Theologische Mutmaßungen über Dmitri SchostakowitschGottesnarr und Staatskünstler

Auf den ersten Blick bietet das Schaffen des russischen Komponisten Dmitri Schostakowitsch keinen Ansatzpunkt für theologische Zugänge. Geistliche Musik hat er nicht komponiert. Äußerlich schien er sich mit der sowjetischen Staatsmacht arrangiert zu haben. Trotzdem ist eine theologische Annäherung und religiöse Deutung von Person und Werk möglich. Der vermeintliche Staatskünstler steht in der Tradition russischer „Gottesnarren“.

Dmitri Schostakowitsch - ein Gottesnarr
Dmitri Schostakowitsch – ein verkappter „Gottesnarr“? Der sowjetische Komponist lässt sich auch theologisch lesen.© Timo Klostermeier / pixelio.de

Wer tanzt schon zu Musik von Schostakowitsch?“ Eigentlich auch nicht Goody Eisinger in Jörg Steiners so betiteltem Roman, der dieser Musik zurückgezogen lauscht und sich erzählend eine spiegelbildliche Wirklichkeit erschafft. Und dennoch wird zu ihr getanzt. Für ihn, den sein Bruder töten wird, ist es ein Todestanz. Bildet die Musik hier eine Gegenwelt? Das wäre nun nichts Neues. Neu wäre in diesem Roman aber der klassische Konfliktkontext von Kain und Abel, wenn die Musik dem Brudermörder ganz real entgegentritt und beide, Gewalt und Kunst, aufeinandertreffen.

Ich denke dabei unmittelbar an Josef Stalin und Dmitri Schostakowitsch, den Gewaltmenschen und seinen Musiknarren – eine dialektische Konstellation nicht nur von Kain und Abel, sondern auch von Herr und Knecht. Schostakowitsch-Abel, lebenslänglich traumatisiert von Stalin-Kain, der seines Narren als Propagandisten bedarf, der dem Staat die Apotheose und dem Volk das musikalische Brot zu den visuellen Spielen von Staat und Kino-Apotheose liefern soll. Die offiziellen Werke verweisen auf genau diese Funktion: Feier- und Filmmusik sind geboten, gelegentliche Ausflüge ins „Formalistische“ jenseits des propagandistischen „Realismus“ werden toleriert, das eigentliche (und zu Recht für subversiv gehaltene) Werk jedoch unterdrückt. Stalins in der „Prawda“ publizierte Kritik an „Lady Macbeth von Mzensk“ lässt dieses unerhörte Werk auf Jahrzehnte verstummen, die 4. Sinfonie bleibt für 30 Jahre liegen, vieles überwintert in der Schublade und wartet auf Tauwetter, wenn es nicht, wie die esoterischen Streichquartette, im kleineren Kreis produziert wird. Doch Schostakowitsch wird nicht von den staatlich gelenkten Rezensenten rezipiert, sondern von einem schweigenden Volk, das in seinen Werken Klage und Anklage hört. Mit dem Diktator verbindet ihn obendrein sein Lieblingsautor Anton Tschechow. Eine fatale Dialektik.

Nicht einfach ein Apparatschik

Im Westen wurden zwar die 1. Sinfonie (1925) des kaum zwanzigjährigen Hochschulabsolventen und später die 7. Sinfonie „Leningrad“ (1942) als geradezu musikpolitische Weltereignisse wahrgenommen. Die spätere Ästhetik Theodor Adornos verweigerte sich jedoch der realen Dialektik von Schostakowitschs Musik; den vermeintlichen Staatskünstler, der er auch war, diffamierte er als angeblich belanglosen Nachzügler auf längst verlassenen nachromantischen Wegen. Für Martin Walser galt er als „dieser kommunistische Wagner“ – eine in jeder Hinsicht leerlaufende Pointe, denn kaum einem vormodernen Musiker steht Schostakowitsch ästhetisch und biografisch fremder gegenüber als dem Bayreuther Gralstempler. Der „arme Dimitri“, wie Walser ihn nannte (Das Einhorn, Frankfurt 1966, 57), spielte in Deutschland lange Zeit vor tauben Ohren. Gerd Ruge, der damalige Kenner der sowjetischen Szene, erlebte ihn als gehetzten, gleichwohl kontrollierten Apparatschik, der sich mit der Staatsmacht arrangiert zu haben schien: „Niemand kann sagen, was ihn diese Entscheidung gekostet hat, und niemand kann wissen, was hinter dem zuckenden Gesicht vorgeht“ (Ein Interview mit Schostakowitsch, in: Musik und Szene Nr. 5/1959-60).

