Dem Buch erfuhr in den wenigen Wochen seit seinem Erscheinen Ende September letzten Jahres eine enorme Resonanz. Das mag auf den ersten Blick erstaunen, legt der habilitierte Volkswirtschaftler Georg Cremer eine, wenn auch für Laien sehr verständlich erklärte, aber eben doch sehr detailreiche, wissenschaftliche Abhandlung zu einem nicht ganz leichten Thema vor: Es geht um die Berechnung von Armut und Armutsrisikoquoten, von Äquivalenz- und Medianeinkommen, aber auch um die Gerechtigkeitsvorstellungen im grundgesetzlich verfassten Sozialstaat. Cremer zeigt, warum zwischen absoluter und relativer Armut dringend differenziert und die regionale Verteilung von Armutsrisiken stärker in den Blick genommen werden muss, warum „Grundsicherungsbezug ein fragwürdiger Armutsindikator" oder warum Hartz IV als „wichtigstes Element der Grundsicherung in Deutschland" deutlich besser als sein Ruf und dennoch aber etwa um eine „einkommensunabhängige Kindergrundsicherung" zu erweitern ist. Ebenso untersucht Cremer aber etwa auch den inneren Zusammenhang zwischen sozialer Lage und gesundheitlichem Zustand („Armut macht krank").
Auf den zweiten Blick kann die breite Aufmerksamkeit für dieses Buch kaum überraschen. Denn mit dieser ebenso nüchternen wie überzeugend argumentierenden Abhandlung legt Cremer, seit 2000 und noch bis Sommer nächsten Jahres Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes, zugleich eine Streitschrift vor: Eindringlich wendet er sich gegen eine in der deutschen Sozialstaatsdebatte häufig zu beobachtende „Rhetorik des Skandals", gegen ihre „folgenlose Empörung". Dabei hat Cremer, der schon mehrfach und auch in der Herder Korrespondenz (u.a. HK, Juli 2015, 345–348) in dieser Sache entschieden das Wort ergriffen hat, ein klares Anliegen: Wo ständig und wider die Datenlage „die wachsende Armut in Deutschland", eine „noch nie so große Armut wie heute" oder eine „sich immer weiter öffnende Schere" beschworen werden und Fortschritte und wichtige Errungenschaften in der Sozialpolitik nicht gesehen oder bewusst übersehen werden, befürchtet er: Solche Skandalisierung und Übertreibung spielten im Letzten denen in die Hände, die den deutschen Sozialstaat ohnehin für unangemessen aufgeblasen halten.