Ohne Zweifel hat die sogenannte Dialektische Theologie, die wesentlich auf Karl Barth (1886–1968) zurückgeht, die evangelische Theologie im 20. Jahrhundert entscheidend mitgeprägt. Zwischen Gott und Welt, das ist die Kernaussage in Barths bekanntem „Römerbrief“ (2. Aufl. 1922), besteht eine Kluft, die nur von Seiten Gottes aus zu überwinden ist. Philosophie, Kultur und nicht-christliche Religionen kommen in einem solchen Denken kaum zu ihrem Recht.
Karl Barths bekanntes Diktum, dem zufolge er die analogia entis, nach der es zwischen Gott und Welt eine Ähnlichkeit gibt, „für die Erfindung des Antichrist“ hält und meint, dass man ihretwillen nicht katholisch werden kann, wohingegen er alle anderen Gründe, die man haben kann, nicht katholisch zu werden, „für kurzsichtig und unernsthaft“ hält, macht deutlich, welche Kluft sich damit auch zwischen den beiden großen christlichen Konfessionen auftut.
Bedenkt man, dass das Analogie-Denken geradezu als „Herzstück“ der klassischen Metaphysik bezeichnet werden kann, wird deutlich, dass sich diese Stoßrichtung gegen die Metaphysik und Ontologie insgesamt richtet. Dass Barth das Wesen der Analogie verkannt hat, sei einmal dahin gestellt. Für Barth ist Gott demgegenüber „der ganz Andere“, von dem der Mensch als Mensch nie etwas wissen kann.
Ein anderer bedeutender evangelischer Theologe des 20. Jahrhunderts hat das ganz anders gesehen: Der Deutsch-Amerikaner Paul Tillich (1886–1965) entwickelte schon in einem frühen programmatischen Aufsatz von 1919 eine „Theologie der Kultur“, wonach alles Thema der Theologie sein kann, weil „das, was uns unbedingt angeht“, durch alles hindurch transparent werden kann. Zwar ist Paul Tillich auf der einen Seite ein typisch protestantischer Denker, was in seiner Reformulierung des Rechtfertigungsprinzips deutlich wird. Dieses möchte er auch auf das intellektuelle Gebiet angewendet wissen, wonach nicht nur der Sünder, sondern ebenso der Zweifler an Gott immer schon gerechtfertigt ist. Auf der anderen Seite ist seine Offenheit für die Kultur, die Philosophie und die nicht-christlichen Religionen eher untypisch für einen protestantischen Theologen.
Tillich wurde von katholischer Seite sehr beachtet
So erscheint es nicht verwunderlich, wenn Tillich in seiner deutschen Zeit nie einen Lehrstuhl innerhalb einer theologischen Fakultät bekleidete. Sein Traum, einen solchen in der Berliner Theologischen Fakultät zu erhalten, hat sich nicht realisieren lassen, da man dort Bedenken in Bezug auf die Kirchlichkeit seiner Theologie hegte. So war es nur konsequent, dass er in die philosophische Fakultät der noch jungen Universität Frankfurt hinüberwechselte. Doch nach vier Jahren beendete das Aufkommen des Nationalsozialismus jäh Tillichs aufsteigende Karriere in Deutschland – hatte er sich doch auch als Vertreter des sogenannten religiösen Sozialismus einen Namen gemacht. Bereits 1933 sah er sich gezwungen, in die USA zu emigrieren. Dort dauerte es zwar einige Jahre, bis er sich mit einer für ihn bis dato fremden Sprache theologisch etablieren konnte, doch war sein Aufstieg zu „dem“ Theologen Amerikas dann nicht mehr aufzuhalten. 1959 erschien er auf dem Cover des „Time Magazin“, und er gehörte sogar zu den Gästen, die Präsident John F. Kennedy zur Einführung in sein Amt im Jahre 1960 einlud.
Es ist ein merkwürdiges Phänomen, dass Paul Tillich in Amerika und Deutschland von einer Seite beachtet und wahrgenommen wurde, von der man es am wenigsten erwartet hätte, nämlich vom Katholizismus. Im Gespräch muss Tillich selbst öfters betont haben: „Meine katholischen Freunde verstehen mich besser als meine protestantischen.“ Der Grund lässt sich an vier Aspekten verdeutlichen: erstens anhand von Tillichs Wertschätzung der bildenden Kunst, zweitens der Ontologie, das heißt, der Lehre vom Sein, drittens des philosophischen Eros-Begriffs sowie viertens anhand dessen, was er als „katholische Substanz“ bezeichnet.
