Die Philosophie Dieter HenrichsDenkende Selbstbezüglichkeit

In der reflektierten Subjektivität liegt für den Philosophen Dieter Henrich die Grundbestimmung bewussten menschlichen Lebens. Henrichs Philosophie ist geprägt von der Suche nach einem Urgrund der menschlichen Subjektivität und führt letztlich zum Gottesgedanken.

Dieter Henrich
Der Philosoph Dieter Henrich 2008 in Turin.© Privat

Philosophieren beginnt mit der Reflexion des gelebten faktischen Lebens. Insofern philosophiert schon jeder Mensch, der über das ihn Umgebende oder das, was er in seinen Gedanken, Erlebnissen und an Ereignissen wahrnimmt, staunt oder gar beirrt ist. Es gibt im Philosophieren, das mit dem eigenen Leben einsetzt, keine bloß neutralen Überzeugungen. Alles ist, so oder so, gesättigt von Grund-Haltungen und damit auch von der Atmosphäre des Glaubens oder Unglaubens, des Suchens oder der Abschottung.

Bekanntlich hat Immanuel Kant mit vier grundlegenden Fragen einen Leitfaden für die methodisch geleitete und begrifflich strukturierte Denkbewegung entwickelt, die sich auf Grund- und Grenzfragen menschlichen Lebens richtet, entwickelt: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?" Mit seiner Erläuterung, dass die letzte Frage die vorhergehenden in sich schließe, bindet Kant das erkundende Fragen an das Subjekt des Philosophierens, den Menschen selbst, zurück. Schon deswegen kann der Zusammenhang von Philosophie und Leben gar nicht eng genug gedacht werden. In diesem Sinne ist die denkende Selbstbezüglichkeit die grundlegende Vollzugsform der Philosophie. Das bedeutet: alle (systematische) Reflexion muss sich in ihrer Bedeutsamkeit und Erschließungskraft zurückleiten lassen auf Form und Vollzug des subjektiven, je-meinigen Lebens. Mit den Begriffen Selbstbezüglichkeit, Subjekt und Subjektivität lässt sich nun ein Zusammenhang erschließen, für den das Denken des Philosophen Dieter Henrich, der kürzlich sein 90. Lebensjahr vollendet hat, in herausragender Weise stimulierend und fruchtbar gewesen ist.

1927 in Marburg geboren, promovierte er 1950 bei Hans Georg Gadamer in Heidelberg, wo er sich 1955 auch habilitierte. Von 1960 bis 1965 war er Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin, anschließend wechselte er an die Heidelberger Universität. Von 1981 bis 1994 war Henrich an der Ludwig-Maximilians-Universität in München tätig. Über viele Jahre nahm er parallel zu seiner Arbeit in Deutschland Gastprofessuren in den USA (unter anderem an der Columbia University und der Harvard University) wahr. Durch seine umfangreichen Forschungen zu den Konstellationen der klassischen deutschen Philosophie und ihrer Grundtexte von Kant, Fichte, Hegel und Hölderlin war ihm insbesondere auch die Gottesfrage unserer Moderne präsent. Denn spätestens im Anschluss an die von Kant und den Deutschen Idealisten vorgebrachten Anfragen an den klassischen (christlichen) Theismus ist eine vertiefte Reflexion dieses Problemfeldes unabdingbar geworden. Sie hat sich in besonderer Weise im Medium endlicher Subjektivität und Vernunft vollzogen und verdankte zudem wesentliche Impulse einer Auseinandersetzung mit Anselm von Canterburys (1033 bis 1109) sogenanntem „ontologischem Gottesargument", dem Henrich 1960 seine erste große systematische Monographie widmete. Auf diese Weise erschloss er Blickbahnen auf eine der unabweisbaren Fragen menschlichen Daseins: die nach seinem letzten Grund, der in der religiösen Sprache „Gott" heißt. Gerade diese Verbindung von theoretischen Problemlagen mit der Form und Gestaltung des Lebensganges von Menschen in ihrer Gegenwart ist als ausgeprägter Grundimpuls von Henrichs Philosophieren zu erkennen.

