Politik und Religion in der TürkeiUnter Erdogan

In der Theorie ist die Türkische Republik immer noch ein laizistischer Staat. Mit Recep Tayyib Erdogan spitzt sich eine Entwicklung zu, aufgrund derer muslimische Organisationen wieder an Einfluss gewonnen haben. Die zu erwartenden gesellschaftlichen und sozialen Konflikte werden sich demnächst auch und vor allem auf religiöser Ebene zeigen.

Papst und Erdogan: Es drohen religiöse Konflikte
Ende der Harmonie? Die Islam-Politik Erdoğans in der Türkei könnte bald zu religiösen Konflikten führen.© KNA-Bild

Laizismus war eines der Grundprinzipien im republikanischen Staatsverständnis des Schöpfers der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk (1881–1938). Die Trennung von Religion und Staat war so strikt wie in keinem anderen Staat der Region, ja strikter als in manchen west- oder mitteleuropäischen Ländern. Formen traditioneller islamischer Frömmigkeit wurden verfolgt, der Besitz von muslimischen Organisationen verstaatlicht und religiöse Einrichtungen unter staatliche Aufsicht gestellt.

Erst unter der Regierung des Ministerpräsidenten Adnan Menderes (1899–1961) konnten muslimische Organisationen seit 1950 wieder an Boden gewinnen. Seine „Demokratische Partei“, die das türkische Einparteiensystem beendete, war eine konservative Partei, die durch den sunnitischen Islam geprägt wurde. Im Jahr 1960 putschte das türkische Militär, nicht zuletzt wegen der pro-islamischen Tendenzen der Regierung. Diese Abfolge von Wahlerfolgen konservativer Parteien und späterem Eingreifen der Armee wiederholte sich in den folgenden Jahren immer wieder, nicht zuletzt weil das westliche Verteidigungsbündnis in der Zeit des Kalten Kriegs an einer starken türkischen Armee interessiert war. Kontinuierlich verstärkten Einfluss auf das politische und gesellschaftliche Leben gewann der konservativ-sunnitische Islam erst nach dem Ende des Ost-West-Konflikts.

Der religiöse Einfluss auf die Politik der Türkei wuchs nicht zuletzt durch eine Binnenwanderung aus den traditionell geprägten Landesteilen Ostanatoliens in die industriellen und politischen Zentren in der Westtürkei. Im Zuge dieser Wanderungsbewegungen gelangten auch gut ausgebildete, kompetente und hoch motivierte Handwerker und Gewerbetreibende in den Westen des Landes, was eine neue erfolgreiche Mittelstandsschicht hervorbrachte, die für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes große Bedeutung gewann. Diese Menschen brachten eine geradezu calvinistisch zu nennende Arbeitsethik mit, waren erfolgsbewusst und sparsam. Zugleich engagierten sie sich in zahlreichen religiösen und karitativen Organisationen. Dieser Teil der Mittelschicht lehnte das laizistische Prinzip des Staates ab.

Die kemalistischen Eliten in Politik und Militär nahmen jene Entwicklung nicht weiter zur Kenntnis und fanden in der Folge dann keine Mechanismen, auf die neue Situation einzuwirken und sie zu verändern. Die neue konservative Mittelschicht organisierte sich in der Politik mit der Gründung einer Partei, die sich bemühte, auf das politische Leben im ganzen Land Einfluss zu nehmen. Ihr wichtigster Mentor war der in Deutschland ausgebildete Ingenieur Necmettin Erbakan (1926–2011), der als Führer der „Milli-Görüs“-Bewegung zunächst die „Nationale Ordnungspartei“, nach deren Verbot die „Nationale Heilspartei“, nach deren Verbot die „Tugendpartei“ und schließlich die „Glückseligkeitspartei“ gründete, ehe er von einem seiner Parteigenossen, Recep Tayyib Erdoğan (geboren 1954) 2001 mit der „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“ (Adelet ve Kelkinma Partisi, AKP) aus dem Feld geschlagen wurde.

