BuchbesprechungKulturgeschichte: Eine Welt im Untergang

Der Einfluss des Barock hielt für mehrere Jahrhunderte an. Wie seine Mentalität bis heute fortwirkt und was mit ihm verlorenging zeichnet Peter Hersche in seiner Studie nach.

Oft wirken soziale und kulturelle Merkmale, die einer bestimmten Epoche zugeschrieben werden, noch lange über deren vermeintlichen Abschluss hinaus. Der Historiker Peter Hersche hat 2006 in seinem großen Werk „Muße und Verschwendung“ die Kennzeichen einer Mentalität herausgearbeitet, die das katholische Europa bis ins 18. Jahrhundert stark prägte. Schon damals äußerte Hersche die Vermutung, dass sich Teile dieser Mentalität und entsprechender Lebensformen noch weit über die Barockzeit hinaus erhalten haben müssen.

Nun hat er in einer meisterhaften Studie dargestellt, wie viel „Barockes“ trotz Aufklärung und Industrialisierung tatsächlich in gewissen Rückzugsgebieten – hier den Schweizer Halbkantonen Appenzell Innerrhoden und Obwalden – bis nach dem Zweiten Weltkrieg überlebte. Im Sinne einer „gerade noch möglichen Spurensicherung“ hat der Historiker eine Reihe von Zeitzeugeninterviews geführt. Entstanden ist ein beeindruckendes Buch, das in anschaulicher Weise das Bild einer Welt im Untergang zeichnet. Hersche dokumentiert die Sozialstrukturen und die Arbeitsorganisation der Bauern, die Rolle des Klerus, die Gestaltung kirchlicher Feste, individuelle und gemeinschaftliche religiöse Praktiken wie Wallfahrten, Prozessionen, Andachten und Segnungen, die Sonntagsgestaltung sowie die Moral in Theorie und Praxis (insbesondere, was die Sexualität betrifft).

Dabei zeigt sich immer wieder der enge Zusammenhang von Religion und landwirtschaftlicher Arbeit, der die Mentalität der bäuerlichen Bevölkerung prägte. Es ist dieser Zusammenhang, der in den Jahrzehnten nach dem Krieg endgültig zerbrach. Das Ende der traditionellen Landwirtschaft – laut Hersche vielleicht der größte Umbruch seit dem neolithischen Zeitalter – ging Hand in Hand mit dem Ende der traditionellen Frömmigkeit. Eine gewisse Wehmut ist dem Autor anzumerken. So beklagt er abschließend einen „Verlust der sinnlichen Erfahrung“ und resümmiert: „200 Jahre nach den Anfängen in der Aufklärung war also die Landwirtschaft, wie die übrige Wirtschaft auch, rational organisiert und der Katholizismus so vernünftig wie der Protestantismus geworden. Aber um welchen Preis?“

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