade in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dem Legalismus in Fragen zur Ehe und zur Sexualmoral erlegen?

Müller: Das ist schwierig global zu beurteilen, weil es immer viele verschiedene Ansätze der Moraltheologie gegeben hat. Das liegt vielleicht aber auch daran, dass es eine Zeit lang Parallelwelten der Dogmatik und des Kirchenrechts gab. Das findet sich zum Teil noch heute in manchen Kreisen. Kürzlich wurde ein Vorschlag gemacht, dass jeder, der an der Kurie arbeitet, einen Doktorgrad im Fach Kirchenrecht haben muss: damit die zentrale Leitung der Kirche nach dem formalen Prozedere abläuft. Dabei ist doch das Herz des kirchlichen Lebens die Frohe Botschaft. Dem dient die Theologie in ihren Disziplinen von der Exegese und der Dogmatik angefangen bis zum Kirchenrecht und der Pastoraltheologie.

Also ist die Pastoral genauso Verbündete der Dogmatik wie das Kirchenrecht?

Müller: Manche meinen, die Disziplinen unterscheiden sich darin, dass man in der Pastoral fünf gerade sein lässt, während die Dogmatik in sturer Prinzipienreiterei dabei bleibt, dass zwei und zwei ohne Ausnahme immer vier sind. Dogmatiker wären dann die strengen Schreibtischgelehrten, die nach abstrakten Ideen und lebensfremden Gesetzen urteilen. Dabei gibt es die Einheit der Theologie und verschiedene Zugangsweisen, die sich geschichtlich entwickelt haben. Die Kirchenväter haben nicht zwischen dem Kirchenrecht und den Kanones der Konzilien sowie anderen Dogmen unterschieden. Aber mit der durch die Quantität des Stoffes bedingten Aufgliederung der Theologie in verschiedene Fächer ist leider auch die Gefahr entstanden, dass jeder sein Fach vom Ganzen des Glaubens und der Theologie trennt. Es wäre gut, wenn sowohl Dogmatiker als auch Pastoraltheologen bis ins Konkrete hinein gemeinsame Seminare veranstalten, um die Sichtweisen zu vereinen. Das ist auch eine große Aufgabe für den theologischen Schulbetrieb und an den Universitäten: dass die Fächer wieder in ihrer interdisziplinären Verwiesenheit gelehrt und studiert werden.

Wie bedeutsam ist das Apostolische Schreiben „Amoris Laetitia“ mit Blick auf die brennenden Fragen rund um Ehe und Familie? Gibt es hier einen Neuansatz päpstlicher Lehrverkündigung?

Müller: Vom Typ und Stil her gibt es im Vergleich zu sonstigen Lehrdokumenten durchaus eine neue Note. Aber es ist nicht ein Wechsel von einem Extrem ins andere. Denn die bisherigen Lehrschreiben haben auch ihre Aufgabe erfüllt, den Glauben zu erklären und das Leben in Christus zu fördern. Die Glaubenslehre von der Glaubenspraxis zu trennen, wäre so verheerend für die Kirche, wie wenn wir Christus, den Lehrer der Wahrheit und Christus, den guten Hirten, der sein Leben für seine Schafe dahingab, gegeneinanderstellen wollten. Das Besondere ist hier, dass der Papst einen weiten Bogen spannt, um auch die subjektive Situation des Einzelnen voll in den Blick zu nehmen. Er geht noch mehr auf konkrete Situationen ein, weil der Inhalt des uns geschenkten Evangeliums innerlich nachvollzogen werden muss. Wie das jetzt in der Pastoral im persönlichen Gespräch und heiligsten Raum des Gewissens und im Sakrament der Versöhnung mit der konkreten Lebensrealität vermittelt wird, ist neu. Das andere Extrem wäre es, jetzt postmodern alles im Subjektivismus aufzulösen nach dem Motto: Jeder ist sich selbst Gesetz und Richter in eigener Sache.

Hat „Amoris Laetitia“ eine Aufwertung der Gewissensentscheidung mit sich gebracht?

