Immer wieder wird im Reformationsjubiläum auf den Zusammenhang von Reformation und Aufklärung verwiesen. So heißt es im offiziellen Positionspapier der deutschen Bundesregierung: „Die Aufklärung und die Menschenrechte wurden – wie auch die Demokratie heutiger Prägung – durch die Reformation entscheidend beeinflusst.“ Auch das Papier „Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation“ der Evangelischen Kirche in Deutschland bezeichnet die Reformation als „Teil der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte“. Historiker wenden dagegen ein, dass sich zumindest die Person des Reformators Martin Luther kaum als Gründungsfigur für die moderne Gesellschaft eignet.
Dass sich aber von der Reformation zur Aufklärung und von dort zur Gegenwart tatsächlich zahlreiche Verbindungslinien ziehen lassen, ist offenkundig. Dazwischen kam es jedoch auch zu starken Gegenströmungen. Man könnte die Geschichte der vergangenen fünfhundert Jahre darum geradezu als Pendelbewegung von „aufklärerischen“ und eher restaurativen Phasen schildern. Ohne die Reformation und dem aus ihr hervorgegangenen Protestantismus wäre diese Pendelbewegung jedenfalls kaum zu verstehen.
Dass wir heute, nach einer langen Phase der Restauration und des Konservativismus bis hin zu faschistischen Ideologien, wiederum in einem Zeitalter der Aufklärung leben, dürfte schwer zu bestreiten sein. Vieles, was wir in der Gegenwart beobachten können, ließe sich dem zuordnen, was wir gemeinhin mit der historischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts samt den daraus erfolgten Revolutionen verbinden. Gleichzeitig aber machen sich neuerdings auch wieder Gegentendenzen bemerkbar, vor allem im Bereich der Kultur. Auch in der Politik ist ein Wiederaufleben von antiaufklärerischen Positionen zu beobachten.
Als Gegenbegriff zur Aufklärung möchte ich Barock vorschlagen. Die Aufklärung hat bekanntlich militant den vorangehenden Barock kritisiert und bekämpft. Die Kunsttheoretiker des Klassizismus haben schon im späten 18. Jahrhundert als erste die bekannten negativen Stereotypen formuliert: Barock ist unnatürlich, bizarr, schwülstig, geschmacklos. Eine vorsichtige Revision seitens der Kunsthistoriker setzte erst rund hundert Jahre später ein; beim sogenannten gebildeten Bürger aber haben sich diese abwertenden Urteile noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein gehalten.
Vor allem aber wurden von der Aufklärung die spezifisch barocken Formen der Frömmigkeit aktiv bekämpft, selbst von Katholiken, wie am besten der österreichische Josephinismus zeigt. „Vernunft“ war fortan der einzige Maßstab auch für die religiöse Praxis. Heiligenverehrung und Reliquienkult, Prozessionen und Wallfahrten, Segnungen und Devotionalien, Ablässe und Stiftmessen, Bruderschaften und Klöster wurden empfindlich eingeschränkt, ja ganz abgeschafft. Die vielen Feiertage wurden überall reduziert und die Kirchen sollten nicht mehr so prunkvoll ausgestattet werden. Alle diese Erscheinungen wurden als Hauptursache der Rückständigkeit, die man den katholischen Ländern zuschrieb, gesehen. Die typischen Äußerungen der Volksreligiosität zeugten von Dummheit, Aberglaube und Ignoranz, denen man durch Aufklärung begegnen müsse. Geistliche, welche jene förderten, gerieten automatisch ins Schussfeld der Aufklärer.
Zwischen dem 15. und dem 21. Jahrhundert lassen sich also sechs Perioden unterscheiden – drei „aufklärerische“ und drei „barocke“.