Das war gut beobachtet. Immerhin hatten Schostakowitsch und Aram Katschaturjan ja gemeinsam eine neue Sowjethymne schaffen sollen; sie entzogen sich der peinlichen Aufgabe, indem sie nach langem Trinkgelage eine unbrauchbare Trivialität vorlegten und Stalin daraufhin das Projekt aufgeben musste.

Mit Schostakowitsch war auch für den Diktator kein Staat zu machen, denn vor allem die Leningrader Aufführungen seiner sinfonischen Werke hatten die Aura von Protestkundgebungen, bei denen sich das Volk schweigend „erhebt“. Solche politische Musik arbeitet aber nicht im Sinne einer älteren politischen Theologie staatstragend, obwohl sie dieser Aufgabe offiziell zu dienen vorgibt, sondern strikt subversiv.

Spätestens hier müsste ein gewisses theologisches Interesse an Schostakowitsch einsetzen, auch wenn es bei ihm keine theologisch rezipierbaren Gattungen und Gehalte zu geben scheint. Denn Kirchenmusik schrieb Schostakowitsch selbstverständlich nicht, gewisse Anklänge ironisierte er sogar vorsichtig als topisch („wir sind doch Russen!“). Seine Musik liefert der theologischen Deutung auf den ersten Blick keine expliziten Vorlagen: Die 15 Sinfonien und Konzerte verweigern den seit Gustav Mahler gewohnten Weltdeutungsgestus des Schmerzensmannes, die 15 Streichquartette bleiben der Binnenverständigung von Kennern vorbehalten, das Vokalwerk stößt sprachlich auf Rezeptionsgrenzen, die Filmmusiken und die Fülle an Werken verschiedenster Gattungen überfordern das traditionelle Konzertpublikum.

Ein theologischer Zugang zu Schostakowitsch scheint also zunächst keine thematischen und inhaltlichen Anhaltspunkte zu haben. Das polyfunktionale und polyvalente Werk entzieht sich einem eindeutig deutenden Zugriff, aber die im weitesten Sinne negative politische Theologie seiner Musik, die sich subversiv dem offiziellen Staatskünstlertum verweigert, verweist auf den Schlüssel, der eine vorsichtige und offene Interpretation erlauben könnte. Es gibt – so meine These – eine ironisch ausgesprochene Botschaft, deren Als-ob zwar jede einsinnige theologische Inanspruchnahme verbietet, aber ein gewisses Verständnis erlaubt. Aus der Vieldeutigkeit seiner Musik führt die Spur zu einer komplexen Selbstdeutung als „Gottesnarr“ und zu einer religiösen Deutung von Person und Werk.

Das richtige Leben im falschen

Schostakowitsch verbirgt sich in seinem polyfunktionalen und polyvalenten Werk. Von Anfang an steht neben der gelernten akademischen Musik auch schon die improvisierte und auskomponierte Filmmusik: „Odna“ („Einsam“, op. 26/1931) erzählt mit sparsamen Mitteln die Geschichte einer in die Provinz geschickten Sow- jetlehrerin, die ihr Leben aber weniger mithilfe der offiziellen Ideologie als vielmehr eben „einsam“ durch ihre persönliche Tapferkeit besteht. Die heroische „Maxim-Trilogie“, die einen zum Revolutionär mutierenden Bauern vorführt, beginnt die Erzählung seiner Jugend mit einer präg-nanten Ouvertüre (op. 41/1934) – da schlägt ein konformer Militärmarsch durch überraschende Synkopierung in einen eher subversiven Walzer um. Die Passage erinnert an die berühmte Szene aus Volker Schlöndorffs Verfilmung der „Blechtrommel“, in der Oskar Matzerath eine NSDAP-Festwiese aus dem Marschtritt trommelt und zum Walzertanz animiert.