Müller: Die Gewissensentscheidung kann man gar nicht aufwerten, weil das Gewissen die von Gott gegebene höchste Instanz ist, in der ich mich unmittelbar und unvertretbar dem Willen Gottes stelle, der immer mein Heil will. Unser katholisches Verständnis von Gewissen sieht von der heilsnotwendigen Vermittlung durch die Botschaft des Evangeliums und die Kirche allerdings nicht ab. Denn wir sind als Katholiken personal unmittelbar zu Gott und keineswegs durch die Gnadenmittel der Kirche nur indirekt auf ihn bezogen. Dies vollzieht sich aber nicht neben oder gar gegen die Kirche, dem Leib Christi, dessen Glieder wir durch die Taufe sind.

Es gibt aber doch die implizite Kritik, dass man den Aspekt der notwendigen Formung des Gewissens so überbetont habe, dass die einzelne Gewissensentscheidung dadurch obsolet geworden ist?

Müller: Das Gewissen kann mich niemals davon dispensieren, die göttlichen Gebote zu erfüllen, weil uns Gott die Gnade, sie zu erkennen und zu erfüllen, nicht vorenthält, wenn wir ehrlich darum bitten. Es geht um innere Entscheidungen gemäß dem Gewissen, in welchem ich in meinem Wissen und Willen mit der Heiligkeit und Wahrheit Gottes konfrontiert bin. Es gibt eine heilsgefährdende Unwissenheit zum Beispiel durch mangelnde Ehevorbereitung oder überhaupt eine ungenügende Einführung in die christliche Lehre und das Leben mit der Kirche. Die Unauflöslichkeit der Ehe wurzelt in der Sakramentalität. Wenn man das nicht versteht, wirkt die katholische Ehelehre wie eine unübersteigbare, lebensferne Hürde, obwohl doch gerade die Sakramente zur Fülle des Lebens in Christus führen.

Wie ist das mit Fällen, in denen beispielsweise eine Frau, die ihr Leben und das ihrer Kinder vor einem Mann retten musste, aufgrund einer Gewissensentscheidung zur Eucharistie geht?

Müller: Ich habe öfter die Erfahrung gemacht, dass manche Zeitgenossen allgemeine Äußerungen unvermittelt auf ihre Situation beziehen und sie auch falsch verstehen. Das Thema ist nicht die kirchlich erlaubte Trennung von Tisch und Bett in äußerst schwierigen Situationen, sondern das Eingehen einer Ehe zu Lebzeiten des legitimen Ehepartners nach den Regeln des Staates in einer Zivilehe, welche die Kirche nicht als Ehe vor Gottes Angesicht anerkennen kann, solange sie der Offenbarung Gottes treu bleibt. Das ist immer ein Spagat, wenn man dogmatisch, moraltheologisch und kirchenrechtlich über die Ehe als göttliche Einrichtung sprechen will und die Hörer alles nur im Echo der eigenen Situation auffassen. Von der allgemeinen Glaubenslehre über die Ehe ist es noch ein Weg bis zur konkret existierenden einzelnen Ehegemeinschaft. Denn die konkret existierende Ehe ist mehr als ein Fallbeispiel der Ehelehre. Es bedarf der Übersetzung der Lehre über die Ehe als göttliche Einrichtung in die durch Gottes Handeln konkret existierenden Ehen, in dem Gott selbst die beiden Eheleute zu einem unauflösbaren Bund zusammenführt. Nur so kann man die Extreme einer lebensfernen Prinzipienethik und einer selbstreferenziellen Situationsethik vermeiden.

Im Verlauf der Bischofssynode gab es bemerkenswerte Äußerungen des Papstes zum Thema Synodalität als Strukturprinzip der Kirche. Hat der Papst den Bischöfen und den Bischofskonferenzen mit seinem jüngsten Schreiben mehr Freiräume eingeräumt?

