Charismatische Katholiken und Freikirchen nähern sich anWie viel Mehr braucht die Kirche?

Die „Mehr-Konferenz“ des Gebetshauses Augsburg Anfang Januar hat für große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit gesorgt. Theologen und Kirchenvertreter zeigen sich mehrheitlich zurückhaltend bis skeptisch. Doch eine pauschale Ablehnung wird dem Phänomen nicht gerecht.

Konferenz des katholisch-charismatischen Gebetshauses
© KNA-Bild

Anfang dieses Jahres versammelten sich in Augsburg über 10 000 Gläubige zur zehnten „Mehr-Konferenz". Die Augsburger Allgemeine schrieb: „Tausende singende und tanzende Gläubige bei einer katholischen Messe. Lobpreislieder mit Elektrogitarren und Schlagzeug. Eine Predigt, unterbrochen durch lauten Jubel aus dem Publikum." Selbst die „Tagesthemen" der ARD berichteten ausführlich. Aus einer Besucherumfrage ergab sich, dass knapp die Hälfte der Anwesenden katholisch waren, viele weitere kamen aus dem freikirchlichen Spektrum.

Nun könnte man meinen, dass es eine gute Sache ist, wenn junge Menschen angesprochen werden, der christliche Glaube begeistert, ernst und öffentlichkeitswirksam gelebt wird, vor allem wenn das Ganze sogar ökumenisch ausgerichtet ist. Doch viele Theologinnen und Theologen – ob im pastoralen Dienst oder in der Wissenschaft – blicken kritisch bis ablehnend auf diese neue ökumenisch ausgerichtete, charismatisch-katholische Bewegung. Zu Recht?

Das Gebetshaus Augsburg als Organisator ist keine offizielle kirchliche Einrichtung, wird aber vom katholischen Theologen Johannes Hartl geleitet und von der Diözese Augsburg zumindest ideell unterstützt. Hartl hat in München studiert und im Fach Dogmatik über „metaphorische Theologie" promoviert.

Nach dem Vorbild des „International House of Prayer" in Kansas City, das er 2005 besuchte, gründete er im selben Jahr zusammen mit seiner Frau ein eigenes Gebetshaus: einen Ort, an dem rund um die Uhr gebetet wird, 365 Tage im Jahr. Auch die Mehr-Konferenz entspringt dem amerikanischen Vorbild: Selbst die Website der dortigen „Stand Conference" sieht derjenigen der Mehr-Konferenz überraschend ähnlich. Neben Möglichkeiten zu Gebet und Lobpreis bietet das Gebetshaus Vortragsabende, Seminare und Schulungen an. Hartl schrieb bereits über ein Dutzend Bücher, mit Titeln wie „Gott ungezähmt. Raus aus der spirituellen Komfortzone". Die Mission gehört zur Vision: „Unsere aus der charismatischen Erneuerung in der katholischen Kirche entstandene Initiative lebt ökumenische Offenheit und brennt dafür, Menschen für Jesus und für Gebet um einen Durchbruch in unserem Land zu begeistern."

Für die einen zu konservativ, für die anderen zu modern

Vieles in Augsburg erinnert an Elemente anderer Großveranstaltungen, wie Kirchen-, Katholiken- und Weltjugendtage, Taizé-Jugendtreffen oder christliche Festivals. Man lernt nette Menschen kennen, kommt über den Glauben ins Gespräch, diskutiert. Man stimmt in die jubelnde Menge ein, die laut und wiederholend „Jesus" ruft. Insgesamt eine lebendige, freundliche und offene Atmosphäre. Die Veranstaltung war professionell organisiert. Eine der Messehallen war gefüllt mit Ständen zahlreicher christlicher Organisationen und Angeboten, von „Open Doors" bis „Berufe der Kirche". In der Haupthalle versammelten sich die Teilnehmer zu den Vorträgen Hartls und einiger Gastredner sowie zu den Gottesdiensten und zum musikalischen Lobpreis. Ein weiterer, stets gefüllter Raum war für die stille Anbetung reserviert. Auffallend war die durchgehend lange Schlange vor den Räumen mit den Beichtgelegenheiten.

Wer als Katholik in Augsburg dabei war, den erreicht Kritik von zwei Seiten: Für die einen ist die Veranstaltung theologisch zu konservativ, für die anderen zu modern, zu ökumenisch und zu wenig katholisch. Manche sehen auch die Gefahr, dass ein Personenkult um Johannes Hartl betrieben wird. Immerhin dominierte der Gebetshaus-Gründer mit etwa sechs Stunden Sprechzeit die Veranstaltung. Diese Zeit nutzte er für eine Mischung aus Predigt und Katechese, gepaart mit viel Begeisterung – das diesjährige Motto war „Heilige Faszination" – und auch dem Aufruf, Geld für den Bau eines neuen „Mission Campus" zu spenden. Dort soll in Intensivkursen faszinierten Christinnen und Christen Theologie und Rhetorik beigebracht sowie Missionseifer geweckt werden.