Unhintergehbares Wissen

Was ein Subjekt ist, muss dabei nicht zuerst durch eine philosophische Lehre erschlossen sein. Denn jeder Mensch kann von sich wissen als einem Wesen des Fragens und Erkennens, das sich darin seiner selbst bewusst ist und kraft dieser Fähigkeit ein Interesse an sich und dem Gang seines Lebens entwickelt. Dieses ursprüngliche Wissen, das Menschen von sich haben, ist der Kern ihrer Subjektivität, zu der in diesem Sinne das Wissen um die Selbigkeit ihrer Person im Wandel (auch in einer bestimmten Verkörperung), der Bezug auf ihre Vergangenheit und Zukunft und auch die Herausbildung von nicht bloß kurzfristigen Überzeugungen und Motivationen gehört.

Für Henrich ist daher „Subjektivität" ein im faktischen Leben verankerter Prozess, der begründet ist in der Fähigkeit, sich auf sich selbst zu besinnen, sich im Ganzen der umgebenden Welt zu orientieren und auf ein das Dasein ursprünglich Gründendes hinzudenken. Darin liegt die Grundbestimmung „bewussten menschlichen Lebens". Jeder Mensch lebt wohl auch im Bewusstsein der Ambivalenz seiner Stellung im Ganzen dessen, was als Welt und Kosmos erfahren wird: Da ist die scheinbar unendliche Dimension des Universums, in der man sich kaum anders als ein Staubkorn verstehen mag und innerhalb dessen ebenso die unbedingten Erfahrungen von Sinn, Glück und Geborgenheit ihren Raum und ihre Zeit haben. Woher also komme ich? Wer eigentlich bin ich? Woran kann ich mich im letzten orientieren beziehungsweise worin kann ich mich zuletzt stellen und sammeln? Das sind die Fragen nach Ursprung, Wesen und Weg meines Lebens (vgl. Das Selbstbewusstsein und seine Selbstdeutungen, in: Fluchtlinien. Philosophische Essays, Frankfurt 1982, 114f.).

Das in ihnen zum Ausdruck kommende grundlegende Bedürfnis nach Verständigung sucht nach einer Form der, auch religiös motivierten, Lebensdeutung und -orientierung. Dies ist der unaufgebbare Zusammenklang von Philosophie und Leben. Und diesen, wenn man so will, existenzialen Ausgangspunkt seines Philosophierens hat Henrich in vielgliedrigen Untersuchungen tiefgreifend ausgeleuchtet – ohne dabei dem Anspruch zu erliegen, eine bestimmte philosophische Lehre könne zuletzt sämtliche der mit dem Existieren verbundenen Fragen in einem erkennenden Wissen auflösen.

Besonders eindrücklich ist ihm dies in einer Rede gelungen, die er 2008 anlässlich der Verleihung des Leopold-Lucas-Preises in Tübingen gehalten hat und die unter dem Titel „Endlichkeit und Sammlung des Lebens" publiziert wurde (Tübingen 2009). Sie ist eine Art philosophischer Predigt, die viel mit den Notlagen des Lebens und den damit zu verbindenden Fragen nach der Selbstverständigung von Subjektivität zu tun hat. Was hat es mit dem eigenen Leben auf sich? Wie lässt sich auf ein Lebensziel und das Verstehen eines Lebensgrundes hinausblicken, das mit der Erfahrung der menschlichen Hinfälligkeit und Not und mit der Aussicht auf das endgültige Verlöschen im Tode nicht zu einer bloß lebensdienlichen Fiktion und Selbsttäuschung herabsinkt? Und wie ist die christliche Hoffnung auf ein Leben nach dem Tode als ewige Beseligung zu bewahren?

Der nun folgende Verständigungsgang bildet sich aus der Situation des Menschen als Subjekt einer wissenden Selbstbeziehung heraus. In diesem Wissen weiß er von sich in einem Grundverhältnis, das sich in vier Perspektiven entfalten lässt, in der das jeweilige Wissen von sich in einen Weltzusammenhang einbegriffen ist und sich darin zu sich und seinem Grund verhält. Die Erfahrung der (alltäglichen) Lebenswelt führt zur Verwunderung über den ganzen Zusammenhang dessen, was in dieser Welt zu erfahren ist und zu einer Reflexion der Verfassung dieser Welt des Subjekts beziehungsweise der Natur, in der es sich vorfindet. In einem gegenläufigen Richtungssinn fragt das Subjekt nach dem Grund und Verlauf seines eigenen Lebens, das es nicht nur lediglich geschehen lassen kann, sondern zu führen hat. Und schließlich wird es die Frage nach dem Grund und Ursprung seiner selbst mit der nach der Herkunft der Welt als ganzer in einen Deutungszusammenhang bringen müssen (29-31).