Der Komponist arbeitet experimentell in der russischen Avantgarde. Zwar enthalten die 2. und 3. Sinfonie die unvermeidliche finale Verneigung vor der staatstragenden Ideologie, nutzen aber diese ironische Geste dazu, zuvor mit Klangflächen und Clustern frei zu experimentieren. Die 4. und am meisten elaborierte Sinfonie muss nach den Proben auf höchste Anordnung zurückgezogen werden (1936, erst 1964 uraufgeführt), denn hier wird Mahlers sinfonischer Kosmos mit Ironie, Zitat und Montage aufgebrochen und in einer katastrophischen Klimax zerstört. Schon vor dem „Großen Vaterländischen Krieg“ steht für Schostakowitsch der Welt- und Staatszirkus in Flammen.

Stalin selbst erkennt, wie gefährlich und zugleich nützlich der kaum dreißigjährige Komponist für ihn sein kann. Die zweite, nach der aberwitzigen Gogol-Dramatisierung „Die Nase“ eher gemäßigte Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ verurteilt er in der „Prawda“ als „Chaos statt Musik“, denn hier wird keine Heldin der Arbeit vorgeführt, sondern eine Frau, deren Leid sogar ihre kriminelle Karriere zu rechtfertigen scheint. Die offizielle Welt der geilen Herren, der korrupten Polizei und der brutalen Wachmannschaften vernichtet den liebesbedürftigen Menschen; so steht am Ende des großen Werks der hoffnungslose Chor der Verurteilten, die unterwegs zum Gulag sind. Das klingt nicht nur nach der Klage des Narren über das leidende Volk in Modest Mussorgskis „Boris Godunov“, sondern spielt auch überdeutlich auf die Vorgänge des Uraufführungsjahres 1934 an, in dem die politische Geheimpolizei dem sowjetischen Innenministerium eingegliedert wird und der menschenfressende Überwachungsstaat seine effektive Form findet. Fjodor Dostojewskis „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ dürften nicht nur den damaligen Hörenden präsent gewesen sein.

Wie überlebt ein Künstler eine solche Welt? Denn darum geht es auch, wenn – nach dem Diktum Adornos – „das richtige Leben im falschen“ geführt werden soll. Schostakowitsch gibt sich als unverzichtbarer Staatskünstler, der mit den offiziellen Formeln spielt, aber zugleich seine Camouflage parodiert und damit in Wirklichkeit für die Erniedrigten und Beleidigten spricht. Alles wird zum „Als-ob“, wenn er die eindeutige Aussage weder künstlerisch noch politisch riskieren kann. Diese ästhetisch-politische Ambivalenz komponiert Schostakowitsch in seiner 5. Sinfonie op. 47/1937 aus, die offiziell „das Werden einer sozialistischen Persönlichkeit“ darstellt, inoffiziell aber ihr Scheitern in einer Gewaltgesellschaft.

Das Hauptthema des ersten Satzes verbeißt sich durch Engführung gleichsam in sich selbst: Es geht angeblich um die „sozialistische Persönlichkeit“, die hier in ihrem „Werden“ vorgestellt sein soll, wie der programmatische Titel der Partitur lautet. Aber erst in einem verzerrten alla marcia kehrt es zurück in die Durchführung (Ziffer 1 bzw. 27 der Partitur) und mündet nicht in eine Apotheose, sondern in resignative Verklärung.

Das Finale greift in rasenden Anläufen auf früheres Themenmaterial zurück und scheint in einen Hyper-Triumph zu münden, der an das Themenmaterial des Kopfsatzes anknüpft (dort Ziffer 7). Aber die buchstäblich „erschlagende“ Coda buchstabiert nicht die Vollendung der Persönlichkeit, sondern ihr gewaltsames Ende: eine dröhnende Hinrichtung unter erzwungenem Jubel aus Themenstümpfen, wie sie auch im späten 2. Cellokonzert op. 126/1966 anklingt. Der Gang zur Hinrichtung als Weg nach Golgota? Die Deutung legt sich nahe.