Geschickte liberale Wirtschaftspolitik bei gleichzeitiger kluger Sozialpolitik

Die Ideologie der Partei Erbakans wie dann auch die der Partei Erdoğans stellt eine Mischung aus einem politischen Islam, wie er sich auch bei den ägyptischen Muslimbrüdern findet, und einem deutlichen türkischen Nationalismus mit starken anti-westlichen Momenten dar. Die übernationale Grundhaltung des Islams als religiösem System wird dabei zugunsten eines Nationalismus aufgegeben, der davon ausgeht, dass es die Türken waren, die die durch die Araber degenerierte Religion wieder auf den rechten Weg gebracht hätten. Die Türken waren nach dieser Auffassung die Rettung des Islams.

Die „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“ hat unter der Führung von Recep Tayyib Erdoğan durch eine geschickte liberale Wirtschaftspolitik bei gleichzeitig kluger Sozialpolitik die Kontrolle weiter Bereiche der türkischen Gesellschaft übernehmen können und konnte immer wieder Mehrheiten im türkischen Parlament für sich gewinnen. Seine Partei hat in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens deutliche islamische Akzente gesetzt. So war es bis zur Übernahme der Macht durch diese Partei Frauen in der Türkei verboten, in öffentlichen Institutionen wie Behörden oder Universitäten mit einem Kopftuch zu erscheinen. Unter Erdoğan wurde dieses Verbot aufgehoben. Allerdings haben die Vertreter der Partei auch eine Reihe von als reaktionär zu beschreibenden Vorstellungen über die muslimische Frau in der türkischen Gesellschaft geäußert, die auch von überzeugten Musliminnen abgelehnt wurden. Vor allem aber konnten Organisationen der islamischen Mystik wieder offen tätig werden. Traditionen der osmanischen Zeit lebten auf.

Inzwischen haben die Hinweise auf ein rechtes muslimisches Leben durch Erdoğan und die AKP skurrile Züge angenommen, wenn Frauen aufgefordert werden, mindestens vier Kinder zur Welt zu bringen, um die türkische Nation zu stärken oder bei der Entbindung auf einen Kaiserschnitt zu verzichten, weil dieser nicht den islamischen Traditionen entspreche. Gerade die ständigen Hinweise auf das Verhalten der türkischen Frauen führt inzwischen dazu, dass diese der AKP gegenüber eine größere Distanz erkennen lassen.

Neben dieser traditionalistisch-nationalistischen Form hat sich aber in der Türkischen Republik seit den Fünfzigerjahren vor allem an der Islamisch-Theologischen Fakultät der Universität Ankara auch eine erstaunlich moderne Form des Islams entwickelt, bei der mit den hermeneutischen Methoden eines Hans-Georg Gadamer die autoritativen Quellen der Religion der Muslime betrachtet und interpretiert werden. Wie in vergleichbaren Fällen ist diese Universitätstheologie mit den theologischen Vorstellungen der traditionellen Gläubigen und ihrer Führer nicht in allen Fällen kompatibel. Die relativ offenen Strukturen des Islams und das fehlende Lehramt bringen es jedoch mit sich, dass die vorhandenen Konflikte bisher nicht zu offenen Auseinandersetzungen geführt haben.

Wichtigste offizielle Institution des sunnitischen Islams in der Türkei ist das „Präsidium für religiöse Angelegenheiten“, eine staatliche Einrichtung, die direkt dem türkischen Ministerpräsidenten zugeordnet ist. In der Theorie ist sie auch für andere Religionsgemeinschaften zuständig. In der Praxis organisiert sie jedoch nur das religiöse Leben der Sunniten. Sie hat derzeit ungefähr 100 000 Mitarbeiter und verwaltete 2015 einen Etat von einer Milliarde Euro. Angesichts dieser finanziellen und personellen Möglichkeiten kann sie Lehren und Rituale der türkischen Muslime in der Türkei und im Ausland intensiv prägen. Die Einrichtung finanziert und kontrolliert die Arbeit der Moscheen in der Türkei und teilweise auch die der türkischen Moscheen außerhalb des Landes. Sie approbiert die Imame, schlägt die Inhalte der Freitagspredigten vor, organisiert karitative Aktivitäten und vieles mehr. Das „Präsidium“ ist jedoch eine Institution, die von den politischen Verhältnissen in der Türkei abhängig ist. Während der Zeit eines dominierenden Kemalismus galt auch für diese religiöse Institution die offizielle Doktrin des Laizismus. Seit der Machtübernahme durch Erdoğan folgt sie den ideologischen Positionen des sunnitischen politischen Islams in der Türkei (vgl. Religion unter Verdacht. Wohin entwickelt sich der Islam?, HK Spezial Nr. 2/2015, 21-22).

