Was die katholische Soziallehre heute noch zu sagen hätteSolidarische Demokratie?

Die päpstliche Sozialverkündigung könnte – 125 Jahre nach dem Erscheinen von „Rerum novarum“ – am Beginn einer neuen Etappe stehen. Aktuelle klima- und wirtschaftspolitische Fragen drängen zu einem weltweiten solidarischen Konzept.

Papst Franziskus vor dem US-amerikanischen Kongress 2015
Franziskus sprach 2015 als erster Papst vor dem US-amerikanischen Kongress. So wie hier hat er soch häufig in soziale und politische Belange unserer Zeit eingemischt. Mit welchem Konzept?© KNA-Bild

Mit seinen Alarmrufen „Diese Wirtschaft tötet“ und „Die Armen können nicht warten“ hat Papst Franziskus ins Schwarze getroffen. Und seine Umweltenzyklika über „Die Sorge für das gemeinsame Haus“ („Laudato Si“, 2015) lieferte den Bemühungen um eine nachhaltige globale Klimapolitik einen erheblichen Schub. Dabei überrascht die Chuzpe, mit der sich der Papst in aktuelle wirtschafts- und klimapolitische Debatten einmischt und mit klaren (Negativ-)Urteilen aufwartet: etwa zur vermeintlichen Effizienz des Emissionsrechtehandels oder zu den angeblichen trickle down-Effekten ungleich verteilten Reichtums, der irgendwann von selbst auch bei den Ärmsten ankommen müsse.

Papst Franziskus versteckt sich nicht hinter schönen Worten und allgemeinen Sozialprinzipien. Vielmehr geht er – ohne Angst vor Schrammen und Beulen – mitten hinein in aktuelle Kontroversen. Er wartet nicht ab, bis es einen von allen Seiten anerkannten Konsens der wissenschaftlichen Forschung gibt, falls es einen solchen in politisch umstrittenen und mit ökonomischen Interessenlagen verknüpften Fragen überhaupt je geben sollte. Vielleicht ist dies der einzige Weg, wie „päpstliche Sozialverkündigung“ heute noch politische Relevanz entfalten kann.

Franziskus bemüht sich dabei, ähnlich wie sein Vorgänger, kaum um einen Anschluss an die päpstliche Sozialtradition mit ihren von Enzyklika zu Enzyklika, von „Rerum novarum“ (Leo XIII., 1891) bis „Centesimus annus“ (Johannes Paul II., 1991) kontinuierlich fortgeschriebenen Theoriemotiven: Vorrang der Arbeit vor dem Kapital, Lohngerechtigkeit, Mitbestimmung, Individual- und Sozialfunktion des Eigentums, Option für einen jenseits von Marktgläubigkeit und Staatsomnipotenz angesiedelten Wohlfahrtsstaat und vieles mehr. Während Benedikt XVI. mit seinen unbeholfenen Rekursen auf ein wenig verständliches Naturrechtsdenken bei den „Menschen guten Willens“ vor allem auf irritiertes Achselzucken stieß, hat Franziskus ein neues Interesse an den sozialtheoretischen Grundlagen der katholischen Soziallehre entfacht.

Sozialtheorie des Papstes?

Denn heute fragen nicht wenige, was denn eigentlich die „Sozialtheorie des Papstes“ sei und ob sich hier so etwas wie eine eigenständige katholische Gesellschaftslehre identifizieren lasse. Dass Franziskus kein Konservativer und schon gar kein Liberaler, aber auch nicht einfach ein Sozialist ist, liegt jedenfalls auf der Hand. Und auch wenn der Papst aus Argentinien stammt und mit der – nicht zuletzt von deutschen Jesuiten geprägten – katholischen Soziallehre zu fremdeln scheint, dürfte sich – gerade in Deutschland – eine Erinnerung an diese Tradition lohnen, denn auch sie wollte von Anfang an weder konservativ noch liberal noch sozialistisch sein. Eine solche Erinnerung ist – 25 Jahre nach „Centesimus annus“, der letzten großen Sozialenzyklika – auch deshalb wichtig, weil die katholische Soziallehre an den theologischen Ausbildungsstätten des Landes heute nur noch am Rande vorkommt und sozialpolitische Stellungnahmen aus der Deutschen Bischofskonferenz seit langem eher ordoliberal als sozialkatholisch anmuten.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war nämlich gerade in Deutschland ein spezifisch postliberaler Ideenzusammenhang aus Nationalökonomie und Soziologie, aus Sozialphilosophie und theistischer Metaphysik entstanden, der sich – zwischen den übermächtigen Fronten von bürgerlichem Individualismus und proletarischem Sozialismus, von preußischem Protestantismus und nationaler Volksgemeinschaft – langsam, aber sicher als eine veritable eigene Gesellschaftstheorie präsentierte: der katholische Solidarismus. Er nahm unter Anerkennung der industriekapitalistischen Realitäten ein gesellschaftliches Ordnungssystem „jenseits von Markt und Staat“, also jenseits der beiden zentralen Steuerungssysteme der politischen Moderne, in den Blick. Und er war nach vorne gerichtet, denn er verzichtete – anders als weite Teile des damaligen Katholizismus – auf nostalgische Wiederbelebungsversuche vormoderner Lebenswelten und Sozialformen.

