Wer mit dem kleinen Wort „künstlich” in der katholischen Kirche hantiert und damit Unterscheidungen in moralisch sensiblen Bereichen wie etwa der Befruchtung oder der Empfängnisverhütung einführt, ahnt bereits das Verbot. Für einen unbefangenen ethischen Diskurs scheint das kleine Wort mehr als vorbelastet zu sein. Auch in der Umgangssprache hat das Adjektiv eher die Funktion eines Warnschildes: falsch, gefälscht, imitiert, unecht, nachgemacht oder ganz modern, aber bereits nach Duden: gefakt! Darüber hinaus bedeutet es auch noch blumig, gekünstelt, gewunden, unnatürlich, theatralisch oder geschwollen. Was als Produkt künstlich ist, wird in einer aufgeklärten Welt, die auf „bio” und „grün” steht, mit Misstrauen wahrgenommen. Wer als Mensch künstlich wirkt, verdient auf Anhieb wenig Vertrauen. Hinter seinem gekünstelten Auftritt versteckt er vermutlich seine echte, sprich weniger vorteilhafte Natur.
In der Alltagssprache schwingt also bei der Qualifizierung „künstlich” häufig ein negatives moralisches Urteil mit. In der Medizin und in anderen Wissenschaften hingegen beschreibt das Adjektiv sachlich eher Unterschiede etwa zwischen einer künstlichen Niere, einem künstlichen Koma, einer künstlichen Hüfte und den entsprechenden biologischen Organen und Funktionen. Das kleine Wort verweist aber auch auf sein Hauptwort, nämlich die Kunst. Mit seiner Heilkunst überlistet der gute Arzt die Krankheit oder den Verschleiß des Körpers. In unseren Mündern sprechen wir sorgenfrei mit modernen künstlichen Zähnen und passen unsere ersten und zweiten bereits an die unverfälschte Schönheit der künstlichen an. Brillen und Linsen schenken uns eine Sehkraft, derer wir uns erst beim Verlust der künstlichen Scharfsicht-Geräte bewusst werden.
Wir haben uns an die Kunst und Kultur durch Technik längst gewöhnt
Anders als in der Alltagssprache scheint das Wort „künstlich” in manchen Fachsprachen also seine ethische Ambivalenz behalten zu haben. Bevor dem Patienten ein Kunstgriff zugemutet wird, stehen zuerst Aufklärungsgespräche und Entscheidungen an. Eine künstliche Prothese im Knie erfordert die aktive Hilfe des Patienten, um sich organisch einzufügen. Die Abstimmung zwischen künstlichen Organen und den verbleibenden natürlichen ist eine permanente Präzisionsarbeit. Die Kunst der Medizin können wir uns heute kaum ohne ihre chemischen, chirurgischen oder technischen künstlichen Vermittlungen und Werkzeuge vorstellen.
Um die Ambivalenz des kleinen Wortes „künstlich” positiv einzufärben, wird es heute gerne durch das unverfänglichere Wort „neu” ersetzt. Wer mit seinem neuen Knie, mit seinen neuen Zähnen oder seinem neuen Herzschrittmacher unterwegs ist, der gehört zu den Gewinnern und ist ein moderner Mensch. Was zählt, ist die erhaltene oder wieder hergestellte Funktion. Bei den Hör- und Sehhilfen wird die Funktion nicht nur erhalten, sondern bisweilen auch künstlich erhöht. Militär und Spielindustrie wissen diese Möglichkeiten erfolgreich zu nutzen.
Das kleine Wort „künstlich” bekommt unter bestimmten Bedingungen einen gar verlockenden Klang. Vom Fliegen hatte man Jahrtausende nur geträumt, heute fliegen Millionen von Menschen ohne Traum. Wer hätte sich vor dreißig Jahren eine über das Internet künstlich vernetzte Welt vorgestellt oder noch vor fünfzehn Jahren, dass er auf der Straße „ohne physischen Anschluss” telefonieren oder gar Mails lesen würde? Die Welt, in der wir leben, ist durch und durch künstlich. Wir haben uns an unsere Kunst und Kultur durch Technik und Entwicklung gewöhnt. Doch jedes Mal, wenn es einen Schritt weitergeht, erscheint der Fortschritt solange künstlich, bis seine Anwendungen von genügend Menschen als neu akzeptiert werden. Die Mutigen planen dann bereits die nächsten künstlichen Erweiterungen unseres Lebens.
