Die Rückkehr eines alten ThemasDemokratie oder Ochlokratie?

Wie können die besten Kräfte einer Gesellschaft den Kurs des Staatsschiffes bestimmen und die verderblichen ferngehalten werden – unter Bedingungen der Freiheit?

Rechtsextremisten treffen auf Gegendemonstranten
Wie schlau ist die Masse? Unser Autor Andreas Püttmann über die Grenzen der Demokratie.© KNA-Bild

Wir haben in Deutschland in jüngster Zeit viel über den Euro und die Schuldenkrise, den Islamismus und die Flüchtlinge gestritten. Inzwischen müssen wir uns auch grundsätzliche Gedanken über die Demokratie machen. Die meisten Deutschen kennen nur diese Staatsform aus eigenem Erleben. Darüber könnten sie vergessen, dass die rechtsstaatlich beschränkte, gewaltenteilig ausbalancierte Volksherrschaft unter dem Grundgesetz nicht das Ende der deutschen Geschichte sein muss. Eine Verfassung – so das berühmte Diktum von Ernst-Wolfgang Böckenförde – lebt „von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann“: kulturelle, geistige, ethische und womöglich auch religiöse, unbeschadet der weltanschaulichen Neutralität des Staates.

Die Grundrechte sind nicht nur Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe, soziale Teilhaberechte und Ausdruck einer „objektiven Wertordnung“; sie sind auch als Bürgerkompetenzen zur Pflege des Gemeinwohls zu verstehen. Eine res publica braucht Bürgerloyalität, Bürgeraktivität und Bürgertugenden. Als Benjamin Franklin nach dem Verfassungskonvent von Philadelphia von einer älteren Dame gefragt wurde: „Haben wir nun eine Demokratie?“, antwortete er: „Wir haben sie, wenn sie sie halten können“. Wie halten wir sie heute?

In der Demokratie ist das Schicksal des Staates den Vielen überantwortet und nicht wenigen (Aristokraten, Oligarchen) oder einem Autokraten. Derartige Allein- und Cliquenherrschaft können wir nicht nur in der Geschichte, sondern auch in der Gegenwart in Augenschein nehmen: in unserer näheren Umgebung am Ostrand Europas, hinterm Bosporus, im Nahen Osten sowie in großen Teilen Nordafrikas. Hatte der „Arabische Frühling“ eine Andeutung gemacht, die Zukunft könne immer mehr den Demokratien gehören, so ist seit einigen Jahren eine gegenteilige Bewegung zu beobachten, nicht nur in muslimischen Ländern, auch in christlichen. Zuletzt begann eine nationalkatholische Regierung in Polen, den liberalen Rechtsstaat zu schleifen; gestützt auf ein Mandat von nur 18 Prozent der Wahlberechtigten macht sie sich den Staat zur Beute. Das Verfassungsgericht wohnt ziemlich hilflos seiner Entmachtung bei, die EU tut sich wie schon bei Ungarn schwer, freiheitlich-rechtsstaatliche Standards in einem Mitgliedsstaat zu verteidigen. Und im Kreml sind die Strategen einer Geheimdienstdiktatur mit imperialistischen Gelüsten am Ruder, die ihr autoritäres Modell gern exportieren und die Europäische Union zerschlagen würden. Dazu unterstützen sie rechtsradikale Parteien in Europa wie einst die Sowjetunion linksradikale.

Politische Bildung ist gefragt

Manchmal, gerade bei der Affinität zu Wladimir Putins Russland, ziehen die im politischen Spektrum scheinbar maximal voneinander entfernten Randparteien sogar an einem Strang. Dass der einst altkonservative, nun neurechte Alexander Gauland von der AfD in Sandra Maischbergers Talkrunde am 9. März 2016 nach einer Viertelstunde erklärte: „Frau Wagenknecht hat völlig Recht mit allem was sie gesagt hat“, kommt nicht von ungefähr. Die „Querfront“ von ganz Linken und ganz Rechten gegen liberale Demokraten und ihr „westliches“ Ordnungsmodell spielte schon in der späten Weimarer Republik und in der NSDAP eine Rolle – und ist heute etwa in Jürgen Elsässers „Compact-Magazin“, aber auch bei Pegida und in Teilen der AfD, die ja auch der Linken viele Wähler abwarb, virulent wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik.

