BuchbesprechungKarl Lehmann: Toleranz. Die Selbstbestimmung des Andersdenkenden bejahen

Der Toleranz-Diskurs ist vielschichtig. Neben einem vielstimmigen Lob der Toleranz begegnet seit jeher ein nicht minder polyphones Unbehagen. Die herablassende Attitüde, Andersdenkende nur zu dulden, ist ebenso anstößig wie die moralische Indifferenz und intellektuelle Schwäche. Dennoch ist klar, dass in den heutigen pluralistischen Gesellschaften Toleranz eingeübt werden muss, um das Wuchern von Fundamentalismen einzudämmen. Für Toleranz im Sinne einer Anerkennung des anderen wirbt Karl Lehmann in seinem neuen Buch „Toleranz und Religionsfreiheit“, das aus Vorträgen der Heinrich-Heine-Professur an der Universität Düsseldorf in den Jahren 2012/13 hervorgegangen ist. Es ist bekannt, dass noch im 19. Jahrhundert die Päpste Gregor XVI. und Pius IX. die Religionsfreiheit scharf verurteilt haben. Erst das Zweite Vatikanische Konzil hat die Wende vom Recht der Wahrheit zum Recht der Person vollzogen. Seitdem ist in der katholischen Kirche die Religions- und Gewissensfreiheit als Prinzip anerkannt. Lehmann beschönigt nicht, dass dieser Fortschritt gegen Widerstände errungen werden musste. Lehmann konturiert in der Spur Johann Wolfgang von Goethes den Begriff der Toleranz durch Rekurs auf das Prinzip der Anerkennung. Der andere sei als Person auch dann, wenn er anderes denkt oder glaubt, anzuerkennen.

Dieses Votum schließt einige Implikationen ein: Wer im Sinne der reziproken Anerkennung Toleranz übe, wisse um seine Endlichkeit und maße sich keinen Gottes-Standpunkt mehr an. Der Freiheitsraum der anderen erfordere ein gutes Maß an Selbstbegrenzung. Nur wo die Dezentrierung des Eigenen eingeübt werde, könne eine Dialogkultur mit dem Fremden wachsen. Dabei dürfe die eigene Wahrheitsüberzeugung nicht eingeklammert werden. Sie sei die Basis für die interkulturelle und interreligiöse Verständigung. Die Selbstbestimmung des Andersdenkenden zu bejahen, heiße nicht, alles zu tolerieren. Wo die Freiheit und Würde von Personen verletzt werde, ende die Toleranz. Lehmann versucht in seinem Votum für aktive Toleranz die Pluralitätsfähigkeit des christlichen Glaubens unter Beweis zu stellen. Die Wahrheit des Glaubens wird immer dann pervertiert, wenn die Freiheit der anderen missachtet wird.

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

Die Herder Korrespondenz im Abo

Die Herder Korrespondenz berichtet über aktuelle Themen aus Kirche, Theologie und Religion sowie ihrem jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld. 

Zum Kennenlernen: 2 Ausgaben gratis

Jetzt testen
Karl Lehmann

Toleranz und Religionsfreiheit. Geschichte und Gegenwart in Europa

Verlag Herder, Freiburg 2015. 144 S. 19,99 € (D)