Das Publikum verstand und verharrte in schweigender Ovation, während die staatliche Presse versuchte, den Erfolg wegzureden. Dieses Rezeptionsmuster begleitete Schostakowitsch sein Leben lang. Als er das nationale Kriegspathos der Leningrader Sinfonie (Nr. 7, op. 60/1941) am Ende des Krieges durch eine symbolträchtige „Neunte“ noch überbieten sollte, lieferte er stattdessen eine fünfsätzige Gattungsparodie (op. 70/1945); sie changiert im heroischen Es-Dur zwischen Spott und Verzweiflung, stimmt aber kein kommunistisches Tedeum nach dem „großen vaterländischen Krieg“ an, sondern verhöhnt den Diktator geradezu chaplinesk. Auch im Westen verstand man den Gestus und die Botschaft des eulenspiegelhaften Werkes, wie Leonard Bernsteins kommentiertes Jugendkonzert bewies.

1953 allerdings lieferte Schostakowitsch den finalen Triumph nach. In seiner 10. Sinfonie, die er kurz nach Stalins Tod fertigstellte, vollendet sich tatsächlich das „Werden der Persönlichkeit“: Die in Noten formulierten und themenbildenden Initialen D(mitri) SCH(ostakowitsch) behaupten sich nun endgültig, der Jubelschrei der Coda (mehr Siegesschrei als Jubel) gilt dem Tod des Diktators und dem eigenen Überleben. Das richtige Leben im falschen war gelungen, biografisch, ästhetisch und ethisch.

Parallel, wenn auch etwas zeitversetzt zum Zyklus der 15 Sinfonien, entstanden die 15 Streichquartette. Sie sind intimer und weniger offiziell konzipiert, da sie für die Schublade, für den Freundeskreis und doch zumindest nicht zu repräsentativen Zwecken geschrieben wurden. Ähnliches gilt für die Liedzyklen, während die Chorwerke sich als staatliche Festmusiken geben. Schostakowitsch agiert gezwungenermaßen als Hofmusiker eines absoluten Herrschers; entsprechend groß, disparat und widersprüchlich erscheint sein kaum überschaubares Gesamtwerk.

„Idiot“ und „Narr“

Gustav Mahler, Alban Berg (mit seinen Opern „Wozzeck“ und „Lulu“) und Modest Mussorgski sind die musikalischen Größen, auf die sich Schostakowitsch immer wieder bezieht. Dabei geht es weniger um eine Fin-de-Siècle-Kunst, die unter den Bedingungen der Avantgarde oder des sowjetischen Realismus ohnehin nicht fortgeführt werden könnte, auch nicht um einen spezifischen russischen (und unakademischen) Weg für die Musik, sondern um das Ethos des Komponisten. Unabhängig von der musikalischen Technik ist es der Gestus von Anklage und Klage, der ihm Modelle für seine kompositorischen Lösungen liefert. „Das Lied von der Erde“ erzeugt einen fernen Klang in den beiden späten Vokalsinfonien Nr. 13 „Babi Yar“ (op. 113/1962) und 14. mit ihren Liedern und Tänzen des Todes (op. 135/1969). Seht, so ist unsere Welt, scheint Schostakowitsch zu sagen – die Welt der Judenpogrome, der Erniedrigten und Beleidigten, der Sterbenden und Toten. „Der Tod ist groß“ – mit Rainer Maria Rilke endet die 14., deren letzter kurzer Satz wie ein Uhrwerk abschnurrt und dann endgültig stillsteht. Diese Klage resigniert aber nicht, sondern erzeugt grimmigen Spott und Widerstand. So knüpft Schostakowitsch deutlich an Mussorgskis „Boris“ an, wenn er den Narren das Volk beklagen und den Tyrannen anklagen lässt.