Längere Zeit waren die von Erdoğan und seiner Partei vertretenen religiösen und gesellschaftlichen Konzepte auch bei der großen Zahl von modern ausgerichteten praktizierenden Muslimen akzeptabel, die den Lehren des Predigers Fethullah Gülen (geboren 1941) anhängen (vgl. HK Spezial Nr. 2/2015, 46-49; HK, Februar 2011, 96-101). Es gibt jedoch einen grundlegenden Unterschied zwischen der Ideologie Erdoğans und der Gülens. Während Erdoğan schlussendlich einen sunnitisch-türkisch geprägten Staat zum Ziel hat, versteht sich Gülen als Laizist, der eine Trennung von Religion und Staat propagiert. Für Gülen ist Religion Privatsache, was aber nicht bedeutet, dass sich Muslime nicht für ihr Land und ihre Gemeinschaft engagieren sollen. Dazu bedarf es eines entsprechenden Wissens, das Gülen durch ein erfolgreiches System von Schulen, Internaten und anderen Bildungseinrichtungen in der Türkei, in der turksprachigen Welt und in der türkischen Diaspora in Europa und Amerika aufgebaut hat. Neben der Bildung betont Gülen vor allem die Bedeutung der Medien und des interkulturellen und interreligiösen Dialogs.

Gülen gelang es, vor allem unter Angehörigen von staatlichen Institutionen und Verwaltungen bis hin zu Polizei und Militär eine gewisse Anhängerschaft zu gewinnen. In einem bis heute noch unübersichtlichen Machtkampf, bei dem Erdoğan und seiner Umgebung unter anderem Korruption vorgeworfen wurde, kam es zur Entlassung oder Versetzung von Anhängern der Gülen-Bewegung durch die Regierung. Gülen, der in den USA lebt, wurden Putschversuche und Landesverrat vorgeworfen. Ihre Bildungseinrichtungen wurden geschlossen, Zeitungen und TV-Sender eingestellt und das Vermögen der Organisation beschlagnahmt. Damit verlor Gülen, der sich betont unpolitisch gibt, seinen Einfluss in der Türkei, stellt aber innerhalb der türkischen Welt immer noch einen wichtigen religionspolitischen Faktor dar.

Die Türkei ist trotz der großen Bedeutung des sunnitischen Islams kein religiös einheitliches Land. Vielmehr lebt hier eine große heterodoxe Glaubensgemeinschaft, die Aleviten, die von der sunnitischen Orthodoxie nicht als islamisch anerkannt wird. Sie ist im 13./14. Jahrhundert entstanden und war der Glauben turkmenischer und kurdischer Volksgruppen. Heute bestehen ihre Anhänger vor allem aus Kurden. Von westlichen Religionswissenschaftlern wird das Alevitentum als ein synchretistischer Glaube aus christlichen, schiitischen und altorientalischen Vorstellungen beschrieben. Wie die Schiiten verehren die Aleviten Ali als eine zentrale Gestalt ihres Glaubens und stellen ihn neben Allah und Muhammad. Ziel des menschlichen Lebens ist es nach alevitischer Auffassung, den Zustand des Insân kâmil (vollkommener Mensch) zu erreichen. Die Aleviten glauben an eine Wahrheit, die allmächtig, unsterblich und allgegenwärtig ist. Diese Macht erlegt dem Menschen Pflichten und Aufgaben auf. Dies geschieht durch die Vermittlung Alis, der auch Moses und Jesus mit ihrer Mission beauftragt hat. Ali ist auch jetzt noch existent und kann seinen Anhängern durch die Vermittlung des Heiligen Geistes erscheinen.