Das Spätmittelalter als „Protobarock“
Die erste dieser Perioden ist das Spätmittelalter, das man durchaus als „Protobarock“ bezeichnen kann. In der Kunst jedenfalls sahen einige Kunsthistoriker eine Verwandtschaft der Spätgotik mit dem Rokoko, nämlich eine überbordende Dekorationslust mit feinsten Verästelungen, überquellendem Figurenreichtum und viel Farbe. Gegen diese krause Gotik und ihre manchmal krasse Bildersprache wandte sich dann die Renaissance, die wiederum den klassischen Formen der Antike zu folgen versuchte. Wichtiger ist aber hier die Frömmigkeitskultur. Nach der Katastrophe der großen Pest waren die Menschen ängstlich um ihr Seelenheil besorgt und das bestehende Angebot der Kirche dazu wurde nochmals ausgebaut und auch fleißig benutzt. Die Heiligen- und Reliquienverehrung blühte, Wallfahrten nach den damals bekannten Gnadenorten fanden enormen Zulauf, man fragte eifrig nach Ablässen, und reiche Mitbürger suchten durch fromme Stiftungen ihr Seelenheil zu befördern. Die Kirchen wurden mit reich geschmückten Altären ausgestattet und die polyphone Kirchenmusik gepflegt. Alle diese Erscheinungen finden wir dann in etwas anderer Form im Barock wieder. Ebenso allerdings auch den verweltlichten Klerus, der so gar nicht dem entspricht, was man gemäß der christlichen Lehre von ihm hätte erwarten dürfen.
Die Reformation als „Protoaufklärung“
Gegen diese übersteigerte Frömmigkeit und ihre Auswüchse wandte sich dann bekanntermaßen die Reformation, vor dem Hintergrund von Renaissance und Humanismus. Könnte man, analog zum vorher Gesagten, diese Epoche „Protoaufklärung“ nennen?
Beginnen wir, der Chronologie entsprechend, mit der Kunst. Schon vor hundert Jahren hat Heinrich Wölfflin in seinen „Kunsthistorischen Grundbegriffen“ die Unterschiede zwischen Renaissance- und Barockkunst herausgearbeitet. Begonnen hatte die Renaissance mit einer Frontwendung gegen die als unnatürlich empfundene Gotik. Die klassische Antike sollte wieder Vorbild sein, nicht anders war es dann im Klassizismus der Aufklärung. Die Bildinhalte der Malerei blieben zwar vorerst zur Hauptsache christliche, aber immer mehr machten sich weltliche Elemente breit, und mit der Landschaftsmalerei und dem Genre entstand eine vom Heiligen emanzipierte Kunst. Die Malerei wurde verwissenschaftlicht, etwa durch die Erfindung der Perspektive. In der Skulptur hatte man mit den damals aus dem Erdboden gegrabenen Werken der Antike unmittelbar ein Vorbild. Noch stärker scheint ein aufklärerisches Moment im Humanismus wirksam zu sein. Die historische Quellenkritik, das Bemühen um exakte Wiedergabe der klassischen Texte, der Empirismus in der Medizin, die Bestrebungen zur Erforschung ferner Welten, generell das „Wissenwollen“ auf verschiedenen Gebieten, all das weist voraus auf wichtige Anliegen der Aufklärung.
Dass die Reformation den Beginn einer wie immer aufgeklärten Moderne, einen Durchbruch des Fortschritts, den definitiven Abschied vom finsteren Mittelalter bedeutet habe und das Jahr 1517 eine Epochenscheide gewesen sei, wurde im Klima des Kulturkampfes von der deutschen nationalistischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts behauptet. Durch Martin Luthers Bibelübersetzung und Romkritik wurde der Protestantismus außerdem zur spezifisch dem Deutschtum entsprechenden Religion erhoben. Die Katholiken waren demgegenüber reaktionäre und einer fremden Macht hörige Ultramontane. Mit solchen Konstruktionen konnte man eine Verbindungslinie zur Aufklärung ziehen.
Nun gibt es sicherlich einige Parallelen. Das protestantische Schriftprinzip stellt wie die Herrschaft der Vernunft ein Absolutum dar, an dem nur Dumme zweifeln konnten. Historisch Gewachsenes wird von den Neuerern beider Epochen als Last empfunden, die den Fortschritt des Menschengeschlechtes hindert: Das Aufräumen mit der Vergangenheit auf allen Ebenen charakterisiert Reformation und Aufklärung. Der Bildersturm der Reformation erinnert direkt an die Radikalität der Französischen Revolution, wo im Namen der Göttin Vernunft unzählige Sakralbauten geschändet wurden. Auch der neue Tugendkatalog der Aufklärung hat in den Reformatoren seine Vorläufer. Die Person Luthers ist allerdings, wie schon gesagt, als Fortschrittsträger wenig geeignet. Vor allem die katholische Forschung hat dargelegt, dass er in vielem noch tief im Mittelalter steckte. Und einige seiner bekannten Aussprüche verraten alles andere als einen aufgeklärten Menschen.
