Es gibt neben Papst Franziskus noch einen anderen Franziskus. Er ist nur ein Kaplan der Gemeinde St. Liudger in Münster-Roxel. Das Besondere: Er wird ein Jahr von der kirchenfernen Berliner Journalistin Valerie Schönian begleitet. Im Internet werden die Gespräche, Protokolle und kleinen Reportagen des ungleichen Paars „Valerie und der Priester“ dokumentiert. Die Texte über Valeries Erlebnisse, Gedanken und die Antworten von Kaplan Franziskus von Boeselager gehören zum Unterhaltsamsten und Anregendsten, was derzeit zu Glaube und Kirche in säkularer Welt publiziert wird. Vor allem aber leisten Valerie und der Priester etwas, mit dem sich die ganze Kirche, die Bischöfe, so schwer tun: Botschaft und Lehre zu erklären, zu leben und dem Konflikt mit der „anderen Welt“ (Valerie) auszusetzen.
Die Veröffentlichung des päpstlichen Schreibens „Amoris Laetitia“ liegt wenige Monate zurück. Große Erwartungen waren dem vorausgegangen. Inzwischen ist ein Streit ausgebrochen, wie Papst Franziskus und seine Worte denn nun zu verstehen seien. Die einen sagen so, die anderen anders. Kardinal Reinhard Marx formuliert sehr offen und versöhnlich, „alle, die in der Pastoral tätig sind, werden in diesem Schreiben etwas finden, das sie mitnehmen, bedenken und im Leben realisieren können“. Der Passauer Bischof Stefan Oster veröffentlicht eine pastorale Orientierungshilfe zu „Amoris Laetitia“, um diese aber gleich unter Vorbehalt zu stellen. Er kündigt an, dass die „Bischofskonferenz in der nächsten Zeit sicherlich um gemeinsame Leitlinien ringen“ werde. Muss man also dem Philosophen Robert Spaemann Recht geben, der dem Papst vorwirft, Unklarheit und Zweideutigkeit zu verbreiten? Oder doch dem Münsteraner Kirchenrechtler Klaus Lüdicke, der schlicht erklärt, nach „Amoris Laetitia“ gelte nun päpstlich verbindlich beim Kommunionempfang allein die Gewissensentscheidung des Einzelnen.
Kaplan Franziskus aus Münster-Roxel hat keine Zeit, die Bischofskonferenz zu fragen, geschweige denn den Papst. Und so geht es sicher vielen Geistlichen in Deutschland. Er antwortet Valerie unmittelbar, und die Journalistin stellt es ungefiltert ins Netz. Das ist riskant, erfrischend und alltagsnah. Das Projekt „Valerie und der Priester“ wurde initiiert von der Bischofskonferenz und dem Zentrum für Berufungspastoral in Freiburg. Vielleicht muss sich die Bischofskonferenz an ihrer eigenen Aktion ein Beispiel nehmen, schneller, spontaner und authentischer werden – vielleicht auch riskanter. Damit am Ende nicht wieder nur ein unverständlicher Formelkompromiss steht.
Aber mehr noch: Der Umgang mit „Amoris Laetitia“ ist nur ein Beispiel für ein Problem, das tiefer liegt. Wir haben uns an ein innerkirchliches, inbesondere überdiözesanes Handeln gewöhnt, das sich oft zu sehr vom Alltag entkoppelt hat, sich in Kommissionen und Arbeitsgruppen verliert, mit Papieren und Vorlagen beschäftigt und bisweilen stark um sich selbst kreist. So hatten die Bischöfe ein Hirtenwort zu Ehe und Familie angekündigt. Es ist aber bislang ausgeblieben. Hat es jemand gemerkt, hat es jemand vermisst? Im Pontifikat Franziskus hat Rom noch mal eine ganz andere Aufmerksamkeit und auch sogar Konnotation bekommen. Veränderungsimpulse oder auch theologische beziehungsweise kirchliche „Aufreger“ kommen inzwischen eher aus dem vatikanischen Gästehaus Santa Marta als aus deutschen Diözesen – oder von deutschen Lehrstühlen. Es ist an der Zeit, dass die deutschen Bischöfe und die Bischofskonferenz ihre innerkirchlichen Aufgaben neu definieren und ordnen. Die Strukturen stammen größtenteils nicht nur aus einer anderen, noch nicht so stark säkularisierten Zeit; sie werden auch dem eigenen Diktum steter Veränderungsnotwendigkeit in der Kirche nicht gerecht. Damit ist nicht jede konkrete Arbeit gemeint, aber die Zielrichtung einer Kirche, die heute ganz anders neue Horizonte anstreben muss.