Barth liebte Wolfgang A. Mozart, Tillich dagegen die expressionistische Malerei. Dass Tillich sich intensiv mit der bildenden Kunst – und nicht mit der Musik – beschäftigte, liegt nicht nur daran, dass er unmusikalisch war. Es hatte einen tieferen Grund, hat ihm doch die Begegnung mit der bildenden Kunst wichtige Kategorien seines theologischen Denkens geliefert, zum Beispiel den Symbolbegriff oder den Begriff des „Durchbruchs“.
Tillich hat natürlich realisiert, dass dies für den Protestantismus eher untypisch ist. Auf die Frage eines Studenten antwortete er einmal: „Den bildenden Künsten mangelt das ‚Wort‘; und die Religionen sind an das ‚Wort‘ gebunden, was besonders auf das Christentum und mehr noch auf den Protestantismus zutrifft. Die Religion hat ein sehr fragwürdiges Verhältnis zu den bildenden Künsten gehabt. Nun, wie Sie vielleicht schon bemerkt haben, meine eigene persönliche Vorliebe gilt den bildenden Künsten. Aber das ist einer der Punkte, wo man mich nicht als einen echten Protestanten betrachtet, sondern fast als einen Katholiken.“
Tillich hatte in Bezug auf die Ontologie, die Lehre vom Sein, keinerlei Berührungsängste, und er hat klar gesehen, dass es sinnlos ist, von religiösen Symbolen und von religiöser Erkenntnis zu sprechen, wenn es keine Ähnlichkeit zwischen Schöpfer und Schöpfung gibt. Ganz in diesem Sinne heißt es in seinem opus magnum, der „Systematischen Theologie“: „Die analogia entis gibt uns allein das Recht, überhaupt von Gott zu sprechen. Sie beruht auf der Tatsache, dass Gott als Sein-Selbst verstanden werden muss.“ In einer Diskussion anlässlich eines Vortrages 1961, den er im Rahmen einer Würdigung seines theologischen Freundes Reinhold Niebuhr hielt, der ihn 1933 für eine Gastprofessur an das Union Theological Seminary nach New York eingeladen hatte, sagte Tillich in Bezug auf seine Wertschätzung der Ontologie: „In dieser Frage bin ich meinen katholischen Freunden und Kritikern meiner Theologie wesentlich näher als meinen protestantischen.“
Allerdings impliziert die Bejahung der Analogie des Seins für Tillich nicht die erkenntnistheoretische Begründung einer natürlichen Theologie im Sinne der sogenannten „Gottesbeweise“. Philosophisch will Tillich nicht „hinter“ Immanuel Kant zurückfallen; theologisch steht das „protestantische Prinzip“ im Hintergrund. Allerdings greift Tillich das Anliegen der natürlichen Theologie in seiner „Methode der Korrelation“ positiv auf, wonach der Philosophie die Aufgabe zukommt, eine Analyse der menschlichen Situation zu geben, aus der die existenziellen Fragen hervorgehen, auf die die Symbole der christlichen Botschaft eine sinnvolle Antwort geben möchten.
In seiner Schrift „Dynamics of Faith“ von 1957 heißt es unter der Überschrift „Faith, Love and Action“: „Man hat verschiedene Typen der Liebe unterschieden und den griechischen eros der christlichen agape gegenübergestellt. Man hat eros definiert als Sehnen nach Selbsterfüllung durch das andere Wesen, agape als Willen zur Selbsthingabe an den anderen um des anderen willen. Aber diese Alternative gibt es nicht. Die sogenannten ‚Typen der Liebe‘ sind in Wirklichkeit ‚Qualitäten der Liebe‘, Wesenszüge, die miteinander verbunden auftreten und nur in ihrer entarteten Form in Widerstreit miteinander geraten. Keine Liebe ist wirklich Liebe ohne die Einheit von eros und agape. (...) Liebe als Einheit von eros und agape ist ein Wesenszug des Glaubens.“
In seiner Schrift „Love, Power, and Justice“ von 1954 heißt es: „Die Liebe als eros wird einmal von jenen Theologen verworfen, die auch die Kultur verwerfen, und auch von jenen, die jedes mystische Element im Verhältnis des Menschen zu Gott leugnen. (...) Ohne die Sehnsucht des Menschen nach Wiedervereinigung mit seinem Ursprung wird die Liebe zu Gott zu einem leeren Wort.“
Wenn Tillich in diesem Kontext auch keine Namen nennt, denkt er hier ohne Zweifel an den lutherischen Theologen und späteren Bischof von Lund, Anders Nygren, der in den Dreißigerjahren sein monumentales, zweibändiges Werk über „Eros und Agape“ vorgelegt hat. Nygren sieht hier die sogenannte Hellenisierung des Christentums weniger im Zusammenhang mit der Dogmenbildung, sondern im Liebesgedanken, wenn er schreibt: „In dem Maße, wie das Erosmotiv in das Christentum eindringt, kann man von einer Hellenisierung des Christentums sprechen.“
Für Platon ist Eros die Kraft, die den Menschen vom Sinnlichen weg zur Welt der Ideen hin treibt. Eros ist also der Weg des Menschen zum Göttlichen, er führt das Unvollkommene hinauf zum Vollkommenen. Der platonische Gott, die Idee des Guten und Schönen, ist zwar Gegenstand der Liebe, liebt aber selbst nicht. Liebe im Sinne der neutestamentlichen Agape ist demgegenüber der Weg Gottes zum Menschen. Gott „ist“ nach christlichem Verständnis die Liebe.