Eine Verbindung von Reformation und Aufklärung lässt sich jenseits der protestantischen Orthodoxie vor allem an den Folgeerscheinungen jener ziehen; hier weist einiges auf diese voraus. Sebastian Castellio predigte, von der Härte Calvins gegen Michel Servet abgestoßen, als erster die der Aufklärung teure Toleranzidee. Die Partei der sogenannten Politiker suchte diese in Frankreich in den lange dauernden Hugenottenkriegen praktisch umzusetzen, jedoch anfänglich erfolglos. Erst 1698 ermöglichte das Edikt von Nantes ein friedliches Zusammenleben zweier verschiedener Konfessionen in einem Staat. Es war das erste Beispiel neben einigen deutschen Reichsstädten und dem Königreich Polen.
In letzterem fanden auch die Sozinianer, eine radikale Gruppe, welche die Trinität leugnete, zuerst Zuflucht. Später wandten sie sich nach den Niederlanden, dem Sammelbecken aller religiösen Dissidenten. Von ihnen führen unterschwellig Spuren zur radikalen Religionskritik der Frühaufklärung, ja zum Atheismus.
Auf der politischen Ebene propagierten französische Hugenotten mit biblischen Argumenten das Widerstandsrecht gegen einen Tyrannen, womit die göttlich begründete Autorität der Monarchie in Frage gestellt wurde. Das moderne Naturrecht wurde zwar zuerst von spanischen Theologen formuliert, aber die Protestanten nahmen es trotzdem auf und bauten es im 17. Jahrhundert weiter aus. Das Naturrecht bildet eine der wichtigsten Grundlagen der Menschenrechtserklärungen in der amerikanischen und französischen Revolution. In den calvinistischen Kirchenordnungen gibt es Elemente der modernen Demokratie; es ist kein Zufall, dass der Calvinismus vor allem in den Republiken eine Heimat fand.
Katholischer Barock
Auf die Renaissance folgt die eigentliche Epoche des Barock, die sich zeitlich auf die Jahre zwischen 1600 und 1750/1770 festlegen lässt, mit regionalen Verschiebungen, insbesondere in Deutschland wegen des Dreißigjährigen Krieges. Diese Feststellung bezieht sich auf das katholische Europa, im protestantischen muss man einen kürzeren Zeitraum annehmen, insbesondere weil hier die Aufklärung früher einsetzte.
Schon Wilhelm Hausenstein, der vor fast hundert Jahren einen ersten Überblick veröffentlichte, meinte, „der Barock ist ein höchst katholisches Phänomen“. In der Tat konnte sich der Barock im Vollsinn nur in den katholischen Ländern entfalten, ohne Frankreich, das einen Sonderfall darstellt. Der Germanist Richard Alewyn formulierte es so: „Das Barock findet in seinem Zeitalter seine Grenzen: Gesellschaftlich an der bürgerlichen Welt, konfessionell im protestantischen Raum, kulturell an der Sphäre von Literatur und Philosophie. Jenseits dieser Grenze entsteht allenfalls ein halbherziges Randbarock.“
In diesem katholischen Raum wurde der Barock als Ausfluss der Gegenreformation gesehen. Fast zeitgleich mit Hausenstein erschien ein Buch von Werner Weisbach „Der Barock als Kunst der Gegenreformation“. Das kann man für den architektonisch strengen Frühbarock so sehen. Über die Kunstgeschichte hinaus und hinsichtlich der Religionsgeschichte, ist aber der Barock eher eine auflösende Reaktion auf die Strenge des Konzils von Trient, welches man ja in Parallele zur Reformation setzen kann. Schaut man genauer hin, so erkennt man, dass die Beschlüsse des Konzils, wenn überhaupt, nur zögerlich und unvollkommen durchgesetzt wurden; das meiste blieb gute Absicht, und einige Maßnahmen wurden wieder aufgeweicht. In Rom, am Sitz des Papsttums, sprach schon bald nach 1600 kaum jemand mehr groß von Reform, ähnliches gilt für die meisten deutschen Fürstbischöfe.
Die barocke Religiosität greift stark auf das Mittelalter zurück. Die damals beliebten Frömmigkeitsformen kehren etwas verändert wieder. Die Klöster und Bruderschaften blühen wieder auf, stärker als je zuvor. Man legt Wert auf Traditionen und sucht nicht das Neue, grenzt sich vielmehr derart gegen die Protestanten ab. Diese barocke Frömmigkeitskultur erfasst das ganze Volk und hatte auf allen Gebieten eine enorme Breitenwirkung. Dies ist ein grundlegender Unterschied zur in erster Linie von einer bürgerlichen Elite getragenen Renaissance, dem Humanismus und der Reformation einerseits, der Aufklärung andererseits. Sozialgeschichtlich ist demgegenüber der Barock eine von Adel, Geistlichkeit und Bauerntum getragene Kultur. Die ständischen Unterschiede werden gegenüber der vorangehenden und der nachfolgenden Epoche wiederum betont. Man könnte von einer sozialen Verkrustung sprechen, in Südeuropa kommt es zu eigentlichen Refeudalisierungsprozessen.
