GastkommentarMehr Konflikt, bitte!

Gesellschaft, Politik und evangelische Kirche sollten abweichende Meinungen stärker einbeziehen. Das stärkt die Demokratie.

Demokratische Abstimmung
© Rudolf Ortner/ pixelio.de

Eine Krise der Demokratie, gar der liberalen Ordnung des Westens – das war ein Grundthema der vergangenen Jahre. Nur Deutschland konnte sich als Insel der Glückseligen fühlen: angesichts von Donald Trump, Marine Le Pen und Brexit bei unseren unmittelbaren westlichen Nachbarn und illiberalen Versuchungen in Polen und Ungarn, erst recht in der Türkei. Von einer neuen Sammlung der Ewiggestrigen abgesehen, so lautet das deutsche Selbstverständnis dieser Tage, stehen wir fest zusammen in der Mitte, verteidigen Demokratie und offene Gesellschaft. Und die Kirchen sind Leuchttürme der Zivilgesellschaft und Bündnispartner der Regierung, wie sich in der Flüchtlingskrise gezeigt hat.

Wie schön! Doch es mehren sich die Anzeichen, dass genau das ein Problem sein könnte. Ende August hat die Kammer für Öffentliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ein Impulspapier „zu aktuellen Herausforderungen der Demokratie in Deutschland“ vorgestellt, unter dem Titel „Konsens und Konflikt: Politik braucht Auseinandersetzung“. Das klingt nach: Wir haben den Konsens übertrieben, wir müssen abweichende Meinungen mehr würdigen und Konflikte offener austragen. Aber man fragt sich auch: Wer hätte je bestritten, dass Politik in der Demokratie auf dem Pluralismus von Lebenssituationen und Überzeugungen beruht und von der Auseinandersetzung lebt, ja sich in ihr konstituiert? Bekanntlich hat die EKD ihren Weg zur vorbehaltlosen Anerkennung der Demokratie nach 1945 mühsam finden müssen. Die Denkschrift von 1985 mag als Abschluss dieses Prozesses gelten – bloß ist Demokratie niemals abgeschlossen.

Worum also geht es jetzt, nicht nur in der EKD? Mehrere Fäden sind zu trennen. Erstens gibt es den Vorwurf, die Kirche setze sich nicht genug mit populistischen, ja mit rechtsextremen Neigungen in den eigenen Gemeinden auseinander. Dieser Vorwurf ist so janusköpfig wie unsere Debatte über den Umgang mit der AfD im Ganzen. Die einen meinen damit, die Kirche müsse solchen Neigungen entschiedener entgegentreten. Die anderen zielen gerade auf das Gegenteil und wünschen sich, dass abweichende Meinungen gegenüber dem liberalen Mainstream mehr als bisher akzeptiert werden: Auch als Christ kann man für eine „Obergrenze“ sein oder die „Ehe für alle“ ablehnen.

Der zweite Faden ist eine eigentümliche Zuspitzung im Blick auf das Verhältnis von Kirchen und Politik in Deutschland. Gewiss, es hat schon länger gegrummelt, innerkirchlich ebenso wie im politischen Feuilleton: Die Kirchen überreizten ihr politisches Mandat; sie seien mit ihrem Urteil flink zur Stelle, das die moralische Gewissheit linker oder linksliberaler Selbstverständlichkeit verströmt. Es irritiert, wenn im selben Atemzug, wie kürzlich im Magazin „Cicero“, die Regierungsfrömmigkeit der Kirchenoberen beklagt wird. Was stört diese Kritiker: der Moralstachel Margot Käßmanns zu Afghanistan oder die liberal-konstruktive Haltung des Münchner Duetts Reinhard Marx und Heinrich Bedford-Strohm zur Flüchtlingspolitik? Und welche politische Agenda steckt hinter der Forderung, Glaube solle schlicht, fromm und unpolitisch sein?

Drittens wächst die Unzufriedenheit mit der politischen Kultur des konfliktfreien Zentrismus, obwohl sich Deutschland mit ihr wohltuend von Ländern unterscheidet, deren innere Zerrissenheit und ideologische Polarisierung die Demokratie inzwischen ins Mark trifft – dazu gehören auch die USA. Aber schadet nicht auch die hypergroße Koalition, die häufig die Grünen und manchmal sogar, wie in der Flüchtlingspolitik, die Linke einschließt? Streben wir einem Einheitsweltbild entgegen, in dem alle Konflikte stillgestellt werden, solange es um den „Kampf gegen rechts“ geht? Von der nächsten Regierungsbildung sollte ein anderes Signal ausgehen: eines, das die AfD nicht zur ersten parlamentarischen Oppositionsstimme gegen den sozialunionsgrünlinksliberalen Konsens macht.

Und was heißt Christsein in der Demokratie? Gewiss mehr als beten und singen unter dem Schutz des Grundgesetzes. Es schließt den Pluralismus politischer Positionen ein, den scharfen Konflikt über alles, was uns aus guten Gründen oft zerreißt: Steuersystem und Energiewende, Sicherheit mit und ohne Soldaten, mehr oder weniger europäischer Bundesstaat, und auch über die Frage, ob wir mehr oder weniger Flüchtlinge und Migranten aufnehmen wollen. Denn an einer Stelle irrt das anregende EKD-Papier: Vielfältige Gesellschaften stehen gerade nicht in besonderer Gefahr, abweichende Meinungen aus der Debatte auszuschließen – man vergleiche nur Kanada und die USA mit dem neuen Ethno-Nationalismus und Konformitätsdruck in Teilen Ostmitteleuropas. Das macht Mut zu mehr Vielfalt und zum Konflikt unter Demokraten – in der Gesellschaft, in den Weltanschauungen von Christen und in der Politik.

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