Ein neues Phänomen

In seinen Katechesen thematisiert Hartl unter anderem, wie uns Menschen die Schönheit der Natur und die Faszination der Mathematik daran erinnert, dass wir eine Sehnsucht nach „mehr" haben, als nur danach, dass unsere natürlichen Bedürfnisse erfüllt werden. Diese Sehnsucht könne nur dann freigelegt werden, wenn wir uns der Macht der medial und gesellschaftlich vorgegaukelten Pseudo-Realitäten entziehen. Pseudo-Realitäten, so scheint Hartl überzeugt zu sein, sind durch Ideologien und Ablenkungen verfälschte Wahrnehmungen der Wirklichkeit. Um dies zu erreichen, seien „Umkehr, Fokus und Disziplin" notwendig. Unsere persönliche Entscheidung steht im Mittelpunkt.

Eine Teilnahme bei der „Mehr Konferenz" lässt erahnen, wie viel Energie und Potenzial in dieser Bewegung steckt. Neue Gebetshäuser entstehen an mehreren Orten Deutschlands. Wie sollten Theologen diese Entwicklung, vor allem die verkündeten, gelebten und implizierten theologischen Positionen, beurteilen? Betrachtet man die heterogene Besucherschaft sowie die fehlende Institutionalisierung, ist eine differenzierte Evaluation notwendig, für die hier nur ein Anstoß gegeben werden kann. Detaillierte Forschungsprojekte dazu existieren bislang nicht. Ähnlichkeiten zur 50 Jahre alten charismatischen Erneuerung, über die bereits gearbeitet wird, sind zwar zu erkennen, doch durch die stark ökumenische Ausrichtung und die Offenheit gegenüber evangelikalen Erweckungspredigern bis hin zu öffentlichen Heilungsgebeten muss diese Bewegung gesondert beschrieben und analysiert werden.

Eine theologische Prüfung des Bistums Augsburg kam zu dem Ergebnis, dass „im Gebetshaus nichts gelehrt und verkündet wird, was im Gegensatz zur Lehre der katholischen Kirche steht". Dies mag für Hartl gelten, der das Gebetshaus theologisch maßgeblich prägt, aber wohl nicht für alle zur Mehr-Konferenz eingeladenen Gastprediger – wie etwa Walter Heidenreich von der „Freien Christlichen Jugendgemeinschaft" in Lüdenscheid, der der Pfingstbewegung nahe steht. Vor allem scheint, dass bei Hartl dem Zweifel wenig Raum gegeben wird. Hartl meint, zwischen Realität und Pseudo-Realität unterscheiden zu können – doch jeder sollte sich die Frage stellen, ob nicht eine Pseudo-Realität durch eine andere ersetzt wird.

Amerikanisierung?

Gerade die systematische Theologie ringt damit, Kriterien zu finden, die Plausibilität von Offenbarungsansprüchen zu evaluieren, Glaubenswahrheiten philosophisch zu durchdenken und unterschiedliche Interpretationen und Modelle zu formulieren. Die kritische Prüfung spielt in der wissenschaftlichen Theologie wie in jeder Wissenschaft eine wichtige Rolle; um religiösem Fundamentalismus vorzubeugen, sollte eine solche Prüfung auch in jedem Glaubensleben eine Rolle spielen, auch mit der Gefahr, dass dies die Begeisterung abschwächt. Jeder Prediger, der ein wissenschaftliches Theologiestudium abgeschlossen hat, weiß, dass es schwierig ist, eine richtige Balance von Hinterfragen und Verkündigen beizubehalten. Der vom Geist Ergriffene ist schnell dazu geneigt, alle Zweifel auszublenden.

Der Freiburger Fundamentaltheologe Magnus Striet sprach in den „Tagesthemen" von einer „aggressiven Inszenierung" und „Inszenierungen mit modernsten Medien". Der Glaube werde „ästhetisch zelebriert", die Gottesdienstform sei „hochgradig amerikanisiert" und habe mit der der kontinentaleuropäischen Tradition nur wenig zu tun. Wann genau eine religiöse Inszenierung aggressiv ist, müsste man näher erörtern – eine aggressive Stimmung oder eine Polarisierung gegenüber anderen Gruppen kam in Augsburg nicht einmal im Ansatz auf. Ebenfalls wäre der pejorative Kontext von „Inszenierung" und „Amerikanisierung" zu erläutern. Wahrscheinlich ist damit die Mischung aus Lobpreis und Popkonzert gemeint. Man kann natürlich darüber streiten, ob Bachs H-Moll-Messe oder ein christliches Lobpreislied bestehend aus wenigen Akkorden, das die Kraft im Kreuze Jesu anruft, einen höheren ästhetischen und religiösen Wert besitzt und welche Form einer Preisung des Schöpfers angemessener erscheint. Man muss dabei jedoch bedenken, dass sich die Kirche zu allen Zeiten der modernen Medien bedient hat: Dies waren im Mittelalter der Choral (die Mehrstimmigkeit blieb lange hoch umstritten!), in der Neuzeit berühmte Künstler und Komponisten und mögen heute das Schlagzeug und die E-Gitarre, Powerpoint-Präsentationen und Lichtinstallationen sein.