Ganz zentral in dieser Gedankenverbindung steht die Frage nach dem Grund und Ursprung der Subjektivität selbst. An ihr entscheidet sich zuletzt auch die Form einer verbindlichen Lebensdeutung und ob und in welcher Weise in ihr auch religiöse Motive wirksam sind. Henrich erklärt, dass er viele Jahre des Nachdenkens gebraucht habe, um zu einer annähernden Klarheit zu gelangen. Dabei steht für ihn fest, dass dem Subjekt in seinem Wissen von sich ein Grund vorauszusetzen sei, denn Subjekte „sind doch offenkundig nicht selbstgeneriert". Ergo: „Von irgendwoher müssen sie also wirklich werden. Aus der einen großen Welt lässt sich aber die Weise ihres Entspringens schon allein deshalb nicht so erklären wie irgend ein Ereignis in ihr, weil diese Welt selbst nicht verständlich werden kann, wenn man nicht davon ausgeht, dass Subjekte ihr Korrelat und der in sich einige Bezugspunkt alles Wissens von der einen Welt sind." (27). Da die „natürliche Welt" keinen letzten Aufschluss über den Hervorgang von Subjektivität geben kann, weil der Begriff der Welt selbst davon abhängt, dass er von einem Subjekt gebildet wird, stellt sich umso dringlicher die Frage nach dem Grund von Subjekt-Sein als Ausgangspunkt von alternativen Formen einer Selbst-Deutung des eigenen Existierens. Welche Alternativen bieten sich an?

Naturalistische Alternativen

Etwa die Deutung des menschlichen Lebens im Rahmen der physikalischen Wissenschaft oder einer materialistischen Weltsicht. Dieser „Naturalismus", welcher innerhalb der ihm eigenen Theorieperspektive auf eine Kohärenz im Verstehen der Verfassung menschlichen Lebens aus ist, lässt sich als Erklärungstyp begreifen, der Form und Vollzug bewussten Lebens als Resultat physikalisch-kosmologischer Prozesse auffasst. Gewichtige Evidenzen scheinen auch für eine solche Sicht zu sprechen. Subjekte sind ja mit dem Gedanken vertraut, dass sich ihr Lebensgang in einem kosmischen Kontext vollzieht, der den Hervorgang des eigenen Lebens als in hohem Maße zufällig, ja als grund- und belanglos erscheinen lässt. So bin ich womöglich nur ein kleines Stäubchen in der unausdenkbaren Ausdehnung materieller Strukturen und dazu bestimmt, irgendwann in ein namenloses Nichts zu vergehen. Man müsste auch nicht allein den kosmischen Kontext bemühen, um zu erkennen, in welcher Randstellung sich individuelles Leben auch in modernen Gesellschaften vollzieht. In den Menschenansammlungen der Großstädte mit ihrem Nebeneinander verschiedener Sprachen und Kulturen; in den anonymisierten Abläufen der Alltagsarbeitswelt oder in der Gesichtslosigkeit des Umgangs mit elektronischen Medien: in all diesen, das natürliche Leben immer stärker dominierenden Tatsachen der modernen Welt fällt es nicht schwer, sich nur noch am Rande, in der vermeintlichen Marginalität anzusiedeln. Bin ich vielleicht wirklich nur das Produkt bloß materiell-technischer Prozesse?