Protestantische Aufklärung
Die Aufklärung, unsere vierte Periode, ist historisch, wie schon angedeutet, ein Produkt des Protestantismus, ihre Anfänge liegen noch im späten 17. Jahrhundert und sind in den nördlichen Niederlanden und in England zu suchen. Dazu tritt Frankreich, wobei man hier die Rolle der Hugenotten, wie etwa Pierre Bayle zeigt, nicht vergessen sollte. Im katholischen Raum werden die aufklärerischen Ideen erst ab etwa 1740 aufgenommen und vorerst eher tropfenweise. Am ehesten finden wir ihren Einfluss bei Staatsmännern, etwa beim führenden österreichischen Politiker Wenzel Anton Graf Kaunitz-Rietberg, dem Berater Maria Theresias, den man auch als Vater des Josephinismus bezeichnet hat.
Ihm kam es darauf an, nach den katastrophalen Niederlagen gegen Preußen das Habsburgerreich durch Reformen auf allen Ebenen wieder auf die Beine zu bringen und den offenkundigen Rückstand aufzuholen. Aber auch einige höhere Kleriker fanden den Barockkatholizismus nicht mehr tragbar und forderten eine mehr vernunftgeleitete Frömmigkeit. Man nahm die Reformideen des Konzils von Trient wieder auf und öffnete sich gegenüber protestantischen Theologen und Philosophen. Nachdem der Prozess der Aufklärung aber prinzipiell unbegrenzt ist, stellte sich die Frage, wie weit man gehen sollte, ohne die Grundsubstanz des Christentums preiszugeben. Deshalb entfachte sich bald eine Diskussion über die wahre und die falsche, nämlich eine zu weit gehende Aufklärung. Sie führt uns direkt ins 19. Jahrhundert hinein.
Dass das 19. Jahrhundert eine im wesentlichen antiaufklärerische Epoche war, zeigt allein schon die politische Geschichte. Nach 1815 wird allen revolutionären Gedanken der Kampf angesagt; Reaktion, Restauration, das „System Metternich“ prägen die Zeit. Die Monarchen sitzen wieder fest im Sattel, allenfalls durch eine Konstitution oder ein Parlament etwas im Zaum gehalten. Der immer noch bedeutende Adel dient ihnen zu. Diese Konstellation dauert kaum verändert bis zum Ersten Weltkrieg, denn die verschiedenen revolutionären Bewegungen seit 1830 haben keinen bleibenden Erfolg. Im Prinzip geht es auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so weiter: Die Russische Revolution mündet unter Stalin in eine Terrorherrschaft, die mit Aufklärung nichts mehr zu tun hat. Ähnlich ist es in Deutschland: Die Weimarer Republik, die viele Freiheiten bringt, ist ein bloßes Zwischenspiel, das durch den Nationalsozialismus brutal beendet wird. Faschistische und autoritäre Systeme etablieren sich in den drei südeuropäischen Ländern und in Österreich, aber auch – was häufig vergessen wird – in praktisch ganz Osteuropa. Die Demokratie scheint im Rückzug begriffen.
Restauration und Liberalismus
Ein wesentlicher Unterschied zu früheren Epochen besteht allerdings. Zwar hat die Anti-Aufklärung nach 1815 für fast anderthalb Jahrhunderte das Sagen, nicht nur in der Politik. Aber Gegenströmungen sind immer auch präsent und können sich jetzt wenigstens etwas offener äußern, trotz Zensur und anderen Behinderungen. Neben den herrschenden Konservativen gibt es überall liberale Parteien, die in einigen Ländern sogar zeitweise an die Macht gelangen, dauerhaft allerdings nur in der Schweiz, die von daher eine große Ausnahme in der europäischen Staatenwelt darstellt.