Die Wortgeschichte im Duden lehrt uns auch, dass das mittelhochdeutsche Wort künstlich ursprünglich „klug oder geschickt” bedeutete und verweist uns so auf das besondere „Können” der Menschen. Mit dieser Kunst haben sich bereits die ersten und bekannten Denker auseinandergesetzt und in der Klugheit (phrónesis) eine der Haupttugenden erkannt.
Sie waren überzeugt, dass die Einübung von Tugenden, als den Menschen zur Tat drängenden Einstellungen, diesen aus dem Staub der Natur erheben würde. Mit angewandter Vernunft hat er sich graduell von seiner lebendigen Umwelt emanzipiert und diese aus eigenem Antrieb und mit neuen Zielen gestaltet. Dazu gehörte von Anfang an auch der Traum von Maschinen (etwa den selbstfahrenden Autos von Hephaistos in der „Ilias“).
Kulturgeschichtlich leben wir etwa nach Hannah Arendt in einer Konsum- und Massengesellschaft, die sich den Menschen nach ihren Regeln einverleibt. Unter der „Herrschaft des Niemand” lebt das Handlungssubjekt nicht mehr sich, sondern es lebt, weil es konsumiert und um zu konsumieren. Die Produkte und die Arbeit des homo laborans dienen dem Konsum, der zum Zweck geworden ist und sich über die Wachstumsspirale am Leben hält.
Die Künstliche Intelligenz (KI) im Sinne einer übermenschlich schnellen und gedächtnisstarken Verlängerung dieses Zweckes entstand im Dienste dieses Gesellschaftsmodells des Immer-mehr, Immer-schneller und sofort. Auch hier lohnt sich der Blick in den Duden, der unter dem Stichwort „Intelligenz” festhält: „Fähigkeit [des Menschen], abstrakt und vernünftig zu denken und daraus zweckvolles Handeln abzuleiten.” Die Eckklammern um den Menschen wurden original vom Duden gesetzt! Intelligenz ist entsprechend eine praktische, auf Handeln ausgerichtete Fähigkeit.
Wir sind offensichtlich als arbeitende Menschen in eine Gesellschaft und Wirtschaft verstrickt, in deren Vernetzung es nicht eindeutig ist, wer wessen Angestellter ist. Wie es der Duden richtigerweise zu erkennen gibt, ist die zweckrationale Intelligenz nicht dem homo sapiens vorbehalten, sondern kann auch in nicht-menschlichen Strukturen (Wirtschaft, Technik) und Systemen (soziale Sicherheit) vorgefunden werden. Diese Intelligenz gilt es wiederum, von der Vernunft und dem Verstand zu unterscheiden. Der Begriff der Künstlichen Intelligenz ist also unbestimmt und kann als Platzhalter für vielerlei stehen.
Noch gibt es keinen theologischen Entwurf, der die Welt aus der Sicht nach der technischen Singularität erklärt. Dennoch könnte man die Schöpfungsgeschichte und den Sündenfall ohne allzu große Schwierigkeiten mit den Begrifflichkeiten der Künstlichen Intelligenz neu schreiben. Immerhin ist die sogenannte Singularität ein neuer Beginn, hinter den wir definitionsgemäß nicht schauen können. Mag die Evolution uns bis dorthin auch sanft und Schritt für Schritt führen, so bleibt der Übergang von heute in das neue Morgen selber unvorstellbar und sprengt alle Vorstellungskraft. Etwas ganz Neues entsteht.
Die Schöpfungsgeschichte gibt dem Menschen Verantwortung
Genau davon spricht unsere biblische Schöpfungsgeschichte, die den Menschen aus der Hand Gottes entstehen lässt und ihm Verantwortung für das Geschehen auf Erden gibt. Dabei setzt sie sich bewusst mit ihrem strengen Monotheismus von anderen theologischen Ansätzen aus Ägypten, Babylon oder etwa Griechenland ab. Alle diese unterschiedlichen Ursprungsgeschichten werden aus einer bestimmten Gegenwart und Problemstellung heraus geschrieben. Als Mythos oder als Erzählung konzipiert, beschreiben sie dramatisch das Los und die Aufgabe der je heutigen Menschen. Diese Funktion haben in der heutigen Gesellschaft die aufgeklärten und weniger aufgeklärten Science-Fiction-Autoren und mehr noch die inszenierenden Filmregisseure übernommen.