Stattdessen waren die katholischen Solidaristen davon überzeugt, dass man unter den Bedingungen industrieller Massengesellschaften eine Sozialphilosophie entwerfen könne und müsse, die über die zeitgenössischen Großtheorien des liberalen Individualismus und des kollektivistischen Sozialismus gleichermaßen hinausweist und es erlaubt, individuelle Freiheit, ökonomische Prosperität und soziale Gerechtigkeit überzeugend zusammenzubringen.

Der Gründervater des katholischen Solidarismus war der rheinische Jesuit Heinrich Pesch (1854-1926). Die Not der Fabrikarbeiter hatte ihn dazu getrieben, sein Amt als Regens des Mainzer Priesterseminars aufzugeben und im Alter von 47 Jahren bei dem großen Berliner Finanzwissenschaftler Adolph Wagner, dem Begründer des „Gesetzes der wachsenden Staatstätigkeit“, in die Schule zu gehen. Zwischen 1905 und 1923 verfasste Pesch ein fünfbändiges, knapp 4000 Druckseiten umfassendes „Lehrbuch der Nationalökonomie“. Darin entfaltete er das gesellschaftstheoretische „System des Solidarismus“, das vor allem von den Jesuiten Gustav Gundlach und Oswald von Nell-Breuning (1890-1991) beerbt wurde und in der 1931 erschienenen Sozialenzyklika „Quadragesimo anno“ (Pius XI.) höchste lehramtliche Wertschätzung erfuhr.

Peschs Solidarismus rückte die „Tag für Tag sich neu schaffende tatsächliche Abhängigkeit der Menschen voneinander“ in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Er machte sich damit – ganz im Sinne der französischen Solidaritätssoziologie von Auguste Comte und Émile Durkheim – den rein sozialwissenschaftlich angelegten Begriff einer „de facto-Solidarität“ zu eigen, die zunächst nichts anderes bezeichnet als die mit zunehmender Arbeitsteilung anwachsenden gesellschaftlichen Verflechtungs- und Interdependenzverhältnisse. Wenn man diese „de facto-Solidaritäten“, die der von neuscholastischer Sozialmetaphysik geprägte Pesch letztlich in der Schöpfungsordnung Gottes und der allgemeinen Menschennatur verankert sah, zum Ausgangspunkt gesellschaftstheoretischer Reflexion erhebt, dann ist ein „System des Solidarismus“, so meinte er jedenfalls, den einseitigen Gesellschaftsmodellen des individualistischen Liberalismus und des kollektivistischen Sozialismus nicht nur moralisch überlegen. Es könne den veränderten wirtschaftlich-sozialen Realitäten des 20. Jahrhunderts in ihrem Wechselspiel aus individuellen Freiheitschancen und kollektiven Abhängigkeitsverhältnissen auch soziologisch besser gerecht werden als seine älteren Theoriekonkurrenten.

Vorbild: Französische Solidaristen

Von Nell-Breuning hat die Grundidee des katholischen Solidarismus später immer wieder auf die Doppelformel der „Gemeinverstrickung“ und der „Gemeinhaftung“ gebracht. Demnach sitzen wir in den komplexen Gegenwartsgesellschaften auf Gedeih und Verderb „alle in einem Boot“. Und statt im Namen individueller Eigenverantwortung in lauter private Schlauchboote umzusteigen, sind wir gut beraten, uns kollektiv um die Organisation dieser Solidaritäten, um die Angelegenheiten des gemeinsamen Bootes, zu kümmern. Dementsprechend beklagte Nell-Breuning mit Nachdruck, dass die Vokabel der Solidarität im politischen Diskurs hartnäckig auf Zusammengehörigkeitsgefühle von sozialen Gruppen enggeführt wird oder gar nur als Synonym für Mitmenschlichkeit und Barmherzigkeit fungiert. „So wurde der Solidarismus missverstanden als eine Gesellschaftsethik, als eine Lehre vom gesellschaftlichen Sollen, während er in Wirklichkeit eine Lehre vom gesellschaftlichen Sein ist“ (1951).