Die Liberalen können am ehesten als Erben der Aufklärung angesprochen werden; ihr politisches Programm ist allerdings elitär und hat mit Demokratie wenig zu tun. In der Wissenschaft, besonders den Naturwissenschaften, finden radikale Ideen – man denke an Darwin – einen Platz, der Atheismus wird salonfähig. Dasselbe gilt für die Literatur. Auch der Wirtschaftsliberalismus findet selbst bei Metternich und seinen Gesinnungsgenossen keine Schranken. Es erfolgt eine noch nie da gewesene wirtschaftliche Entwicklung, geprägt durch industrielle Fertigung, die Verwendung neuer Energiequellen (Kohle, Strom), einen rasanten technischen Fortschritt, neue Verkehrs- und Kommunikationsmittel sowie eine die ganze Welt umgreifende Kolonial- und Handelspolitik. Dabei sind durchaus auch aufklärerische Ideen vorhanden. Die Wissenschaft wird für einige zum Religionsersatz, die Idee des unendlichen Fortschritts löst christliche Vorstellungen der Endzeit ab. Davon beseelt empfinden es Europäer und Nordamerikaner geradezu als Pflicht, den sogenannten primitiven Gesellschaften die Segnungen der modernen Zivilisation nahezubringen.
Der im Geiste der Aufklärung gebildete Klerus starb um 1840 aus. Während nun im Protestantismus die theologische Auseinandersetzung mit der Aufklärung weiter ging, nahm der Katholizismus einen gnadenlosen Kampf mit dieser und dem fortschrittlichen Denken überhaupt auf. Diese Frontstellung prägte die Kirche bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil weitgehend. Fortschrittliche, vom Liberalismus ausgehende religiöse Ideen wie der Deutschkatholizismus, der Altkatholizismus oder Modernismus wurden aufs Schärfste verurteilt, und ihre Anhänger verfielen der Exkommunikation. Nur ganz am Rande gab es einige Veränderungen, etwa in der Liturgie.
Interessant ist nun, dass damals die Frömmigkeitsformen des Barock leicht verändert erneut auftauchen. Wallfahrten sind wieder „in“, neue Kulte breiten sich aus (Herz Jesu und Mariä), liturgischer Pomp wird zelebriert, Wundererscheinungen wie Lourdes oder Fátima ziehen die Gläubigen in Bann, und wiederum gibt es bei jeder Gelegenheit Ablässe zu gewinnen. Der Papstkult erreicht ein Ausmaß wie noch nie, alte Klöster und neue Kongregationen haben enormen Zulauf, und das Vereinswesen wird auf strikt kirchlicher Basis neu organisiert. Dazu entfaltet sich in den entsprechenden Parteien der politische Katholizismus. Für das alles lässt sich treffend der Begriff „Neobarock“ verwenden, umso mehr als es, parallel zur Erforschung des Barockstils, gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch neobarocke Kirchen- wie Profanbauten gibt.
Seit den späten Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts leben wir in der westlichen Welt wiederum in einem Zeitalter der Aufklärung – der zweiten oder eben dritten. Dafür gibt es eine ganze Reihe von Argumenten.
Da ist zunächst die durch die Kriegs- und Nachkriegsereignisse bedingte Amerikanisierung des alten Europas. Sie sollte nicht nur die Deutschen safe for democracy machen, sondern wurde von vielen als eine Möglichkeit einer freieren Lebensgestaltung gesehen. Eine demokratische Staatsform gilt seitdem als selbstverständlicher Standard. In den ersten Jahren nach Kriegsende noch virulente konservative Ideen konnten sich nicht durchsetzen. Zur Konsequenz des Gesagten gehört der Sturz der autoritären Regime in Spanien und Portugal sowie später der kommunistischen in Russland und Osteuropa. Außerdem erfolgt eine neuerliche Hochbewertung der Menschenrechte und der sie schützenden Organisationen wie der UNO und internationaler Gerichtshöfe. Für viele Zeitgenossen nehmen heute anstelle eines religiösen Glaubens die Menschenrechte die Rolle einer universalen und letztverbindlichen moralischen Instanz wahr.
Des Weiteren hält ein durch Wissenschaft und Technik beflügelter Fortschrittsglaube die Welt jetzt weitgehend durch den Menschen gestaltbar und damit auch verbesserungsfähig. Der Glaube an das Eingreifen überirdischer Mächte schwindet, wie etwa die Landwirtschaft zeigt, wo neue Techniken anstelle der früher allgemein üblichen Gebetsappelle zu Gott treten. Neue oder nun allgemein werdende technische Fortschritte, insbesondere das Auto und das Fernsehen, zuletzt das Internet, eröffnen auch bisher eher abgeschlossenen Gesellschaften andere Welten und relativieren die bislang geltenden alten Werte.