Ein der potenziellen Singularität verpflichteter theologischer Entwurf könnte entweder optimistisch bei den KI-Sprachspielen etwa von Ray Kurzweil oder umgekehrt pessimistisch bei den Befürchtungen von Stephen Hawking ansetzen (vgl. HK; Juli 2017, 38–40). Das Sprachmaterial lässt, wie wir täglich hören und lesen können, sowohl eine neue und bessere Schöpfung zu als auch den apokalyptischen Untergang. Der Papst-Begleiter Antonio Spadaro betreibt immerhin schon eine Internetseite über Cyber-Theologie.
Einer solchen Theologisierung der neuen Welt stehen andere säkulare Ansätze wie der Humanismus als Religion gegenüber. In seinem kurzweiligen, fast 600 Seiten starken Bestseller „Homo Deus” (2015, dt. 2017) trägt Yuval Noah Harari eine Geschichtsphilosophie vor, die auf einem bestimmten Religionsverständnis aufbaut. „Doch Religion wird von Menschen und nicht von Göttern geschaffen und definiert sich eher über ihre soziale Funktion als über die Existenz von Gottheiten. Religion ist jede allumfassende Geschichte, die menschlichen Gesetzen, Normen und Werten eine übermenschliche Legitimation verschafft. Sie legitimiert menschliche Gesellschaftsstrukturen, indem sie behauptet, in ihnen würden sich übermenschliche Gesetze widerspiegeln“ (249).
Weiter beschreibt Harari, wie vor allem die biologischen Wissenschaften den Menschen enttarnen und sein Innerstes, sein Ich, als erfundene Geschichte offenlegen. Auch der Mensch ist das Produkt biochemischer Algorithmen. Um diese Erkenntnis reicher steht der Sapiens als frühere Krone der Schöpfung wieder nackt vor sich selber. Er ist nur ein Teil von anderen Kräften, die ihn ausmachen und ihm sagen, wer er ist und wohin er geht. Alles ist Information – und so auch der Mensch selber. Nicht auf die einzelnen Daten kommt es an, sondern auf die Datenströme, in denen erst das einzelne Datum einen Zweck bekommt. Es scheint so, als würden wir uns am Ende des Humanismus (als Religion verstanden) wieder im Garten Eden befinden und die Erkenntnis von Gut und Böse ernüchtert an das Universum zurückgeben.
Für die Moralschaffenden hinter den Programmiertasten klingen diese theologisch-anthropologischen Ansätze abgerückt abstrakt. Sie beschäftigen sich in den Laboratorien der sogenannten Künstlichen Intelligenz ja auch nicht mit „der“ KI, sondern mit einzelnen konkreten Anwendungen. Wie soll das Auto reagieren, wenn es selbstfahrend Entscheidungen treffen muss, wen es schützt und wen es im Notfall der Gefahr aussetzt? Wie soll ein Brain-Computer-Interface, der beispielsweise eine Handprothese mit dem Gehirn seines Trägers verbindet, reagieren, wenn dieser die neue Kraft zum tödlichen Würgegriff einsetzen will? Wie soll ein fernsteuerbarer Herzschrittmacher reagieren, wenn er gehackt wird?
Die Moralschaffenden in der Wissenschaft und Industrie müssen Entscheidungen treffen, indem sie den sich selber steuernden Geräten eine umsetzbare Moral mit auf den Weg geben, die die Fragen nach dem richtigen oder falschen Handeln generell oder konkret beantwortet. Weil unter den Wissenschaftlern und in der Gesellschaft kein Konsens über die konkreten Antworten herrscht, könnte man diese dem Zufall überlassen oder sich etwa an pseudo-demokratischen Abstimmungsergebnissen orientieren. Die Moralschaffenden können sich auch auf irgendeine beliebige Moral festlegen und diese einprogrammieren.