Man übertreibt wohl nicht mit der Feststellung: Jahrzehntelang wurde die „wehrhafte Demokratie“ beschworen, jetzt ist der Ernstfall da. Im Windschatten der umstrittenen Flüchtlingspolitik und der Islamkritik segelt ein Schiff mit viel brisanterer Fracht in den Hafen der parlamentarischen Demokratie ein. Es transportiert Antiliberalismus, Parteien- und Politikerverachtung, Ressentiment gegen ethnische, religiöse und sexuelle Minderheiten, Wohlstandsegoismus, Chauvinismus, geschichtspolitischen Revisionismus, völkischen Nationalismus und Rassismus. Die Besatzung rekrutiert sich nicht aus den Besten des Landes. Verhetzte, im Grunde unpolitische Spießbürger, werden von halbgebildeten Demagogen – unter den Blinden ist der Einäugige König – agitiert, die sich wiederum inspirieren lassen durch eine kleine Intelligentsia von Ideologen der Neuen Rechten.

Symptomatisch für die Bürgerqualität des AfD-Anhangs ist das krasse quantitative Missverhältnis zwischen Wählern und Mitgliedern. In Sachsen-Anhalt ist die Bereitschaft zur Mitarbeit in der favorisierten Partei so gering, dass beinahe ein Viertel der Parteitagsteilnehmer in den Landtag einzog. In den Landtagen, wo sie sitzt, fällt die AfD nicht durch Fleiß und konstruktive Lösungsvorschläge auf. Bezeichnend sind auch die ständig gebrüllten Hass-Sprechchöre des AfD-Anhangs gegen einzelne demokratische Politiker, die Drohbriefe gegen Andersdenkende, die handgreiflichen Attacken auf missliebige Journalisten bei AfD- oder Pegida-Demonstrationen oder die Jauche, die sich von Rechtsaußen in die Kommentarspalten von Internetmedien ergießt. Angesichts des Furors der Wutbürger lässt sich durchaus an einen Übergang von Demokratie zu Ochlokratie – Pöbelherrschaft – denken.

Statt sich davon beunruhigen zu lassen, ergehen sich manche naive Demokraten in betulicher Volkspädagogik und loben den bisher politikabstinenten deutschen „Ohne-Michel“ für seine verstärkte Wahlbeteiligung. Dass der Management-Kalauer: „Gefährlich ist es, wenn die Dummen fleißig werden“ auch für die res publica gelten könnte und es wahrgenommene „Musterdemokratien“ mit geringer Wahlbeteiligung gibt, kommt ihnen nicht in den Sinn. Massenmobilisierung ist eher ein Kennzeichen totalitärer Bewegungen und Systeme. Auch wenn es politisch fürchterlich unkorrekt klingt: In der Demokratie kommt es darauf an, dass die Richtigen im Staat fleißig werden und andere sich damit begnügen, ihren Fähigkeiten und Neigungen entsprechend im beruflichen und privaten Alltag tätig zu sein. Ohne die richtige Elitenbildung im Sinne der Konvergenz von Funktions- und Werteliten drohen demokratische Systeme zu kippen. Gerade uns Deutschen müsste das klar sein.

Die christliche Imago-Dei-Lehre von der gleichen Würde und Freiheit aller Menschen wird durch diese Überlegungen nicht negiert. Die den anthropologischen Optimismus dämpfende Erbsündenlehre besagt, dass die „Ebenbilder Gottes“ trotzdem moralisch fehlbar und irrtumsanfällig sind, behauptet aber nicht, dass sie dies in gleichem Maß sind. „Wir leben alle unter dem gleichen Himmel, aber wir haben nicht alle den gleichen Horizont“, stellte der gläubige Katholik Konrad Adenauer fest. Es gibt kluge und weniger kluge, fleißige und faule, fanatische und gemäßigte, zur Hysterie neigende und besonnene, egoistische und altruistische, gute und weniger gute, ja sogar regelrecht böse Menschen. Hinzu kommen unerwartete Kombinationen, zum Beispiel: wissenschaftlich klug und politisch naiv, unverständig und selbstbewusst. „Dummheit und Stolz wachsen auf gleichem Holz“, weiß der Volksmund.

Trotzdem tun wir aus gutem Grund an der Wahlurne so, als sei die politische Urteilskraft gleich verteilt – in der Hoffnung, dass die Artikulation der legitimen Interessen eines jeden schon dazu führen werde, dass ein Land nicht von den Extremen her, sondern aus einer vernünftigen Mitte der Gesellschaft heraus regiert wird. Wo die Balance sich gegenseitig korrigierender, bändigender Kräfte verloren geht, kann leicht ein Sog in eine Richtung entstehen, meistens nach unten. Derzeit nach rechts unten.