Müller: Die Bischöfe bilden als Gesamtepiskopat eine Einheit mit dem Papst. Die Bischofskonferenz ist ein sinnvolles Strukturprinzip, aber sie besteht kraft menschlichen und nicht göttlichen Kirchenrechtes. Es ist durchaus skeptisch zu sehen, wenn jemand sagt, der Papst gebe den Bischofskonferenzen bestimmte Vollmachten, vielleicht sogar zurück, als hätte er ihnen vorher etwas abgenommen. Der Papst kann den Bischöfen nicht mehr geben, als ihnen schon gegeben ist durch die Weihe und damit durch Christus im Heiligen Geist. Und er kann auch niemanden die Bischofsweihe wieder abnehmen. Die Primatsgewalt ist aber nicht teilbar, auch wenn die römische Kirche sie in der Organisationsform der Kurie in besonderer Weise in ihrer Ausübung unterstützt. Der Papst – und schon gar nicht der Vatikan – ist nicht der Arbeitgeber oder Chef der Bischöfe. Sie sind nicht von ihm oder gar von seinem Sekretariat oder den weltlichen Instanzen des Vatikanstaates wie die Angestellten einer Firma abhängig. Dass ein Bischof abgesetzt wird, muss der äußerste Grenzfall bleiben. Probleme sind im brüderlichen Gespräch zwischen dem Papst, beziehungsweise seinen dafür zuständigen Mitarbeitern, und den Betroffenen zu lösen. Der quasi automatische Rücktritt mit dem 75. Geburtstag und eine eventuelle Verlängerung nach dem persönlichen Ermessen des Papstes ist dogmatisch gesehen mehr als grenzwertig. Zwar gibt es das pragmatische Moment der nachlassenden Kräfte. Aber hier wäre eine Nachjustierung des Kirchenrechts erforderlich, um einer Säkularisierung des Bischofsamtes vorzubeugen. Anders verhält es sich ohnehin bei Diözesan- und bei Titularbischöfen.

Und welche Rolle sollten die Bischofskonferenzen zukünftig spielen?

Müller: Es muss vor allem darum gehen, wie das theologische Grundverhältnis des Papstes zu den Ortskirchen und Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm entsprechend den Gegebenheiten in den einzelnen Nationen und kulturellen Räumen zum Wohl der Kirche umgesetzt werden kann. Da haben die Bischofskonferenzen auch ihre legitime und wichtige Bedeutung, damit nicht der einzelne Bischof in Deutschland oder Thailand Dinge allein regelt, die man zusammen schultern muss. Gemeinsam müssen sie Lösungen finden, was etwa das Verhältnis zum jeweiligen Staat angeht oder gemeinsame Standards in der Katechese und Sakramentenvorbereitung entwickeln. Der Glaube aber ist ein und derselbe. Er verbindet die Völker und Sprachen im Heiligen Geist und widersteht nationalen Sonderwegen, die die Katholizität der Kirche immer wieder bedroht haben. Wer die Katholizität der Kirche verdunkelt, der relativiert auch die universale Heilsmittlerschaft Christi und die Einheit aller Glieder seines Leibes in der Kirche.

Aber es gibt doch verschiedene Ansätze innerhalb der Theologie?

Müller: Trotz verschiedener theologischer Schulen und unterschiedlicher Deutungen und Auslegungen ist die Kirche in ihren Entscheidungen definitiv auf die Offenbarung festgelegt. Das kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Wir können nicht sagen, dass das Konzil von Trient damals sieben Sakramente definiert hat, wir aber hier in Deutschland nur mit fünf Sakramenten ganz gut auskommen. Die Zulassung zu den Sakramenten ist Teil des Sakraments und darum kann man nicht hier Katholiken im Stande der Todsünde die heilige Kommunion erlauben und dort nach den Bestimmungen anderer Konferenzen sie verweigern. Die Kirche kann nicht in die Substanz der Sakramente eingreifen. Wie ein Sakrament konkret in die Praxis jeweils im kulturellem Raum vermittelt wird, kann dann allerdings wieder durchaus unterschiedlich sein, etwa bei der Erstkommunion und Firmvorbereitung.

Die eigentlich spannungsvollen Fragen entstehen doch immer dort, wo man von bestimmten kulturellen Kontexten her fragt, was die Prioritäten sind. Wäre es nicht wichtig für das katholische Lehramt, die Vielfalt theologischer Stimmen mehr zu hören, zu würdigen und ausgehend von dieser Pluralität im Gespräch gemeinsame Wege zu suchen beziehungsweise auch andere Wege zuzugestehen? Müsste eine solche Pluralität nicht gestärkt werden?