Die katholischen Solidaristen haben zwar nicht gerne eingestanden, aber auch nie verhehlt, dass sie ihren Programmbegriff nicht selbst erfunden, sondern aus Frankreich importiert hatten: vom republikanisch-laizistischen solidarisme der Jahrhundertwende. Diese in Deutschland bis heute wenig bekannte und in Frankreich nur kurzfristig erfolgreiche Reformbewegung kämpfte für öffentliche Gesundheitsvorsorge, kostenlose Schulbildung und eine progressive Einkommensbesteuerung. Sie begründete diese Forderungen aber nicht nur moralisch, sondern auch und vor allem sozialwissenschaftlich: mit der Aussage, dass die gesellschaftlichen Solidaritäten das erste und fundamentale Faktum des sozialen Lebens seien. Eine auf die Bedingungen der Gegenwart zugeschnittene Republik kann sich für die französischen Solidaristen deshalb nicht länger mit den abstrakten Prinzipien von individueller Freiheit und Gleichheit zufriedengeben.

Sie muss vielmehr ansetzen bei den „de facto-Solidaritäten“ moderner Industriegesellschaften mit ihren komplexen Abhängigkeits- und Verflechtungsverhältnissen, die für höchst unterschiedliche und individuell nur wenig zu beeinflussende Verteilungen von sozialen Chancen und Hindernissen sorgen. Denn erst durch die bewusste wirtschafts- und sozialpolitische Gestaltung dieser Solidaritäten im Namen sozialer Gerechtigkeit können aus ihrer Sicht die menschenrechtlichen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit ernsthaft an politischer Statur und Relevanz gewinnen.

Für jeden Einzelnen, ob er nun zu den Profiteuren oder den Benachteiligten der gesellschaftlichen Solidaritäten gehört, ist damit klar, dass die individualistischen, aus dörflich-vorindustriellen Zeiten stammenden Loblieder auf Tüchtigkeit und Fleiß längst hoffnungslos veraltet sind: Man kann nun einmal nur dann „seines eigenen Glückes Schmied“ sein, wenn man auch über eine eigene Schmiede verfügt; und der Ansporn „Morgenstund hat Gold im Mund“ sagt demjenigen nichts, der gerade zur Spätschicht eingeteilt ist. Statt in liberaler Manier auf Freiheit und Eigenverantwortung zu setzen, kommt in den komplexen Gegenwartsgesellschaften vielmehr alles auf eine demokratisch-diskursive Bearbeitung der sozialen „de facto-Solidaritäten“ an. Denn diese müssen politisch gerecht, klug und nachhaltig gestaltet werden; und hier hat jeder gleichberechtigt mitzureden, so dass die Zeit gekommen ist, das liberale Paradigma individueller Eigenverantwortung durch das postliberale Paradigma einer solidarischen Demokratie zu ersetzen.

Wie ihr republikanischer Vorläufer links des Rheins reagierte auch der katholische Solidarismus Westdeutschlands recht passgenau auf die Komplexitätslagen der industriellen Moderne. Diese war seit den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts endgültig aus den Kinderschuhen des nationalökonomischen Liberalismus herausgewachsen und stellte sich auf das Strukturmuster einer nicht über individuelle Marktteilnehmer, sondern über organisierte Kollektivakteure koordinierten Wirtschafts- und Sozialordnung um. So entwickelten sich neue, korporatistische Formen einer verbandlich organisierten Interessenartikulation, die zuvor unbekannte Institutionen politischer Koordination und Kooperation hervorbrachten. Diese setzten erstmals auf kollektive Problemdefinitionen und gemeinsame Verantwortlichkeiten, auf Verhandlung, Ausgleich und Kompromiss zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Lagern, Kräften und Interessen; und sie schufen damit einen spezifisch postliberalen Modus politischer und sozialer Regulierung „jenseits von Markt und Staat“.

In dieser Zeit entstanden nicht nur eine Vielzahl von Verbänden und Kartellen; es entstanden auch erste anerkannte Gewerkschaften, große kommunale Versorgungsbetriebe und eine öffentlich organisierte, aber „staatsferne“ Sozialversicherung auf der Basis von Beitragszahlungen und Selbstverwaltung. Und damit gerieten nicht länger allein der Obrigkeitsstaat, sondern erstmals große, kollektiv organisierte Interessenverbände in den Fokus wirtschafts- und sozialpolitischer Mitverantwortung.