In ihren Ritualen unterscheiden sich die Aleviten von Sunniten wie Schiiten. Sie feiern Gottesdienste, an denen Männer und Frauen gemeinsam teilnehmen. Dabei werden Gebete rezitiert, Lieder gesungen und Predigten gehalten. Die Aleviten kennen ein Sündenbekenntnis und Fasttage im Monat Muharram, dem ersten Monat des islamischen Kalenders, bei denen nur alle drei Tage eine leichte Mahlzeit verzehrt werden darf. Zweck des Fastens ist innere Reinigung und Meditation. Die Stellung der Frau ist in der alevitischen Gesellschaft stärker als unter Sunniten oder Schiiten. Frauen können offiziell die Stellung des Familienoberhaupts einnehmen, wenn sie dazu besser geeignet sind als Männer der Familie.

Grundsätzlich sind Aleviten modernen Entwicklungen gegenüber aufgeschlossener als türkische Sunniten. In den Siebzigerjahren waren vor allem alevitische junge Akademiker und Intellektuelle stark von sozialistischen Ideologien beeinflusst. Inzwischen ist diese Entwicklung rückläufig. Stattdessen gibt es Debatten über die Haltung zum Islam. Teile der Aleviten fühlen sich vor allem seinen mystischen Formen enger verbunden, andere sehen sich als eine eigenständige Glaubensgemeinschaft. Über Jahrhunderte waren die Aleviten schweren Verfolgungen durch die osmanische Obrigkeit ausgesetzt. Sie standen daher dem Laizismus des Kemalismus sehr positiv gegenüber. Mit dem Entstehen eines kurdischen Autonomie- oder Unabhängigkeitsstrebens gerieten die Aleviten als Kurden und als Nicht-Sunniten in eine doppelt schwierige Situation, aus der sie sich teilweise durch die Auswanderung lösen konnten. Nach Schätzungen gehört etwa die Hälfte der Zuwanderer aus der Türkei nach Deutschland der alevitischen Glaubensgemeinschaft an.

Letztlich aber sind 40 Prozent der türkischen Bevölkerung vor allem Muslime, die sich für ihre Religion nicht interessieren, ihren Ritualen nicht folgen und als säkularisiert angesehen werden müssen. Diese Zahl ist stabil und bei der jüngeren Generation eher im Wachsen begriffen. Dazu gehören zahlreiche türkische Akademiker, die in Deutschland und anderen europäischen Staaten aufgewachsen sind und einen wichtigen Faktor für die weitere wirtschaftliche Entwicklung des Landes darstellen. Sie akzeptieren einige der aus dem Islam stammenden Traditionen wie die besondere Bedeutung der Familie, lehnen jedoch die Islamisierung der türkischen Gesellschaft wie sie von der AKP betrieben wird ab. Dabei können sie sich auf die immer noch formal gültigen Prinzipien des Kemalismus stützen.

Ihr politisches Potenzial wurde zum ersten Mal bei den sogenannten Gezi-Park-Protesten vom Mai 2013 deutlich (vgl. HK, Januar 2014, 45-48). Die Protestgruppen und ihre Unterstützer bestanden aus dem säkularen Teil der Bevölkerung, der in den Protesten eine Gelegenheit fand, sich gegen die Islamisierung des öffentlichen Lebens zu wenden. Bisher konnte die herrschende Partei des politischen Islams die säkularen Teile der Bevölkerung und deren Forderungen noch ignorieren, weil der Wirtschaftsaufschwung, den das Land in den vergangenen 10 Jahren erlebt hat, die sozialen und damit auch die religiösen Spannungen überdeckt hat. Seit dem vergangenen Jahr hat sich die wirtschaftliche Entwicklung in der Türkei aber sichtbar verlangsamt. Die wohlhabenden, häufig säkularisierten Schichten in den großen Städten vergrößern ihre Distanz zum Regime Erdoğan und ausländische Investoren üben wachsende Zurückhaltung. Die zu erwartenden gesellschaftlichen Konflikte werden sich demnächst auch und vor allem auf religiöser Ebene zeigen.

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