Um dies zu vermeiden, sind neben den geeigneten staatsrechtlichen Strukturen – die das Grundgesetz enthält – vor allem das Bildungssystem und die Medien gefordert. Der spanische Kulturphilosoph José Ortega y Gasset definierte den Staat als den „Status, die Statik, die Gleichgewichtslage der Meinungen“. Die Vervielfältigung der Fernsehkanäle mit der Programmerweiterung ins-besondere im Unterhaltungssektor, die Innovation des Internets und darauf aufbauend der sozialen Netzwerke haben die Bedingungen der Massenkommunikation erheblich verändert. Insbesondere zentrifugale, die Öffentlichkeit fragmentierende Effekte sind offenkundig.

Kognitive Dissonanzen fordern zur Überprüfung und Verfeinerung eigener Ideen heraus und schützen vor geistiger Selbstgenügsamkeit. Je leichter sie in den sogenannten „Filterblasen“ des Netzes vermieden werden können, desto mehr drohen Realitätsverlust und Intoleranz – deshalb ja auch die Blüte von Verschwörungstheorien und anonymem Internetmobbing. So darf man sich heute durchaus fragen: Überlebt die Demokratie das Internet? Oder wird die radikale Demokratisierung der Öffentlichkeit – vorbei an den professionellen Standards verpflichteten Journalisten als „Schleusenwärtern“ – eher zu einem Absacken des Niveaus führen, das auch den Staat schließlich nach unten zieht? Dass Internetnutzer in Deutschland anders als in anderen Ländern nicht überdurchschnittlich gebildet sind, kommt erschwerend hinzu. Die Antwort kann nicht Abschaffung des Internets heißen, wohl aber seine Regulierung im Sinne zivilisierter Kommunikations-Mindeststandards und vor allem: Stärkung der Mediennutzungskompetenz und der politischen Bildung inklusive der Zeitgeschichte, speziell der von 1919 bis 1933.

Dass die Bildung in unserem Land formal – als Zunahme von Abiturienten und Hochschulabsolventen – gestiegen ist, stellt keine Versicherung gegen politische Abwege dar, schon gar nicht bei der sogenannten „technischen Intelligenz“. José Ortega y Gasset brachte es in seinem elitesoziologischen Essay „Der Aufstand der Massen“ 1929 schonungslos auf den Punkt: „Die Experimentalwissenschaften haben sich zum guten Teil dank der Arbeit erstaunlich mittelmäßiger, ja weniger als mittelmäßiger Köpfe entwickelt. Das bedeutet, dass die moderne Wissenschaft, Wurzel und Sinnbild der gegenwärtigen Kultur, dem geistig Minderbemittelten Zutritt gewährt und ihm erfolgreich zu arbeiten gestattet. (…) Der Spezialist ist in seinem winzigen Weltwinkel vortrefflich zu Hause; aber er hat keine Ahnung von dem Rest.(…) Wir werden ihn einen gelehrten Ignoranten nennen müssen, und das ist eine überaus ernste Angelegenheit; denn es besagt, dass er sich in allen Fragen, von denen er nichts versteht, mit der ganzen Anmaßung eines Mannes aufführen wird, der in seinem Spezialgebiet eine Autorität ist.“

Solche unangemessen selbstbewussten Menschen schwingen sich dann schon mal leichtfüßig zum besseren Kanzler oder zu Erfindern eines effizienteren politischen Systems auf, zumal wenn der Beifall für ihre einfachen Lösungen laut und anhaltend ist. Nochmals Ortega y Gasset: „Damals war die Masse überzeugt, dass schließlich und endlich trotz all ihrer Fehler und Mängel die Politiker etwas mehr von den öffentlichen Fragen verstünden als sie. Jetzt dagegen glaubt sie, es sei ihr gutes Recht, ihre Stammtischweisheiten durchzudrücken“. Ohne die angemessene Demut nicht nur der Regierenden, sondern auch der Regierten ist auf Dauer kein Staat zu machen.