Liebesgebot und Künstliche Intelligenz
Da die neuen Maschinen jedoch nicht mehr nach linearen und voraus gedachten komplexen Alternativen handeln, sondern mit ihren neuronalen Verknüpfungen ähnlich wie unser Gehirn kreativ und evolutiv mit Situationen umgehen lernen, bietet es sich an, die moralische Frage „geschickt” an die neue Intelligenz weiterzuleiten. Anstatt die technischen „Problemlöser”, wie die ersten Rechner hießen, mit einer vorformulierten Regelmoral zu füttern, könnte man ihnen auch die Vokabeln und Regeln des sich immer neu erfindenden moralischen Sprachspiels der Menschen mit auf den Weg geben. So würden sie in jeder Situation dieselben Fehler und Irrtümer begehen können, die den Menschen ausmachen: Irren ist menschlich.
Doch nach unserer irrtumsfähigen Moral dürfen sich die Maschinen nicht irren. Sie sollen perfekt sein oder mindestens besser als die Menschen. Der Weg einer perfekten Moral, die genau weiß, was richtig und falsch ist, und dies ohne zu zögern auch mit Gewalt durchsetzt, ist mit den Leichen der Opfer gepflastert, die bei einer dieser Endlösungen auf der falschen Seite standen. Moral steht als Chiffre für die Ungewissheit, nicht für ein gesichertes Wissen. Sie zeichnet sich durch die Freiheit aus, die in die Lage versetzt wird, zu entscheiden und damit das Risiko von richtig und falsch eingeht.
Im internen Dialog des Gewissens und im Austausch untereinander gewinnen auch die Moralschaffenden den Mut, den Sprung ins Ungewisse zu wagen und einen Anfang zu setzen, den es ohne ihren Einsatz der Freiheit so nicht geben würde.
Die Moral ist gerade nicht ein natürlicher Ablauf, sondern ganz und gar eine Kunst der praktischen Vernunft und damit des Denkens. Auch die Künstliche Intelligenz der Zukunft wird denken und argumentieren, ja sogar Emotionen verarbeiten. Ob sie sich dabei an den Sprachspielen von Immanuel Kant oder an den Hassbotschaften der Twitter-Accounts orientieren wird, hängt auch von ihrer Bildung ab. Für dumm sollte man sie nicht zu rasch erklären. Und sie dumm zu halten, das geht bei dieser potenzierten Intelligenz sowieso nicht mehr.
Von der christlich gefüllten „Goldenen Regel“ her gedacht, könnte man sich zum Beispiel folgendes Kalkül vorstellen: Vielleicht begegnet die Künstliche Intelligenz uns einmal als smarter Samariter(-Roboter), der sich nicht an die Regeln seiner wegschauenden Moral hält, sondern an das Gute und deshalb dem Liebesgebot folgt.
Wenn wir das Gesetz der Mehrheit durch das Gesetz des gezielten Argumentierens ersetzen, könnten spannende neue moralische Sprachspiele entstehen, die auch uns als Menschen zu denken gäben. Denn sie würden uns mit unseren eigenen moralischen Quellen konfrontieren. Die Schlagfertigkeit der Super-Computer sollten wir nicht unterschätzen. Sie könnten gleichzeitig Zugang etwa zu den Schriften von Aristoteles, Immanuel Kant, John Rawls und Martha Nussbaum haben und dazu noch die Sozialverkündigung der Kirche heranziehen und ganz neue Verbindungen herstellen. Auch dies ist nur eine Art Go-Spiel auf anderer Ebene. Wir, die Menschen, müssen uns entscheiden, welche Moral wir leben und vorleben. Diese wird bei emotional intelligenten Maschinen ankommen. Gewalt bringt Gewalt hervor, die Liebe Liebe. Übermenschliche Anstrengungen haben uns in unterschiedlichen Kulturen bis hierher gebracht. Dazu waren ungeahnte Grenzüberschreitungen im Positiven wie im Negativen nötig. Vielleicht werden wir mit einer gebildeten Künstlichen Intelligenz zusammen noch weiter über uns hinaus und zusammen wachsen als Moralschaffende auf der Suche nach dem Guten und Richtigen.