Müller: Eine Vielfalt der Theologie haben wir schon immer gehabt. Es gibt aber auch eine scheinheilige Berufung auf die Vielfalt der Theologie, um sozusagen die zentrifugalen Kräfte zu favorisieren und die Universalkirche handlungsunfähig zu machen. Dass die Theologie in Deutschland lange Zeit führend war, sollten wir mehr als Auftrag begreifen denn als Pflege unseres Dünkels. Bei solchen Versuchungen hilft mir der heilige Paulus mit der im Ersten Korintherbrief in Kapitel 4, Vers 7 gestellten Gegenfrage: Was hast du, was du nicht empfangen hättest? Die Kirche kann sich jedoch nicht zersplittern in Nationalkirchen und unterschiedliche theologische Schulen, die nicht kompatible Programme bespielen. Da besteht eine große Gefahr, den Leib Christi auseinanderzureißen. Die Pluralität darf nicht die Einheit des Glaubens sprengen, sondern muss sie bereichern. Die Einheit der Kirche ist Gegenstand und Inhalt des Glaubens, so dass ein bloß lockerer Weltbund katholisch geprägter Nationalkirchen mit einem päpstlichen Ehrenpräsidenten diametral dem Pfingstereignis widersprechen würde, aus dem die eine Kirche in den vielen Völkern hervorgegangen ist.

Sie beschreiben das selbst als ein Ringen. In der Diskussion in Deutschland ist neuerlich die Frage aufgekommen, inwiefern die Theologie Teil am Lehramt hat. Was ist die Rolle der Theologie?

Müller: Das Lehramt, insofern es vom Heiligen Geist das Charisma hat, autoritativ den Glauben zu bezeugen und vorzulegen, kommt im eigentlichen Sinne nur dem Papst und den Bischöfen zu. Es ist nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich verbunden mit dem Glauben der Kirche, der durch und durch Vernunft ist, weil sich in ihm die unendliche Vernunft Gottes widerspiegelt. Deshalb ist es lebensnotwendig für die Kirche insgesamt wie für die Funktions- und Arbeitsweise des Lehramtes, dass vor einer lehramtlichen Aussage zu einer dogmatischen Entscheidung auch die theologische Sachkompetenz in Anspruch genommen wird, worauf auch das 25. Kapitel von „Lumen Gentium“ hinweist. Die Theologie als Wissenschaft an den Universitäten gehört ausdrücklich dazu. Insofern ist diese Arbeit notwendig. Aber man kann nicht sagen, dass es ein Lehramt der Theologen parallel zu dem Lehramt der Bischöfe gibt. Der akademische Grad des Doktors, der von einer Fakultät verliehen wird, bedeutet nur die Anerkennung einer wissenschaftlichen Leistung, während ein Bischof mit und ohne Doktortitel, durch die Weihe vom Heiligen Geist sakramental eingesetzt wird, um die Kirche Gottes mit dem Wort und den Sakramenten zum Heil zu führen. Der Glaube kommt vom Hören des Wortes Gottes und nicht aus unserer persönlichen Spekulation oder der akademischen Reputation der Professoren, die die akademische Lehr- und Forschungsfähigkeit der nachfolgenden Generation beurteilen. Die heilige Theologie ist keine Philosophie, sondern bringt die Vernunft des Glaubens zum Ausdruck, den wir durch das Wort Gottes empfangen und angenommen haben.

Ist die Multiperspektivität, wie wir sie in der Theologie haben, also Reichtum oder doch eher Bedrohung für die Lehre? Der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck hat jüngst sehr deutlich gesagt, dass die Sehnsucht nach Eindeutigkeit verfehlt sei.