„Ökologie des Staates“

Mit diesem Hinweis auf eine anmaßende Attitüde dürfte auch klar sein, dass „die Einteilung der Gesellschaft in Masse und Elite keine Einteilung nach sozialen, sondern nach menschlichen Kategorien“ ist; es gibt „in jeder sozialen Klasse eine echte Masse und eine echte Elite“, nämlich „Menschen von hervorragender seelischer Zucht“, so Ortega y Gasset. Charakter- und Herzensbildung sind nicht nur ein privates, sondern auch ein eminent politisches Ziel. Für sie stand im Abendland von je her die christliche Lehre und Erziehung. Sie sensibilisierte für die „Menschenmajestät“ (Jan Ross) und für menschliche Abgründe, für Freiheit und Bindung, Anstrengung und Gelassenheit, Normenstrenge und Barmherzigkeit, Weltverantwortung und Weltdistanz, staatsbürgerlichen Gehorsam und Widerspruchsgeist gemäß der Apostelgeschichte (5,29): „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“.

Die christliche Sozialethik fördere, so Gerhard Schmidtchen 1973 in „Protestanten und Katholiken. Soziologische Analyse konfessioneller Kultur“, einen „Typus der distanzierten Beteiligung“, der für den Bestand der demokratischen Ordnung eine wichtige Aufgabe erfüllt: „In den neueren Anschauungen über das, was in der Demokratie wünschenswert sei, ist dem Staatsbürger, der dem politischen Geschehen mit distanzierter Aufmerksamkeit folgt, eine besondere Rolle zugedacht. Er soll die Veränderung ermöglichen, er soll bürgerkriegsähnliche Spaltungen der Nation verhindern, und er hält im Ganzen das System für die Zukunft offen. Dieser Staatsbürger ist nicht der Mann der ideologischen Verhärtung“. Genau dieser Typus ist heute vonnöten, wo sich rund um AfD und Pegida der „Nukleus einer Bürgerkriegspartei“ (Volker Zastrow) herausbildet.

Die Gefahr der Gleichgültigkeit

Durch die von Ortega y Gasset befürchtete „Hyperdemokratie“, in der eine zugleich selbstbewusste und manipulierbare Masse „umweglos regiert“, gehen differenzierende Sachlichkeit und Freiheit verloren, weil der Stimmungsfuror von unten auf ängstlichen Opportunismus oben trifft. Demokratie, die nicht in Pöbelherrschaft abgleiten soll, braucht ein quasi aristokratisches Element, nicht nur im staatlichen Sinne – heute durch unabhängige, starke Verfassungsrichter, sondern auch in der gesellschaftlichen Sphäre. Wenn der spanische Kulturphilosoph Recht damit hat, „dass die menschliche Gesellschaft, ob sie will oder nicht, durch ihr Wesen selbst aristokratisch ist, und das so unentrinnbar, dass sie genau so sehr Gesellschaft ist, wie sie aristokratisch ist, und aufhört, es zu sein, in dem Maße, wie sie diesen Charakter verliert“, dann sollten wir uns dringend Gedanken nicht nur über eine Ökologie der Natur und eine „Ökologie des Menschen“ (Papst Benedikt XVI. 2011 im Reichstag), sondern auch über eine „Ökologie des Staates“ machen, und das heißt gemäß Ortega y Gassets Staatsdefinition vor allem: eine Ökologie der sozialen Kommunikation. Sie gelingt, wo zwar jeder – in den Grenzen des Strafrechts – alles sagen darf, wo aber nicht jeder Anmaßung „besorgter Bürger“ das gleiche öffentliche Forum samt Respektsbekundung durch Minister, Abgeordnete und Chefredakteure geboten wird.

Eine demokratische res publica ist keine Gesprächstherapieveranstaltung für narzisstisch in ihr „Eigenes“ verkrümmte, chronisch beleidigte oder aufgeregte, von Ressentiment strotzende Wutbürger. Pöbel wird auch durch die demokratische Staatsform nicht zur Noblesse erhoben. Aber auch „gut katholischer“ Adel – bis 1937 (!) in Adolf Hitlers Kabinett vertreten – bietet keine Gewähr für höhere Einsicht und edleren Charakter. Man wünschte sich manchmal Politiker, die sich nicht zum Hanswurst mit Verständnis für jedermann machen lassen und dem Volk – insbesondere jenen, die sich notorisch dafür halten – auch kritisch entgegenzutreten bereit sind.

Politiker müssen sich nicht ständig vor angeblich unfehlbaren Wählern verneigen und mit Asche bestreuen. Das Volk hat nicht immer Recht, nicht einmal in der Demokratie. Es muss auch nicht von Politikern als Animateuren bei Laune gehalten werden, damit es ihnen den Gefallen tut, zur Wahlurne zu gehen. Als Wolfgang Schäuble 1997 eine Hundertschaft Schülerzeitungsredakteure traf, lehnte sich einer lässig zurück und fragte: „Was wollen Sie tun, um mich im nächsten Jahr zur Wahl zu kriegen?“ Der Spitzenpolitiker, der sich anderthalb Stunden Zeit für die Jugendlichen nahm, antwortete kühl: „Sie tun mir keinen Gefallen, wenn Sie zur Wahl gehen, sondern sich selbst. Sie regeln Ihre Angelegenheiten“.