Die Liebe zu Gott und zum Nächsten ist hiernach immer nur die Antwort auf Gottes zuvorkommende Liebe zu uns. Von hieraus wird verständlich, wenn Nygren die Verknüpfung dieser beiden Motive als einen widerspruchsvollen Kompromiss bezeichnet und eine Synthese zwischen Eros und Agape grundsätzlich als Verrat an der Agape wertet. Für ihn bedeutet Eros letztlich Leistung und Selbsterlösung, wohingegen bei der Agape deutlich wird, dass der Mensch alles der gnadenvollen Liebe Gottes zu verdanken hat. Damit scheint die Alternative Eros „oder“ Agape bei Nygren geradezu eine kontroverstheologische Relevanz zu bekommen. Karl Barth hat das bekanntlich ähnlich gesehen.
Tillichs dynamische Typologie der Religionsgeschichte
Die Konsequenzen eines Verständnisses, wie es Nygren vertritt, fasst Tillich so zusammen: „Wenn agape und eros sich ausschließen, ist es hoffnungslos, eine Synthese zwischen biblischer Religion und Ontologie zu suchen.“ Eine solche Synthese hält Tillich aber für unerlässlich: „Die protestantischen Kirchen müssen eine Methode finden, die Theologie und Philosophie in die rechte Beziehung zueinander bringt. Sonst werden sie der heutigen Welt nichts mehr zu sagen haben“, heißt es in diesem Sinne bei Tillich schon in einem Beitrag aus dem Jahre 1941. Diese Wertschätzung des platonischen Erosmotivs verbindet Tillichs Denken mit der neuplatonisch-mystischen Tradition, über Augustinus und Thomas von Aquin, bis hin zu der von Papst Benedikt XVI. verfassten Enzyklika „Deus Caritas est“.
Noch deutlicher wird Tillichs Nähe zu katholischem Denken, wenn man sich seine dynamische Typologie der Religionsgeschichte anschaut, die letztlich in der religiösen Erfahrung begründet ist. Unter der Überschrift „Gott als Idee“ heißt es dazu in der „Systematischen Theologie“: „Der Konflikt zwischen Konkretheit und Unbedingtheit des religiösen Anliegens ist aktuell, wo immer Gott erfahren und diese Erfahrung ausgedrückt wird, vom primitiven Gebet bis zum kompliziertesten theologischen System. Er ist der Schlüssel zum Verständnis der Dynamik der Religionsgeschichte, und er ist das Grundproblem jeder Lehre von Gott.“
Die Einsicht in diese unausweichliche Spannung zwischen Konkretheit und Unbedingtheit des religiösen Anliegens führt Tillich zufolge zu einer dynamischen Typologie der Religionsgeschichte, in der er zwischen der sakramentalen Grundlage und der prophetischen Kritik beziehungsweise dem protestantischen Prinzip als den beiden Wesenselementen der konkreten Religion unterscheidet. Dokumentiert sich im sakramentalen Element, das nicht auf die Sakramente im engeren Sinne reduziert werden darf, die Konkretheit und damit Gegenwärtigkeit des Unbedingten im Bedingten, so in der prophetischen Kritik oder dem protestantischen Prinzip die Unbedingtheit Gottes, die das ständige Nein über alles Bedingte bedeutet.
Dabei wird Tillich aber nicht müde zu betonen, dass die Erfahrung des Göttlichen in seiner Gegenwärtigkeit hier und jetzt die Grundlage für alle anderen Formen des religiösen Lebens bildet. Das heißt, die prophetische Kritik bedarf des sakramentalen Elementes, da dessen völliges Verschwinden zu einem Verschwinden der Religion führen würde. In diesem Zusammenhang bringt Tillich auch die Mystik im Sinne einer „allgemein religiösen Kategorie“ mit der Erfahrung göttlicher Gegenwart in Verbindung. Dies ist für protestantisches Denken eher untypisch, neigt dieses doch dazu, die Mystik im Sinne der Selbsterlösung abzulehnen und als etwas typisch Katholisches zu apostrophieren, damit aber zu diskreditieren.