Die Alternative zu diesen Gedanken der naturalistischen Weltsicht ist zunächst wesentlich dadurch charakterisiert, dass in ihr die Randstellung, Hinfälligkeit und Endlichkeit des Lebens anerkannt ist. So ist der Raum für jene Gedanken eröffnet, worin eine Selbstbeschreibung gründet, welche die definitive Bedeutung bewussten Lebens gerade auch an seine Endlichkeit und Vergänglichkeit zu binden weiß. In seiner Rede von 2008 findet Henrich dafür den Ausdruck einer „Affirmation in der Sammlung" (55ff.): „Sammlung meint immer auch, alles das, was nicht gleichgültig ist und was zusammengehört, aber noch nicht zusammen gebracht ist, aufzunehmen und in einem kohärenten und stabilen Ganzen zu sichern. Innezuhalten, Distanz und Durchsicht zu gewinnen und die Synthesis hin zu einem Lebensverstehen fügen sich so zu der Einheit einer Selbsterfahrung, die den Gehalt des Gedanken von einer Sammlung des Lebens ausmacht" (49–51).

Dieser Gedanke bezeichnet also einen Grundzug von Subjektivität, dass nämlich die Verständigung über ihren Grund und ihr Wesen auch an profunden Schlüsselerfahrungen orientiert sein muss, in denen ein Verstehenshorizont sichtbar wird, der das Leben als ganzes und das heißt auch: unter Einschluss seiner inneren Ambivalenz und Endlichkeit zu deuten, zu sammeln und zu bejahen vermag. Dazu gehört etwa die Erfahrung (unbedingten) sittlichen Beanspruchtseins im Bewusstsein von (begrenzter) Freiheit, die sich im Gewissenserlebnis kundtut; die liebevolle Begegnung mit dem anderen Menschen, durch die ich zum Erleben von Glück, Geborgenheit und Bejahtsein als Erfahrung einer umfassenden Übereinstimmung mit meinem Leben im ganzen gelangen kann, oder auch die Erfahrung einer Resonanz von Kunst, Musik und Leben in der Vergegenwärtigung ihrer jeweiligen Vollzugsmomente.

So weiß ich mich als Subjekt in das Existieren nicht nur wie ein beiläufiges Moment eingespannt, sondern zu einer Lebensführung ermutigt und herausgefordert, in der ich zur Geltung bringen kann, wodurch ich meinem Leben eine definitive Bedeutung zuspreche. Dies meint mehr und anderes als das Interesse an bestimmten Zielen und Projekten, für die ich mich einsetze. Eine solche „Lebenssumme" kann nicht ohne Erinnerung an die Erfahrungen der Konflikte und des Leids gezogen werden, in denen ich mir der Hinfälligkeit und Fehlbarkeit meines Lebens bewusst werde. Dieses Wissen um die Nichtigkeit und die Möglichkeit des Verfalls in unabwendbarer Not kann jedoch umgriffen sein von der Einsicht, dass meinem Leben dennoch eine absolute und durch die kosmische Marginalität nicht aufzuhebende Bedeutung zukommt, eben weil in der endlichen Gestalt meines Lebens ein absoluter und bergender Grund gegenwärtig ist.

Der Mensch scheint also, so resümiert Henrich, „vor der Frage zu stehen, ob er sein Leben letztlich, also nach dem Durchgang durch alle seine Sinndimensionen, als ein Faktum, dem er unterworfen ist, anzunehmen hat oder ob er sich in letzten Gedanken sammeln kann, in denen sich nicht Hinnahme, sondern eine besondere Art der Zustimmung vollzieht, die nicht auf Glück oder Leistung innerhalb des Lebensganges gegründet sein kann. Sie ist das Gegenteil des Bewusstseins der Belanglosigkeit des eigenen Lebens, jener Negation von letztem Sinn also, die in völliger Selbstdistanz vollzogen werden könnte. In jener Zustimmung zu sich vollzieht sich insofern ein Zusammenschluss des Leben mit sich – wird, wie man sagen kann, eine letztgegründete Affirmation des bewussten Leben durch sich selbst vollzogen. (…) Sie ist vom Bewusstsein eines Gerechtfertigtseins getragen, das die Sammlung der gegenläufigen Tendenzen zum Verstehen eines Ganzen begleitet und das die Möglichkeit der Nichtigkeitserfahrung des Lebens zu seinem Gegenbild hat. Dabei ist der Grund, von dem her sie sich letztlich vollzieht, für diese Selbstaffirmation so wenig durchsichtig wie die Möglichkeit von Selbstsein überhaupt es ist. Alle Religionen sind aber in ihr fundiert. Sie geben dem Bewusstsein von Belang und Lebenssinn Halt in ihren Erklärungen vom Ursprung und von der Wandlung alles Wirklichen. Die großen Systeme der Metaphysik sind wiederum nur ebenso viele Versuche gewesen, den Grund der Möglichkeit und in einem damit den Rechtsgrund einer solchen Selbstaffirmation zu explizieren" (59-61).