Die materielle Verbesserung der Lebensverhältnisse, die Inanspruchnahme von Komfort und Luxus wird als logische Folge der genannten verändernden Faktoren betrachtet und mehr und mehr als Selbstverständlichkeit angesehen: Die Aufklärung in den Köpfen hat ihre Parallele in den Körpern. Die Macht der wichtigsten historischen Gegner der Aufklärung, nämlich der großen Religionen, schwindet; Religionslosigkeit ist möglich und nimmt rasant zu. Dafür etablieren sich allerlei Ersatzreligionen, als da sind Sport, Körperkult, Ernährungslehren, Esoterik und vieles mehr. Soweit die alten Religionen weiter wirken, sehen sie sich zu einschneidenden Anpassungen gezwungen, wie vor allem die katholische Kirche seit dem Zweiten Vatikanum mitsamt seiner Nachgeschichte zeigt. Der Missbrauch der Gemeinschaft zu politischen Zwecken in den totalitären Systemen hat als Gegenreaktion zu einem extremen Individualismus geführt; Selbstverwirklichung ist für viele Zeitgenossen nun oberster Wert. Soziale Bewegungen wie etwa diejenige von 1968 haben als Katalysatoren gewirkt. Die sexuelle Revolution, die Frauenemanzipation und neue Erziehungsmodelle wären ohne sie viel zögerlicher gekommen. Zu guter Letzt, um noch an den Barock zu erinnern: Nach 1960 gibt es keine breite und vertiefte wissenschaftliche Auseinandersetzung mehr mit ihm. Das Interesse des breiten Publikums am Barock ist derzeit gleich null, einzige Ausnahme ist die boomende Barockmusik.
Wo aber stehen wir aktuell? Die geschilderten Beobachtungen zu unserem aufgeklärten Zeitalter gelten vollumfänglich nur für die westliche Welt, in der übrigen nur teilweise. Würden wir die Analyse auf die islamischen Länder, auf China, Afrika und vielleicht Lateinamerika ausweiten, sähe das Bild ganz anders aus.
Es gibt heutzutage zweifellos auch antiaufklärerische Gegenströmungen. Sie sind am offensichtlichsten im politischen Bereich, ohne diese überzubewerten. Donald Trump ist nicht durch eine Mehrheit der Wähler, sondern wegen eines absurden Wahlsystems Präsident der Vereinigten Staaten geworden. Was man aber verschiedenenorts beobachten kann, ist ein Trend zu autoritären politischen Strukturen, der mit Ungarn und Polen auch Europa erreicht hat. Überall gibt es ferner eine Kompetenzverschiebung von den Parlamenten zu den Regierungen und der Verwaltung. Das hat vielleicht nicht mehr viel mit dem Barock zu tun. Strömungen, die noch an den Barock – jetzt im weitesten Sinn – gemahnen, sind wohl eher im Kulturellen zu suchen. Sie erfassen vorerst nur Randgruppen; ob sie mehrheitsfähig sind und uns ein „vierter Barock“ bevorsteht, wird erst die Zukunft weisen.
Die Geschichte wiederholt sich zwar nicht, aber gewisse Abläufe ähneln sich doch. Das führt den Historiker bisweilen in die Versuchung, sich wie ein Zukunftsprophet aufzuführen. Doch wie schon der große Leopold von Ranke sagte, ist dies nicht sein Amt.
Ich habe als neues Phänomen im 19. Jahrhundert erwähnt, dass Aufklärungen und Gegenaufklärungen nicht mehr ziemlich strikt in zeitlicher Folge ablaufen, sondern parallel zu einander gehen, mit gewissen Schwerpunktsetzungen. Diese Tendenz sehe ich im 20. Jahrhundert noch stärker. „Anything goes“, wie Paul Feyerabend sagte, alles ist heute möglich; eine einheitliche Weltanschauung und ein verbindlicher Wertekanon existieren weniger denn je.
Ob die Aufklärung weiter voranschreitet oder eine Wende nach der anderen Seite hin bevorsteht, wissen wir nicht. Aus dieser Situation resultieren Konflikte – und dass diese immer schärfer werden, bis zur gewaltsamen Austragung, ist meine Hauptsorge. Wir müssen mit der Rivalität der Denkströmungen leben lernen und die offensichtlichen Widersprüche aushalten. Sorgen wir also dafür, dass die Dialogfähigkeit der verschiedenen Lager erhalten bleibt und nicht alle Brücken einbrechen.