Umstellung der Politikmuster

Die frühe Weimarer Republik erlebte dann die eigentliche Formierungsphase des deutschen Wohlfahrtskorporatismus „jenseits von Markt und Staat“; und sie erwarb sich damit den Ehrentitel der „First Postliberal Nation“ (Werner Abelshauser), auch wenn sie diese Aufbrüche nur partiell durchzuhalten vermochte. Denn nun wurde erstmals systematisch versucht, die später sogenannten „Sozialpartner“ politisch mit ins Boot zu holen und ihnen ein vielschichtiges quasi-staatliches Aufgabenfeld zu überantworten: insbesondere das Recht und die Pflicht zur kooperativen, selbstverantworteten Lohnfindung (Tarifautonomie), aber auch das breite Feld des kollektiven Arbeits- und Sozialrechts (betriebliche Mitbestimmung, paritätische Besetzung von Arbeitsgerichten, duale Berufsausbildung und vieles mehr).

Dies geschah im Wissen darum, dass die ungeliebte Republik, die der Mehrheitssozialdemokratie und dem katholischen Zentrum gleichsam vor die Füße gefallen war, nur dann eine Chance auf politischen Bestand haben wird, wenn sich neben den radikalen politischen Kräften von links und rechts nicht auch noch die großen Interessengruppen von Kapital und Arbeit zu ihren dauerhaften Gegnern aufschwingen können. Mit der Umstellung vom Politikmuster eines obrigkeitlichen Durchregierens zum Leitbild einer korporatistisch-kooperativen „Subsidiarität der Kollektivitäten“ (Nell-Breuning, 1929) begann sich nun ein ganzes Set an „jenseits von Markt und Staat“ angesiedelten wirtschafts- und sozialpolitischen Arrangements zu entwickeln. Und damit wurde es zumindest phasenweise möglich, die konträren Akteure und Interessenlagen der deutschen Wirtschaftsgesellschaft in das fragile Institutionengefüge der „Republik ohne Republikaner“ zu integrieren, bevor dieses Politikarrangement in der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre dann insbesondere von Arbeitgeberseite zunehmend aufgekündigt wurde.

Auch die wirtschafts- und sozialpolitische Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik lässt sich ohne die aus der Weimarer Republik übernommenen und seit den Fünfzigerjahren von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragenen korporatistischen Arrangements zwischen dem Staat und den Sozialpartnern nicht erklären. Und die Tatsache, dass die Bundesrepublik aus der Finanzmarktkrise des Jahres 2008 relativ gut herausgekommen ist, führen heute viele Beobachter wohl nicht zu Unrecht darauf zurück, dass man „in der Stunde der Not“ allen marktliberalen Wirtschaftsprinzipien eine Absage erteilte und den zuvor lange schlechtgeredeten Korporatismus von Staat, Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften wiederentdeckt hatte.

Nicht zuletzt hat der Weimarer Wohlfahrtskorporatismus auch im Bereich der sozialen Dienstleistungen die bis heute bestehenden Strukturen der „dualen“ Wohlfahrtspflege geschaffen, die nicht nur den Staat, sondern auch die großen Kräfte und Gruppierungen der Gesellschaft, vor allem die Kirchen, in die sozialpolitische Verantwortung nimmt. Mit der Gründung der „Liga der Freien Wohlfahrtspflege“ (1924) und ihrer – mit dem Subsidiaritätsprinzip begründeten – planvollen Integration in die vielschichtigen, von staatlichen Verwaltungen allein kaum hinreichend sensibel und adäquat zu bewältigenden Aufgaben der Unterstützung und Begleitung von Menschen in Krankheit, Alter und Not ist auch auf diesem Gebiet ein korporatistisches Strukturmuster von Sozialstaatlichkeit etabliert worden, das auch die Bundesrepublik jahrzehntelang ungebrochen und mit hohem Erfolg fortgeführt hat. Und dieses Strukturmuster braucht bis heute, auch wenn es vielfach schlechtgeredet wurde, im Hinblick auf seine Qualität und Effizienz keinen Vergleich zu scheuen. Nachdem mittlerweile auch auf diesem Feld die liberalen Hoffnungen auf nachhaltige Effizienz- und Qualitätsgewinne durch Marktöffnungsstrategien regelmäßig enttäuscht beziehungsweise allzu oft nur auf Kosten der Arbeitsbedingungen und Einkommensverhältnisse der Beschäftigten realisiert werden, könnte sich im europäischen Recht und in der nationalen Politik wieder die Einsicht durchsetzen, dass korporatistische Arrangements auch auf diesem Feld langfristig bessere Ergebnisse hervorbringen als eine vor allem auf marktwirtschaftliche Steuerung setzende Ökonomisierungsstrategie.

