Die Zahl der Neuankömmlinge mag durch die verschiedenen Verschärfungen zurückgegangen sein. Neben dem Staat und den Kommunen sind die Kirchen wie auch die Moscheegemeinden und islamischen Verbände weiterhin intensiv damit beschäftigt, sich um die Integration der großen Zahl von Asylsuchenden seit dem Herbst 2015, die bleiben dürfen, zu kümmern – sich aber auch mit den offenen Fragen auseinanderzusetzen, die dabei aufgeworfen werden.
Für das Christentum ist dabei zentral, dass Vertreibung als Topos von seinen Anfängen her dazu gehört. Und auch die Ausbreitung des Christentums ist nur erklärbar über Migrationsphänomene entlang des römischen Straßennetzes und mit Hilfe aufnahmebereiter Synagogengemeinden. Auch später hat es – bis heute – immer wieder bedeutende christliche Migrationsströme gegeben.
Dass Flucht und Wanderungsbewegungen nicht nur im Christentum, sondern auch im Islam zum genetischen Code gehören, stand Anfang März im Mittelpunkt der Jahrestagung des „Theologischen Forums Christentum – Islam“, das an der Katholischen Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart beheimatet ist. Immerhin beginnt die muslimische Zeitrechnung weder mit der Geburt oder dem Tod des Propheten Mohammed, sondern mit der Hidschra, der Flucht von Mekka nach Medina im Jahr 622 n. Chr. Daneben kennt der Koran eine Hidschra des Propheten nach Äthiopien. Und auch später sind Muslime viel unterwegs gewesen: nicht nur als Soldaten, sondern auch als Händler. Schließlich fliehen heute viele Muslime aus ihrer Heimat, vor allem allerdings in muslimische Länder: die Türkei, den Libanon oder Jordanien; wie ja auch weltweit Flüchtlinge vor allem in Afrika und Asien eine neue oder zumindest eine temporäre Heimat finden – und nur in vergleichsweise kleinem Umfang in Europa.
Gebotene Solidarität mit Fremden
Das „Theologische Forum Christentum – Islam“ löst damit abermals die Zusage ein, sich intensiver gesellschaftlichen und damit auch sozialethischen Fragen zu stellen. Vor allem ging es dabei um die Frage, inwieweit Flucht und Migration die jeweiligen Religionen, die konkreten Religionsgemeinschaften und dann auch ihre Theologien verändern. Das sei noch nicht genügend aufgearbeitet, wie der evangelische Theologe Klaus Hock, Professor für Religionsgeschichte in Rostock, betonte. Das Problem bestehe allerdings darin, dass der gegenwärtige Aktualitätsdruck den notwendigen nüchternen Blick von Wissenschaftlern eher erschwere. Was bedeutet es etwa, dass der herumirrende Aramäer Abraham als zentrale Gestalt im Pentateuch auch im Koran als Ibrahim eine wichtige Rolle spielt?
Der Clou des Forums angesichts solcher Fragestellungen besteht gerade darin, dass man sie nicht nur face to face, sondern – mit den Worten des britischen Rabbiners Jonathan Sacks – side by side beantworten möchte – ohne deshalb die notwendigen Differenzierungen zu unterschlagen. Die katholische Theologin Regina Polak, Professorin für Pastoraltheologie an der Universität Wien, mahnte eine in diesem Sinne neue theologische und ethische Bewusstseinsbildung an.
Auf christlicher Seite ist jedenfalls ganz zentral, dass die gebotene Solidarität mit dem Fremden sich auf die eigene Erfahrung des Fremdseins schon des jüdischen Volkes bezieht: in Erinnerung etwa nicht nur an den Wegzug des Urvaters Abraham aus Mesopotamien, sondern vor allem auch an den Exodus aus Ägypten, bis hin zum Einzug in das „Gelobte Land“, sowie die Verschleppung und Heimkehr in Zusammenhang mit dem Babylonischen Exil. Der evangelische Alttestamentler Jürgen Ebach, Professor an der Universität Bochum, erinnerte daran, dass die Aufforderung, „den Fremden nicht zu bedrücken“ in allen Rechtstexten der hebräischen Bibel vorkomme und neben sogenannten Wirtschaftsflüchtlingen auch Kriegsflüchtlinge meine. Im Exodus war Gott ausdrücklich geflohenen Sklaven zum Gott der Befreiung geworden. Die Sinnspitze dieser Erzählungen liege darin, dass für nahezu jeden gelte, nicht „immer schon“ da gewesen und ein „Eingesessener“ zu sein.