Diese dynamische Typologie macht nach Tillich auch schon die beiden Gefahren, der jede konkrete Religion ausgesetzt ist, deutlich: die Dämonisierung und die Profanisierung. Ist es die Gefahr des sakramentalen Elementes, eine sakramental geheiligte Wirklichkeit zum Göttlichen selbst zu erheben, also den Unterschied zwischen Träger und Inhalt der Offenbarung zu verwischen, so ist es die Gefahr des prophetischen Elementes, dass es in „völlige Leere“ führen kann.
Um dieser Gefahr zu entgehen, muss sich die prophetische Kritik immer ihrer „priesterlichen“ Substanz bewusst bleiben. Verschwindet der „Priester“, verliert der „Prophet“ die Substanz, in der er wurzelt. Die konkrete Religion wie auch der persönliche Glaube bewegen sich somit ständig zwischen diesen beiden Gefahrenpunkten der Dämonisierung und der Profanisierung, wobei gerade die innerreligiöse Kritik an der Dämonisierung die Profanisierung oder Säkularisierung vorantreiben kann, was sie aber eigentlich gar nicht beabsichtigt. Hieran wird deutlich, dass die Säkularisierung in einem tieferen Verständnis immer auch ein religiöses Phänomen ist.
Die Funktion des Korrektivs
Diese religionsgeschichtliche Typologie macht Tillich auch fruchtbar für das Verständnis des katholisch-protestantischen Gegensatzes. In einem Beitrag aus dem Jahre 1941 erinnert er daran, dass im Katholizismus das sakramentale Element vorherrsche, während im Protestantismus dem prophetischen Element die Vorherrschaft zukomme. „Die bleibende Bedeutung der katholischen Kirche für den Protestantismus“ – so der deutsche Titel des Beitrages von 1941 – sieht Tillich im Wesentlichen in seiner Korrektiv-Funktion, die den Protestantismus „vor dem Absinken in einen oberflächlichen (...) Säkularismus“ bewahrt.
Selbstredend kommt dem Protestantismus eine ähnliche Korrektiv-Funktion in Bezug auf den Katholizismus zu, indem dieser jenen vor dem Magisch-Werden seiner Symbole bewahrt. Das heißt, auf die Dauer kann nach Tillich weder der Protestantismus, der den prophetischen Typus des Christentums repräsentiert, ohne das sakramentale Element leben, noch kann der Katholizismus, der den sakramentalen Typ repräsentiert, ohne das prophetische Element leben.
Es geht ihm um eine ideale „Synthesis“ der Konfessionen
Wenn Paul Tillich in einem kleinen Beitrag aus dem Jahre 1930 über „Neue Formen christlicher Verkündigung“ den Begriff der „evangelischen Katholizität“ einführt und er ebenso in einem Aufsatz mit dem Titel „Ende der protestantischen Ära?“ von 1937 einen „evangelischen Katholizismus“ fordert, so ist hier keine Vermengung der beiden christlichen Konfessionen gemeint. Dem Theologen geht es um eine „ideale Synthesis“ der beiden angesprochenen Elemente. Doch eine ideale Synthesis hat keine Existenz, und die Spannung bleibt in der Realität letztlich unüberwindlich. Ganz in diesem Sinne bezeichnet Tillich es in einem Beitrag mit dem Titel „Die Überwindung des Provinzialismus in der Theologie“ von 1952 als eines der Hauptprobleme seiner Theologie, „wie protestantisches Prinzip und katholische Substanz zu vereinen seien“.
Paul Tillich hat mit seinem Denken eine wichtige Theologie entwickelt, deren Potenzial auch heute noch lange nicht ausgeschöpft ist. Sie lässt sich nicht auf Begriffe wie Symbol- oder Korrelationsdidaktik reduzieren. Durch die Edition seiner posthumen Werke in den vergangenen Jahren wird immer deutlicher, wie originell auch die von ihm selbst entwickelte Existenzial-Ontologie und Philosophie des Lebens ist, auf der seine späte „Systematische Theologie“ aufruht. Schon früh hat der Theologe Wolfgang Trillhaas Paul Tillichs Denken zu Recht als eine „Theologie in nachtheologischer Zeit“ bezeichnet; deren ökumenisches Potenzial ist ohne Zweifel noch weiter auszuloten.