Es ist Papst Franziskus selbst, der den Bischofskonferenzen ins Stammbuch geschrieben hat, ihre Rolle 50 Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil neu zu fassen – und vor allem sich selbst dabei durchaus zu stärken. Haben eigentlich alle Bischöfe dieses Zitat aus „Evangelii Gaudium“ präsent, wenn sie sich im September wieder in Fulda versammeln? Franziskus paraphrasiert zunächst: „Das Zweite Vatikanische Konzil sagte, dass in ähnlicher Weise wie die alten Patriarchatskirchen die Bischofskonferenzen vielfältige und fruchtbare Hilfe leisten [können], um die kollegiale Gesinnung zu konkreter Verwirklichung zu führen“. Dann aber sagt er deutlich, dass dies eine Aufgabe für heute ist. „Es ist noch nicht deutlich genug eine Satzung der Bischofskonferenzen formuliert worden, die sie als Subjekte mit konkreten Kompetenzbereichen versteht, auch einschließlich einer gewissen authentischen Lehrautorität“. Man wünschte sich eine Bischofskonferenz, die diese Aufforderung des Papstes als Energieschub aufnähme, zu neuer Dynamik fände und keinesfalls in Abgrenzung zu Rom, aber mit Selbstbewusstsein einen neuen Weg der (Orts)Kirche(n) in die Zukunft einschlägt. „Eine übertriebene Zentralisierung kompliziert das Leben der Kirche und ihre missionarische Dynamik, anstatt ihr zu helfen“, schreibt der Papst! Die Bischofskonferenz muss deutlicher zeigen als bisher, dass auch sie im Pontifikat Franziskus angekommen ist. Das gilt dann auch aber keinesfalls nur für „Amoris Laetitia“.
Abseits der Öffentlichkeit wird gerade die Finanzausstattung des Verbandes der Deutschen Diözesen (VDD), also der Organisationskonstruktion hinter der Bischofskonferenz, neu geordnet, so ist zu hören. Der Haushalt hat bislang einen Umfang von 128,8 Millionen Euro. In den zurückliegenden zwölf Jahren ist er bereits um über 30 Millionen Euro reduziert worden. Zum Vergleich: Im gleichen Zeitraum sind die Kirchensteuereinnahmen um rund zwei Milliarden Euro gestiegen. Die Bistümer wollen das Geld für sich, die Kirche ist episkopal verfasst, so ist das Selbstverständnis weit über die angestammten Lager hinweg. Die Frage ist nur: Ist dieses Kirchturmdenken gut für die Zukunft der Kirche und des Katholizismus in Deutschland? Die Bistümer sind damit beschäftigt, ihre Strukturen den schrumpfenden Kirchenmitgliedszahlen anzupassen. Meist führt das keineswegs zum Personalabbau in den Ordinariaten. Denn auch Rückzug lässt sich mit Geld weitaus komfortabler bewerkstelligen als ohne. Nur muss die Kirche sich endlich von der Hermeneutik des Schrumpfens und Ab- und Umbaus lösen – und in die Zukunft investieren. Das geht viel besser gemeinsam als getrennt und sortiert nach mittelalterlichen Fürstbistümern und Kleinstterritorien. Wenn jetzt die bestehenden gemeinsamen Aktivitäten auf den Prüfstand kommen, kann das gefährlich sein.