Allerdings gebe es auch biblische Texte, bei der die Abgrenzung von Fremden oft genug vor allem der eigenen Identitätsbildung diene. In der Schrift finden sich Texte und Gegentexte, Erzählungen und Gegenerzählungen, angesichts derer man christlicherseits von islamischer und jüdischer Auslegungstradition etwas lernen könne: nämlich Vielfalt nicht als Mangel in Kauf zu nehmen, sondern als Reichtum zu verstehen.
Die besondere Situation auf einer wissenschaftlichen Tagung zu diesem Thema besteht auf muslimischer Seite darin, dass die Diskussionsteilnehmer oft Betroffene sind. Armina Omerika, Professorin für die Ideengeschichte des Islam an der Universität Frankfurt, wies darauf hin, dass nahezu alle Muslime in Europa, die über Migration sprechen, vom eigenen biografischen Erbe redeten – selbst wenn sie inzwischen in Deutschland geboren sind: Erfahrungen von Verfolgung, Krieg und Flucht gehörten genauso dazu wie die Sehnsüchte der Eltern beispielsweise. Es handele sich eben nicht um ein „abstraktes soziologisches Debattierthema“.
Ein besonderer Akzent war hier die Lesung von Reza Hajatpour, der seit 2012 Professor für systematische Theologie in Erlangen, aber auch Schriftsteller ist. Der iranische Islamwissenschaftler, der selbst Mullah war, floh bereits 1985 „aus religiösen Gründen“ aus seinem Heimatland, gerade weil es zu einem verschärft religiösen Staat geworden war, nach Deutschland. Er las aus seinen autobiografischen Romanen (etwa „Der brennenden Geschmack der Freiheit“) und wies darauf hin, dass jeder Flüchtling eigentlich am liebsten zu Hause geblieben wäre.
Omerika machte auf der anderen Seite darauf aufmerksam, dass es durch die Flüchtlinge hierzulande eine immer dichtere Konzentration von vielfältigen muslimischen Traditionen gebe, woraus eine große innere Vielfalt des Islams resultiere, die eben nicht nur harmonisch und konfliktfrei sei. Klassische islamische Denkmuster müssten deshalb immer wieder auch kritisch geprüft werden, ob sie für die gegenwärtigen Situationen noch passten. Diese Debatten stünden erst am Anfang.
Unstrittig sind vor diesem Hintergrund jene islamischen Traditionen, die das Gebot der Gastfreundschaft angesichts des Fremden in den Mittelpunkt stellen. Abdullah Takim, Professor an der Universität Wien, wies darauf hin, dass Mohammad gesagt habe: „Sei auf der Welt wie ein Fremder oder wie ein Durchreisender“. Barmherzigkeit und Gerechtigkeit schulde der Muslim dabei nicht nur Gläubigen, sondern allen Menschen. Auch die aus Pakistan stammende Mona Siddiqui, die in Edinburgh als Professorin für Islamwissenschaft und vergleichende Religionswissenschaften lehrt, erinnerte an dieses im Koran und der islamischen Tradition tief verwurzelte Gebot. Vor allem aber kritisierte sie die Vermischung von Migrations- und Islamfragen in den derzeitigen Diskussionen in Europa. Manche Probleme, die man „dem“ Islam anhängt, sind ja tatsächlich typische Probleme von Einwanderern aus ärmeren Weltgegenden.
Integrationspolitische Fragen
Ähnlich kritisierte der Religionswissenschaftler Martin Baumann, Professor an der Universität Luzern, die bisherige Migrationsforschung, die sich zu sehr auf die Integrationsprobleme konzentriere. Er sah in der veränderten Diskussionslage aber auch eine Chance. Lange Zeit habe man das Thema Migration nicht mit Blick auf das Ziel Integration diskutiert und erst recht nicht den Faktor Religion berücksichtigt. Erst die Anschläge von New York, Madrid und London von 2001 bis 2005 hätten hier die Diskussionslage verändert.