Überhaupt der Narr, aber nicht in der Oper, sondern im Leben: Die staatsmusikalische Schellenkappe trug Schostakowitsch mit List und Würde. Sie erlaubte ihm, sich kompositorisch gegen Stalin, den „Boris“ in seinem wirklichen Leben, zu behaupten und ihn zu überleben. Iwan Sollertinski, der Freund und Uraufführungskommentator bis zu seinem Tode 1944, formulierte treffend, sein Stil sei „echter Dostojewski, nacherzählt von Chaplin“ (Solomon Wolkow [Hg.], Die Memoiren des Dmitri Schostakowitsch, München 2000, 54). Seine verfremdete und verfremdende Musik wird also biografisch und vor allem ethisch wahrgenommen; sie spricht intellektuell und appellativ zu den Hörenden, dient aber nicht als Mittel zu Genuss oder Ekstase (im Unterschied etwa zu Wagner oder Richard Strauss). In ihr spricht – und hier zeichnet sich das erwähnte theologische Interpretament ab – der „Idiot“, der „Gottesnarr“, der „Jurodiwy“ also „um Christi willen“. Solomon Wolkow, der nach Schostakowitschs Tod dessen erzählte „Memoiren“ publizierte, verwies darauf, dass der Komponist nicht nur als „Jurodiwy“ galt, sondern sich auch selbst explizit so verstand. Die soteriologische Figur des Einen, der für alle spricht und für alle stirbt, bestimmt diesen russischen Typus.

Gewiss gehört es zur Camouflage des Narren, das Unkenntliche kenntlich, aber auch genau diese Tat wiederum unkenntlich zu machen. Denn er nimmt nicht Teil am politischen Spiel der Welt-Interpretation und Weltveränderung, weil er es nicht unter den Bedingungen der Macht mitspielen darf, sondern er steht beteiligt und leidend daneben. „Idiotisch“ und „närrisch“ kann er sagen, was ist, denn seine Camouflage schützt ihn ebenso, wie sie ihn verständlich macht.

Kirchliches bleibt für Schostakowitsch allerdings zeittypisch suspekt, wie die Rolle des Popen in „Lady Macbeth“ und die Trickfilmmusik „Das Märchen von Popen und seinem Knecht Balda“ (op. 36/1935) belegen. Geistliche Musik war unter den gegebenen Bedingungen weder zu erwarten noch möglich. So bleibt es bei der Selbstaussage, er sei „nie ein doktrinärer Atheist gewesen“ und „lasse jedem seinen Glauben“ (125). Solche Sätze, die authentisch sein dürften, mögen unter westlichen Bedingungen indifferent und belanglos klingen; im sowjetischen Kontext markieren sie zumindest eine nonkonforme Haltung, allerdings mit der Reserve von Selbstironie und -kritik.

Darum achtete er zwar den Christen Alexander Solschenizyn, lehnte aber dessen Selbststilisierung als „Erleuchteter“ ab (413), vor der ihn auch sein geistlicher Begleiter Alexander Schmemann nicht bewahren konnte. Schostakowitsch blieb seinem Ethos als Gottesnarr treu; „religiöse“ Musik lieferte er nicht, zumal er auch sonst nur ironisch affirmierte und dann gewissermaßen Musik zu einem imaginären Film schrieb (etwa im Finale der Leningrader Sinfonie). Nichts vom finalisierten Pathos Ludwig van Beethovens also, sondern die Verfremdung, die dem in einer solchen Welt Fremden allein möglich ist.

Die dunkle Seite des Mondes

Schostakowitschs Musik verweist über sich hinaus, weil sie keine Apotheose und keine Final(er)lösung betreibt, aber das umkreist, was der Apotheose im theologischen Sinn und vor allem der Erlösung bedarf. Seine ambivalente Musik tarnt sich ironisch; sie verweigert vordergründig Lösungen, indem sie deren Möglichkeit offenhält, damit aber auch nicht für unmöglich und auch unnötig erklärt. Wenn hier von einer Art negativer Theologie mit musikalischen Mitteln gesprochen werden könnte, dann wäre allerdings auch die tradierte positive Theologie vorauszusetzen, auf die sie sich ironisch bezöge und deren Überbietung sie dann zu fordern hätte. „Das Schweigen hier ist Aufschrei ohne Maß“ (Sinfonie Nr. 14, 1. Satz „Babi Yar“, vor Ziffer 23), wie es die Musik mit den Worten des Lyrikers Jewgeni Jewtuschenkos sagt und ausdrücklich dazu auffordert, sich in den Opfern wiederzuerkennen. Doch der Witz des Narren ist seine Waffe gegen die Gewalt (zweiter Satz). „Einst erlebten wir alle mit Schrecken die Triumphe der Lügenbagage“, die Ängste „lehrten schreien, wo Schweigen am Platze“ (vierter Satz, Ziffer 98).