Endlichkeit und Personalität

Das hier anklingende Verständnis von Religion ist für Henrich zuletzt darin fundiert, zu einer Klarheit zu kommen, in der das eigene religiöse Leben nicht die Konsequenzen eines systematischen Ansatzes dementieren muss, so dass die religiöse Lehre und die Überzeugungen des Lebens immer weiter voneinander abdriften und schließlich zu einer skeptisch resignierenden Einsicht führen würden. Hierbei muss es also um eine andere Art der inneren Übereinstimmung gehen – und es ist sicher davon auszugehen, dass Theologen, zumal wenn sie verkündigen müssen, mit dieser Situation nicht weniger vertraut sind.

Im Kontext seiner Tübinger Rede kommt Henrich auch auf eines der großen Probleme für die Theologie und Philosophie zu sprechen, das sich am Gedanken des unendlichen göttlichen Ursprungs von allem entfalten lässt. Dabei stellt er sich selbst in eine Tradition, wonach zwischen dem göttlich-unbedingten Ursprung von allem und den endlichen Subjekten eine besonders enge Beziehung in der Weise besteht, dass alles Endliche in einer Einheit mit dem Unbedingten besteht und dem, was eben die Unbedingtheit des letzten Grundes ausmacht, zugleich auch wesentlich angehört. Dieses all-eine Unbedingte, das alles Endliche in sich einbegreift, vermittelt ihm auch einen unbedingten Sinn, der ihm allein durch sich selbst oder den Bezug auf anderes gar nicht zugeschrieben werden könnte.

Zwei Fragen sind hier unausweichlich: Wie ist das Endliche als solches – das heißt gerade in seiner Endlichkeit und Hinfälligkeit – zu denken, das dem Absolut-Unbedingten und seinem Binnenbereich zugehört? Es muss – so Henrichs Antwort – „einen Wesenszug mit dem Absoluten selbst teilen, wenn es denn dem Absoluten (…) soll zugehören können. In dem Endlichen, das ein bewusstes Leben führt, lässt sich dieser Wesenszug dann aber auch darin erkennen, dass sich dies Endliche in sich selbst in divergierende Richtungen entfaltet, dass es sich jedoch in dieser Divergenz nicht verliert und darum zerfällt. Es verwirklicht sich vielmehr gerade in dieser Divergenz, und es geht dabei darauf aus, die divergierenden Richtungen zusammenzuführen – zu einer Sammlung, in der sein Leben gerade in der Gestalt eines Sich-Verstehens zu einem wirklichen Ganzen wird. So sehen wir also, dass es möglich ist, gerade die Sammlung, in der das endliche Leben seiner Endlichkeit und damit auch seines Vergehens selbst ganz inne wird, auch als die eigentliche Weise der Realisierung seiner Zugehörigkeit zum Absoluten zu verstehen" (99–101).

Die komplementäre Frage, die im Raum der Theologie kontrovers diskutiert wird und viele kritische Reserven begründet, ist, in welcher Weise personale Züge im Absoluten so zu denken sind, dass sie ein Gegenüber und eine Einheit von Endlichem und Unendlichem zulassen und begründen. Darin liegt also die anhaltende Grundspannung des Gottesgedankens, wie denn die primäre Erfahrung des Gegenübers von Endlichen und Absolutem mit der Erfahrung des Inbegriffenseins des Endlichen im Absoluten zu vermitteln ist.

Diese Fragen nicht nur im religionsphilosophischen Diskurs, sondern auch für das persönliche religiöse Bewusstsein wachzuhalten, ist nicht das geringste Werk des auf das Leben bezogenen Philosophierens von Dieter Henrich.

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