Weiterhin viel zu wenig werde aber gesehen, dass Religion auch Potenziale für die gesellschaftliche Integration aufweise. Denn mit im Gepäck seien immer auch „die Götter, Gebete und Rituale“. Selbst, wenn sich manche Migranten von ihrer Religion emanzipieren wollten, sei sie für viele doch Verbindung zur Heimat wie auch eine wichtige Ressource für Sinn und Zuversicht, verleihe dadurch Sicherheit und soziale Identität.
Nicht zuletzt in den vielen Workshops ging es durchaus auch um integrationspolitische Fragen, etwa mit Blick auf den Arbeitsmarkt und die Sozialsysteme, aber auch um konkrete Praxisbeispiele aus den Kirchen und den muslimischen Gemeinschaften (etwa der „Helferkreis Münchner Muslime“ [HMM] oder die Organisation „Islamic Relief Deutschland [IRD]).
Schließlich ging es auch um die Fragen, wie die Migration die Religionsgemeinschaften selbst verändert: Flüchtlinge seien am Anfang oft erst einmal um eine Stabilisierung ihrer Situation bemüht. Dann aber gehe es ihnen nach fünf bis zehn Jahren auch um weitere Angebote. Nicht umsonst sind Moscheen heute ja oft multifunktionale Zentren, in denen auch Zeitungen und Speisen aus dem Herkunftsland sowie CDs von Popstars aus der alten Heimat erhältlich sind und Nachhilfe, Erziehungsberatung, Sprach- und Computerkurse angeboten werden. In diesen geschützten Räumen werde, so Baumann, nicht zuletzt Frauen und Kindern Teilhabe ermöglicht, wenn faktisch oft auch wenig Mitspracherecht eingeräumt wird, weil Kleidung, Freizeitgestaltung und Paarbeziehungen stark reglementiert werden.
Das Problem besteht allerdings offenkundig darin, dass Moscheegemeinden, deren Strukturen vielfach aus der „Gastarbeiter“-Zeit stammen, zuletzt an ihre Grenzen gekommen sind. Beim Umgang mit den Fremden brauchen sie selbst eine bessere Unterstützung von der Mehrheitsgesellschaft. Erst dann kommt die dritte Phase, wie bei italienischen oder griechischen „Gastarbeitern“ in den Siebzigerjahren, deren Kinder und Kindeskinder inzwischen weitgehend integriert sind – auch wenn das nie komplett geschieht.
Bereits zu Anfang hatte der Philosoph Bernhard Waldenfels in Stuttgart die Thesen seiner „Phänomenologie des Fremden“ auf die gegenwärtigen Herausforderungen bezogen. Sein entscheidender Gedanke: Wer das Fremde abschaffe, schaffe – aus grundlegend philosophischen Überlegungen – auch das Eigene ab. Problematisch sei jeder Reinheitswahn, vor allem, wenn aus Fremdheit Feindschaft werde. Natürlich könne das Staunen angesichts des Fremden auch immer in Erschrecken umschlagen. Aber für alles Fremde gebe es immer auch eine gemeinsame Ebene, aufgrund derer man miteinander ins Gespräch kommen könne. Vor allem diese intersubjektive, interkulturelle und damit auch interreligiöse „Zwischensphäre“ gelte es heute mit Blick auf die Migranten in Deutschland zu nutzen. Angesichts der gegenwärtig um Asyl Bittenden sei jedenfalls eine „responsive Verantwortungsethik und dann auch Politik“ notwendig.
Auch Baumann mahnte, angesichts von den Extremen Mystifizierung („Untergang des Abendlands“) und Idealisierung („Multikulti“) Zwischenwege zu begehen. Das gelte nicht zuletzt, weil insbesondere von religiösen Analphabeten selbstbewusst gelebte Religion als Gefahr überschätzt werde.