Müller: Die Einheit des Glaubens und der Kirche ergibt sich nicht aus der Sehnsucht nach Übersichtlichkeit. Dann wäre die Einheit eine Funktion unseres Wollens. Natürlich ist die Gesellschaft vielstimmig; und es gibt ja auch nicht nur zwei oder drei große Denkschulen, die das ganze Feld beherrschen. Es gibt eine Vielfalt der philosophischen Ansätze. Und auch die Einzelwissenschaften haben sich ausdifferenziert, so dass die Gesamtheit des Wissens und der große Zusammenhang von keinem noch so großen Universalgenie mehr umfasst werden kann. Schon Karl Rahner hat gesagt, dass jemand, der sich sein Leben lang nur mit Mathematik oder Weltraumforschung auseinandersetzt, sein ganzes Denken entsprechend fokussiert aber auch verengt. Dann ist kaum mehr ein Austausch möglich. Auch jeder Theologe kann nicht alles machen. Ein Fundamentaltheologe beschäftigt sich vielleicht mehr mit Sprachphilosophie, der andere mit dem Verhältnis zur Naturwissenschaft, wieder ein anderer mit der Geschichtswissenschaft, um die Glaubensgrundlegung zu aktualisieren. Aber dafür gibt es Fachtagungen und interdisziplinäre Veranstaltungen. Insofern hat auch die Theologie die Aufgabe, die einzelnen Fachrichtungen und Spezialisierungen in den größeren Zusammenhang zu stellen und die Vertiefung der Einsichten im Dialog zu ermöglichen. Aber dann gibt es auch gewisse theologische Richtungen, die wie andere Disziplinen der Gefahr erliegen, sich bei der Beschäftigung mit einem bestimmten Thema zu isolieren.

Ernstfall ist immer der Konflikt: Mitte April haben sich betroffene Theologinnen und Theologen aus allen Teilen der Welt in einem Brief die Nihil-Obstat- und die Lehrbeanstandungsverfahren durch die Glaubenskongregation kritisiert. Das Vorgehen sei nicht transparent genug, die Gutachter seien nicht kompetent und es gebe keine Gewaltenteilung. Müssen die Verfahren verbessert werden?

Müller: Es ist nicht überzeugend, wenn sich Betroffene zu Richtern in eigener Sache erklären. Und ganz offen gesagt: Dieser Brief war als Provokation geplant und wirkt im Ton seines aggressiven Selbstmitleides sehr anachronistisch. Man drückt sich in Allgemeinplätzen aus und bedient alte Stereotypen vom ach so bösen Heiligen Offizium, das, von inkompetenten Theologen beraten, nicht einmal eine Verteidigung der freien Denker zulässt. Das macht Eindruck nur dann, wenn man die grundlegende Neuausrichtung der Kongregation durch Paul VI. im Jahr 1965 einfach ignoriert. Unsere Aufgabe ist es nicht, Theologen zu disziplinieren oder Bischöfen das Leben schwer zu machen, sondern die katholische Glaubenslehre in der ganzen Welt zu fördern, aber auch zu schützen. In den relativ wenigen echten Konfliktfällen geschieht dies durch einen Dialog mit Respekt und Geduld. Es wäre nur fair, beim Thema zu bleiben und nicht kirchenfeindliche Medien für die Erzeugung von irrationaler Empörung zu mobilisieren. Im Falle von wirklichen Straftaten gegen den Glauben – Apostasie, Häresie und Schisma, Missbrauch der Sakramente – handelt die Kardinalskongregation als oberstes Apostolisches Tribunal. Wir haben eine Prozessordnung, die uns vom Papst vorgegeben ist, und an die halten wir uns auch – wie im Übrigen auch beim Umgang mit den delicta graviora einschließlich des sexuellen Missbrauchs von Heranwachsenden durch Kleriker. Statistisch gesehen laufen 98,5 Prozent der Nihil-Obstat-Verfahren ohne Schwierigkeiten ab. Minimal ist die Zahl der Fälle, in denen die Lehrerlaubnis nicht erteilt werden kann. Der Eindruck in der Öffentlichkeit ist umgekehrt proportional zur Wirklichkeit. Wir haben um die 30 Konsultoren, die vom Papst berufen werden. Wer ihnen die wissenschaftliche Kompetenz generell absprechen will, macht sich nur lächerlich. Wir können auch viele andere Professoren anschreiben, um auch weitere wissenschaftliche Gutachten erstellen zu lassen. Jeder hat auch die Möglichkeit, Stellung zu beziehen oder sich zu korrigieren. Aber das setzt natürlich voraus, dass man die Existenz eines Lehramtes anerkennt und es nicht als Machtinstanz nur einer einzigen theologischen Schule denunziert.