Das deutsche Wirtschafts- und Sozialmodell kennzeichnet sich also seit den Zeiten der Weimarer Republik auf breiten Politikfeldern durch einen robusten subsidiären Korporatismus. Dessen Effizienz und Leistungsfähigkeit gerät heute – nach dem Ende der einst so selbstbewusst aufgetretenen neoliberalen Bewegung – in den Politikwissenschaften und zum Teil auch in den Wirtschaftswissenschaften wieder neu in den Blick. Allerdings gilt dieses Modell zumeist als demokratietheoretisch defizitär und genießt deshalb wenig Sympathie. Hier könnte nun eine Erinnerung an die von Johannes Paul II. in seiner Enzyklika „Centesimus annus“ (1991) so nachdrücklich empfohlene Leitidee einer „Subjektivität der Gesellschaft“ hilfreich sein.

Diesem ambitionierten Programm zufolge erschöpft sich die demokratische Selbstregierung der Gesellschaft nämlich nicht in periodischen Wahlen; vielmehr geraten hier zugleich die in Vereinen und Verbänden, in Zusammenschlüssen, Bewegungen und Initiativen organisierten Staatsbürger mit ihren unterschiedlichen Interessen und Traditionen in den Fokus gesellschafts- und demokratietheoretischer Aufmerksamkeit. Sie bilden nämlich, wie die Enzyklika betont, „spezifische Solidaritätsnetze“ aus, die „das gesellschaftliche Gefüge beleben“ und dadurch verhindern, dass der einzelne „zwischen den beiden Polen Staat und Markt erdrückt“ wird, so als „existiere er nur als Produzent und Konsument von Waren oder als Objekt der staatlichen Verwaltung“.

Eine solche, zu eigener politischer Subjektivität erwachte Gesellschaft würde nicht nur die einzelnen Wahlbürger, sondern auch die zahlreichen intermediären Organisationen „zwischen Markt und Staat“ über ihre Partikularinteressen hinaus in die gesellschaftliche Gemeinwohlverantwortung nehmen und auf breite diskursive Aushandlungs- und Verständigungsprozesse verpflichten, statt die Gesellschaft und ihre Mitglieder einfachhin den Steuerungsmechanismen von Staat und Markt auszuliefern. Sie würde stattdessen versuchen, die Instrumente von Staat und Markt ihrerseits für das Projekt einer demokratischen Selbstregierung im Modus öffentlicher Vernunft, für eine kluge, gerechte und nachhaltige Governance der ständig zunehmenden de facto-Solidaritäten, mit denen sie es nolens volens zu tun hat, reflektiert in Anspruch zu nehmen.

Der mittlerweile seit einem Jahrhundert erprobte deutsche Wohlfahrtskorporatismus könnte also über seine weithin anerkannte Funktionalität und Leistungsfähigkeit hinaus auch eine veritable demokratietheoretische Attraktivität entfalten. Allerdings hat sich für dieses Institutionengefüge, das mit dem ordoliberalen Programm der „Sozialen Marktwirtschaft“ nichts zu tun hat, bis heute kein passender Name, keine charmant und modern klingende Semantik gefunden. Es ist deshalb – gerade im Jubiläumsjahr der päpstlichen Sozialenzykliken – an der Zeit, eine neue Debatte um die Leitidee einer postliberalen solidarischen Demokratie und die Zukunftschancen eines subsidiären Korporatismus zu eröffnen. Denn die de facto-Solidaritäten der komplexen Gegenwartsgesellschaften müssen auch in den Zeiten der Globalisierung den Ausgangspunkt unserer Selbstverständigung über Freiheit und Gleichheit, über Demokratie und Gerechtigkeit bilden. Schließlich sitzen wir nach wie vor und mehr denn je alle im selben globalen Boot. Oder, um es mit Papst Franziskus zu sagen: wir bewohnen alle ein gemeinsames Haus, um das wir uns gemeinschaftlich sorgen müssen und für das wir eine kollektive Verantwortung tragen, ob wir wollen oder nicht. Es reicht jedenfalls nicht, nur die eigene Wohnung in Schuss zu halten.

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