Zu Beginn der Konferenz wurden alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer darauf aufmerksam gemacht, dass nur Katholiken die Eucharistie am Freitag und Sonntag und Nicht-Katholiken das Abendmahl im evangelischen Gottesdienst am Samstag empfangen sollten. Es gilt nicht das Motto „Kirchengemeinschaft durch Abendmahlgemeinschaft", sondern „Gemeinschaft in Verschiedenheit". Hartl betonte mehrmals, dass in Anbetracht der großen Herausforderungen für die immer unbedeutender werdende Christenheit in Europa die europäischen Christen vor allem zusammenarbeiten müssen. Dabei besteht natürlich die Gefahr, dass man um des gemeinsamen Zieles willen die Tragweite dogmatischer Differenzen unterschätzt. Hartl will die Volkskirche aber „nicht ersetzen", auch soll die katholische Tradition nicht evangelikalisiert werden.

In einem Buch, in dem Hartl seinen spirituellen Weg reflektiert, schildert er seine Gedanken nach dem Besuch des „International House of Prayer": „Als Katholik hat mich nicht selten die theologische und spirituelle ‚Flachheit‘ mancher Freikirchen und charismatischer Gruppen abgeschreckt. Doch hier sehe ich einen Respekt für die großen Traditionen und dennoch so viel Mut zu ganz Neuem."

Theologisch konservativ, politisch eher liberal

Natürlich lässt sich die Frage stellen, welche politische Bedeutung die Bewegung und welche Haltung sie zur modernen, pluralen Gesellschaft einnimmt. Einige Forderungen Hartls können tatsächlich brisante politische Konsequenzen haben, zum Beispiel sein Aufruf, in Deutschland lebenden Geflüchteten das Evangelium näher zu bringen. Im Gebetshaus Augsburg wird darauf Wert gelegt, christliche Materialien in Arabisch und Farsi zu übersetzen und unter die Menschen zu bringen. Hartls Ethik bleibt trotz konservativer theologischer Positionen politisch eher liberal: Christen sollten Nicht-Christen nicht auf ihre Sünden hinweisen. Ob eine persönliche Lebensentscheidung Sünde ist, sollte nur diejenigen interessieren, die sich für Gott interessieren. Dadurch wird mancher Fundamentalismus-Vorwurf relativiert. Ein dezidiert politischer Auftrag war bei der Mehr-Konferenz nicht erkennbar, auch wenn immer davon die Rede war, Deutschland und Europa – wohl durch die Herzen der Menschen – zu verändern.

Wie Paulus im 1. Thessalonicherbrief schreibt: „Prüfet alles, das Gute behaltet!" So sollte sich die Kirche und die Theologie in Deutschland mit diesem neuen Phänomen ausführlich beschäftigen. Viele Gemeinden leiden darunter, dass ihnen nicht nur die Jugend, sondern auch eine ganze Erwachsenengeneration abhandenkommt. Natürlich kann man darauf nicht so reagieren, dass jede neue und erfolgreiche Entwicklung sofort kopiert wird, aber man sollte diese wohlwollend und kritisch beobachten. In einer Kirche, in der immer weniger Gläubige in der Lage sind, über ihren Glauben zu sprechen und aus ihrem Glauben nach außen sichtbare Begeisterung zu entwickeln, kann ein Blick auf neue Initiativen möglicherweise helfen, diese wichtigen Elemente zurückzugewinnen.

Man kann sich jedoch auch fragen, ob sich in einer Welt, in der wir ständig medialen Einflüssen, Farben und Emotionen, lauter Musik und professioneller Rhetorik ausgesetzt sind, echte Spiritualität dadurch entwickeln kann, dass man noch mehr die Sinne stimuliert. Glaube ist auch, aber nicht nur Begeisterung.

Es war bemerkenswert, dass Hartl Vertreter katholischer und evangelischer Initiativen, Gebetskreise, Gemeinschaften auf die Bühne bat und nach einem gemeinsamen Gebet betonte, dass er diese nicht als Konkurrenz ansieht, sondern sich über den Erfolg aller Gruppen freue. Denn es gehe ihm darum, so viele Menschen wie möglich für Christus zu begeistern. Es wird spannend werden, zu beobachten, wie eng eine Zusammenarbeit evangelikaler und konservativ-katholischer Christen langfristig möglich ist und ob alleine der gemeinsame Lobpreis und ein etwas vage formuliertes gemeinsames Ziel die Harmonie in einer solch heterogenen Gruppe erhalten kann.

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