Wenn heute sechs Millionen Deutsche einer Partei anhängen, die in – intern geduldeten – Teilen völkisch-nationalistisch bis offen rassistisch ist, die freie Medien und unsere Demokratie mit Diktaturvergleichen diffamiert und Verschwörungstheorien, Widerstandspathos und Gewaltfantasien florieren lässt, dann ist dies ebenso wenig zu beschönigen wie das Personalangebot dieser Partei: Georg Diez nannte es im „Spiegel“ zugespitzt einen „Flohsack an Vorbestraften, mit Haftbefehl Verfolgten, Gescheiterten, Karrieristen, schräg Begabten, Rassisten“.

Wer in den Landtag von Sachsen-Anhalt schaut, in dem die radikalen Populisten vom linken und rechten Rand rund 40 Prozent der Sitze haben, der kann sich durchaus an „Weimarer Verhältnisse“ erinnert fühlen – und die 1923 vom katholischen Moraltheologen Joseph Mausbach formulierte Ermahnung beherzigen: „Das Erste und Elementarste, das wir von uns selbst fordern müssen, ist ein lebendiges Interesse am Staat. (…) Demokratie wird notwendig zum reinen Zerrbild, wenn die tüchtigen, die gewissenhaften Männer und Frauen, sich vom Staatsleben zurückziehen und in private Sorgen einspinnen“.

Die liberalen Demokratien, im Osten und Süden von autoritären Regimen umringt, sind in raue See geraten, und zu viele Demokraten scheinen den Ernst der Lage noch nicht begriffen zu haben. Von den Stimmengewinnen der Rechten beeindruckt, halten sie es nicht für opportun, ihnen kalte Schulter und klare Kante zu zeigen. Doch Kurt Tucholskys Bonmot: „Wer nach allen Seiten offen ist, kann nicht ganz dicht sein“, bedeutet für das Staatsschiff nichts anderes als das Risiko allmählichen Untergangs. Die größte Gefahr für den freien Westen ist weder der Islam noch Putin. Es ist seine Gleichgültigkeit sich selber gegenüber.

Ein zu lange wie selbstverständlich währendes Glück weiß der Mensch irgendwann leider oft nicht mehr zu schätzen – bis hin zu einem schwer erklärlichen, geradezu suizidal anmutenden Überdruss. „Wenn es dem Esel zu gut geht, geht er aufs Eis“, sagt der Volksmund. Hinzu kommt, dass ideologisch „glühende“ Menschen ein Vielfaches an Zeit und Geld für ihren „Glauben“ zu opfern bereit sind, während vernünftiges, gemäßigtes Denken oft eher mit einer gewissen habituellen Lauheit einher geht.

Gefragt ist heute eine „Militanz der Mitte“, die ein moderates Politikangebot (policy) mit machtpolitischer Entschlossenheit und Überzeugungskraft im Meinungskampf (politics) verbindet und in der Systemfrage (polity) die grundgesetzliche Demokratie, die „bescheidenste Staatsform der Weltgeschichte“ (Josef Isensee) gegen die neue Mode des großmäuligen Autoritarismus verteidigt. In Abwandlung eines berühmten Gedichts von Bertolt Brecht könnte es sonst heißen: „Stell Dir vor es ist Demokratie, und nur die Radikalen gehen hin – dann kommt die Unfreiheit auch über Euch! Wer zu Hause bleibt, wenn der Kampf beginnt, und lässt andere kämpfen für seine Sache, der muss sich vorsehen: Denn wer den Kampf nicht geteilt hat, der wird teilen die Niederlage. Nicht einmal Kampf vermeidet, wer den Kampf vermeiden will, denn es wird kämpfen für die Sache des Feindes, wer für seine eigene Sache nicht gekämpft hat.“

Anzeige: Geschichte der Päpste seit 1800. Von Jörg Ernesti

Die Herder Korrespondenz im Abo

Die Herder Korrespondenz berichtet über aktuelle Themen aus Kirche, Theologie und Religion sowie ihrem jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld. 

Zum Kennenlernen: 2 Ausgaben gratis

Jetzt testen