Der Sekretär der Kommission „Ecclesia Dei“ spricht davon, dass die Pius-Brüder ohne Bedingung wieder zur Kirche gehören könnten. Hat sich durch den jetzigen Papst etwas in der Betrachtungsweise verändert?

Müller: Wenn man voll und ganz katholisch sein will, muss man den Papst und auch das Zweite Vatikanische Konzil anerkennen als das, was es war, nämlich ein im Heiligen Geist versammeltes allgemeines Konzil, die Zusammenkunft aller katholischen Bischöfe mit und unter dem Papst, dem Haupt des Bischofskollegiums. Natürlich sind die Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen noch einmal von unterschiedlichem Gewicht und Wertigkeit. Wir haben zwei dogmatische Konstitutionen und andere wichtige Texte, die etwa das Naturrecht der Religionsfreiheit auf unsere heutigen Gegebenheiten applizieren. Aber es handelt sich hier um Aussagen des katholischen Lehramts. Die Religionsfreiheit als grundlegendes Menschenrecht und die Freiheit zur wahren Religion als Bezug auf die übernatürliche Offenbarung in Jesus Christus sind von jedem Katholiken ohne Vorbehalt anzuerkennen. Man muss nicht von jeder Predigt eines Bischofs oder des Papstes fasziniert sein. Da gibt es auch unterschiedliche Qualitäten. Aber das Lehramt als solches, das eine Erklärung des Glaubens gibt, ist anzunehmen, und zwar als Element des geoffenbarten Glaubens selbst. Dem muss ich mit einem religiösen Gehorsam und einer inneren Zustimmung folgen. Ich kann nicht das eine annehmen und das andere ablehnen. Die Auferstehung Christi ist auch nicht im formellen Sinn ein Dogma, ex cathedra hat das nie ein Papst gesagt. Aber es gehört zentral in das Glaubensbekenntnis, es ist die Grundlage. Zentrale Aussagen, auch wenn sie nicht ex cathedra verkündet wurden, sind für uns Katholiken trotzdem wesentlich. Deshalb kann man das Zweite Vatikanum nicht als Konzil eines nur pastoralen Geredes abtun, nur weil es keine Dogmen im technischen Sinne des Wortes definiert hat. Papst Franziskus unterscheidet sich in seinem Verhältnis zur Piusbruderschaft von Benedikt XVI. keineswegs. Er sieht diese und ähnliche Gruppierungen als Katholiken, aber noch auf dem Weg zur vollen katholischen Einheit. Deshalb ist die Anerkennung des Zweiten Vatikanischen Konzils keine unangemessen hohe Hürde, sondern das adäquate Heilsmittel, um in die volle Gemeinschaft mit dem Papst und den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm einzutreten.

Auch hier erweist sich das Zweite Vatikanum als eine Weiterentwicklung der Tradition?

Müller: Das Zweite Vatikanische Konzil hat in gewisser Weise eine neue Methode für das Lehramt ermöglicht. Das Konzil hat viele Beschlüsse neu durchdacht und begründet. Dann kann man nicht einfach kommen und sagen, dass das nicht gültig sei, weil das nicht alles wortwörtlich schon in früheren Dokumenten des Lehramtes formuliert sei. Die Bemühung um die Ökumene beispielsweise ergibt sich aus der Natur der Offenbarung und dem Wesen der Kirche. Deswegen muss man nicht nur inhaltlich mit dem katholischen Glauben übereinstimmen, wenn man Katholik sein will, sondern die Grundhermeneutik oder die Interpretationsschlüssel des katholischen Glaubens anerkennen, oder mit der Offenbarungskonstitution „Dei Verbum“, Nummer 10, des Zweiten Vatikanischen Konzil gesagt: dass die Heilige Überlieferung, die Heilige Schrift und das Lehramt der Kirche gemäß dem weisen Ratschluss Gottes so miteinander verknüpft und einander zugesellt sind, dass keines ohne die anderen besteht und dass alle zusammen, jedes auf seine Art, durch das Tun des einen Heiligen Geistes wirksam dem Heil der Seelen dienen.

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