Das deutschsprachige Priesterseminar Germanicum in Rom oder auch die Einrichtungen des Campo Santo Teutonico sind übrigens traditionsreiche Beispiele dafür, dass die deutsche Kirche sehr wohl die römische und weltkirchliche Anbindung sucht. In der Medienpolitik ist die Erkenntnis schon sehr alt, dass die Bistumszeitungen in der bisherigen Form stetig Leser verlieren und selbst das Milieu der Kirchgänger kaum noch durchdringen. Eine gemeinsame bundesweite katholische Zeitung allerdings traut man sich offenbar nicht zu, aus Sorge vor alten Grabenkämpfen und Rechts-Links-Streitereien. Der Auszug von „Christ&Welt“ aus dem Katholischen Medienhaus lässt sich auch nicht als Erfolg kirchlichen Medienengagements umdeuten. Vor allem grassiert der Bazillus der Selbstverzwergung. Es herrscht bisweilen eine gallige Gleichgültigkeit gegenüber der Masse der eigenen Leute. Eine Organisation mit 23 Millionen Mitgliedern erfreut sich zu oft an geringen Abonnentenzahlen und Kleinst-Auflagen bei dem einen oder anderen Mini-Projekt, anstatt endlich die Kraft zu haben, größer und optimistischer zu denken. Dabei muss man nicht das evangelische „Chrismon“ kopieren, sondern kann eigene Formate erfinden. „Katholisch.de“ hat gute Ideen. Man kann allerdings mehr noch von anderen lernen, die eigene Arbeit professionalisieren – und sich von außen Rat holen. Auch das zeigen „Valerie und der Priester“.
Es braucht auch jenseits der Medien und jenseits des Bestehenden neue Ideen für ein kraftvolles und frohes Auftreten der katholischen Kirche in ganz Deutschland. So ticken etwa Krankenhäuser und Sozialeinrichtungen oft zu sehr im Modus der Selbsterhaltung. Wie wäre es mit einem millionenschweren kirchlichen Förderfonds für Palliativstationen gerade an nicht-kirchlichen Krankenhäusern, anstatt nur nach dem Staat zu rufen? Wie steht es um eine Kampagne, die Inhalte des christlichen Glaubens oder den Sinn kirchlicher Feste erklärt? Ausgerechnet „Aldi“ hat so etwas in Ansätzen mit einem Prospekt zu Ostern vorgemacht. Auch Formaten wie der „Woche für das Leben“ fehlt inzwischen die öffentliche Relevanz.
Die Bischofskonferenz hat die zurückliegenden Jahre zumeist im Krisenmodus gearbeitet. Die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals wäre ohne diese starke Bonner „Notfall-Zentrale“ nicht zu bewältigen gewesen. Auch andere mediale Krisen, von den Pius-Brüdern bis zur Limburg-Affäre, wurden vom Sekretariat der Bischofskonferenz sehr gut gemanagt. Doch der Krisenmodus ist für die katholische Kirche nicht genug. Es braucht nun einen Offensiv-Modus, gerade auch wegen der politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen. Zwar haben die Bischöfe und auch die Konferenz als Ganzes auf der politischen Bühne sich nach wie vor – nicht zuletzt in der Flüchtlingskrise – Gehör verschafft und Achtung geerntet. Doch dabei kommt manchmal der Blick auf das Eigene zu kurz. Die Zukunft der Priesterausbildung und die der katholischen Fakultäten gehören dazu. Ein Gesamtkonzept dazu wäre wünschenswert. Dass sich die Bischöfe untereinander in dogmatischen Fragen nicht immer einig sind, darf nicht Hemmschuh der ganzen Kirche bleiben. Das Gleiche gilt für Berlin. Es wäre traurig, wenn die Ideen zu einer stärkeren katholischen Präsenz in der Hauptstadt im bekannten Bermudadreieck von Eitelkeiten, Mediokratie und Provinzialität untergehen. Gut, dass Valerie diese Seiten der Kirche noch nicht so genau kennt, sondern beim Kennenlernen in Roxel im Pfarrhaus mit Franziskus anfängt.