So schließt sich dieser Kreis der Hölle, die die Welt ist, vom Schweigen über Schreien zum Schweigen. Auch ohne Jewtuschenkos Worte spricht die Musik, wie Schostakowitschs letzte Sinfonie (Nr. 15 in A-Dur, op. 141/1972) zeigt. Glöckchen und Xylophon eröffnen die Partitur mit einem zweigestrichenen e, das den tonalen Raum von der Dominante aus markiert, aber sofort durch den ersten thematischen Einsatz der Soloflöte auf Es verlassen (scheinbar nach As-Dur) werden könnte, um sich dann doch wieder nach dem erwarteten a-moll wegzuducken.

Wie eine kinematografische Szenenfolge rast die Puppenladenmusik des Hauptsatzes vorüber, auch wenn sich immer wieder Bläsersignale entgegenstellen und ironisch in einem verfremdeten Rossini-Zitat (aus der Wilhelm-Tell-Ouvertüre) entladen, als wäre eigentlich nichts gewesen. Der langsame Satz folgt als Trauermusik (Solocello!), das scherzoartige Allegretto spielt mit Zwölf-Ton-Folgen, denen die Solovioline das Thema des Hauptsatzes entgegenstellt. Das Finale aber beginnt mit dem berühmten Fragemotiv aus Wagners „Walküre“ („Weißt Du, wie das wird?“) und spielt mit den ersten Noten des Tristan-Motivs, nur um erneut die Hörerwartung zu täuschen (denn der berühmte Akkord folgt nicht!) und eine schlichte Liedmelodie fortzuspinnen.

Auch das ist ein Ablenkungsmanöver, das zum Kern des Schlusssatzes, nämlich einer Chaconne führt (ab Ziffer 125 das Bassthema), insgesamt wiederum ein Zitat, diesmal allerdings nicht thematisch, sondern strukturell: Schostakowitsch verweist in seinem sinfonischen Opus ultimum auf das Finale der 4. Sinfonie von Johannes Brahms, das als Chaconne über ein (vermeintliches) Thema von Johann Sebastian Bach angelegt ist. Was soll das nun „bedeuten“? Genau das eine, dass es eben nicht mehr weitergeht, denn die strenge kontrapunktische Variationenfolge lässt keine finale Apotheose à la Beethoven zu.

Wie Brahms verabschiedet sich der Sinfoniker Schostakowitsch mit den Mitteln musikalischer Reflexion von einer Gattung, deren repräsentative Funktion für den bürgerlichen wie auch staatstragenden Konzertsaal beendet erscheint. Und mit der Epoche schließt auch das Leben ihres Komponisten. Der Satz nimmt am Ende nochmals dessen zitatenreiche Einleitung auf: Die Soloflöte zitiert den Beginn der Sinfonie, grundiert mit dem Chaconne-Thema als Kontrapunkt in den Pauken; das Schlagzeug lässt die Bewegungsenergie mechanisch auslaufen, wobei die Glöckchen vom Beginn der Sinfonie zusammen mit der Celesta (die „Himmlische“!) das letzte Wort haben.

Das Ende markiert nicht das tonal unbestimmte e des Anfangs, sondern nun das in mehreren Lagen geradezu wie ein Lichtfunke aufblitzende cis, das die leeren Quinten der Streicher endgültig als Dur-Akkord definiert. Am Schluss erst, in den beiden letzten Takten, erklingt also das grundlegende A-Dur, das sich nur hier und auch kaum wahrnehmbar entschleiert (morendo, ersterbend, und im piano). Zart betonte Verzweiflung oder doch leise Hoffnung? Tod und Heimkehr des Gottesnarren? Ein offenes Verklingen jedenfalls, das stark anrührt und stärker ist als alle durchlaufenen Verfremdungen.

Schostakowitsch, kommunistischer Staatsmusikant und Gottesnarr, hat über seinen Zaren Stalin triumphiert. Aber womit und wozu? Die Antwort auf diese Frage ist eben das, worauf die „theologische Mutmaßung“ zielt. Denn die dunkle Seite des Mondes lässt das Licht auf der anderen Seite nicht nur erhoffen, sondern setzt es als „gegeben“ voraus. Nur so wird ihre Dunkelheit sichtbar oder besser: hörbar. Also doch „religiöse“ Musik.

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