„Das evangelische Pfarrhaus ist nicht mehr, was es einst war“ (23). Mit dieser lapidaren Feststellung dürfte der Autor dieses Bandes, selber Enkel eines evangelischen Pfarrers, richtig liegen. Aber das ändert nichts daran, dass zu den wichtigen kulturell-sozialen Einrichtungen, die die Reformation hervorgebracht hat, zweifellos das evangelische Pfarrhaus mit Pfarrer, Pfarrfrau und Pfarrerskindern gehört. Zu ihm gibt es aus verständlichen Gründen auch kein direktes katholisches Pendant, ebenso wenig wie zu den evangelischen Pfarrerssöhnen, die aus der Geschichte der deutschen Literatur nicht wegzudenken sind.
Der Haupttitel des Buchs verspricht allerdings mehr, als der Band einlöst: Es geht weniger um das evangelische Pfarrhaus als solches als vielmehr um eine einzige, wenn auch durchaus markante Pfarrerdynastie, die Familie Hoerschelmann. Ihre Geschichte hat sich weitgehend in Estland abgespielt, in dem deutsch-baltischen Milieu, das sozial und kulturell tonangebend war, inzwischen aber nur noch in architektonischen Zeugnissen greifbar ist. Mitglieder der Familie waren über Generationen hinweg Landpfarrer oder Pröpste, Dompfarrer oder Professoren zwischen Reval und Dorpat (heute Tallinn und Tartu), und ihre familiären Verhältnisse, ihre religiös-theologischen Prägungen, ihren Bildungshorizont und ihre pastoralen Aufgaben lässt Aschenbrenner anschaulich Revue passieren. Der Bogen spannt sich von der zaristischen Zeit über die erste Unabhängigkeit Estlands bis zum Schicksal eines Hoerschelmann-Pfarrers in Krieg und sowjetischer Kriegsgefangenschaft.
Geschildert wird in diesem Buch eine „Welt von gestern“ (Stefan Zweig), zumal in einer entlegenen Ecke des deutschsprachigen Protestantismus. Aber es wird dabei deutlich, in welchem Maß das reformatorische, in diesem Fall speziell das lutherische Christentum kulturprägend sein konnte, gerade am Beispiel des Pfarrhauses. Das kulturelle und religiöse Profil Deutschlands seit dem 16. Jahrhundert ist ohne den protestantischen Beitrag und ohne den evangelisch-katholischen Dualismus in seinen Erscheinungsformen nicht vorstellbar. Das gilt auch noch heute, und es ist gut, im Zusammenhang mit dem Reformationsjubiläum daran ohne Konkurrenzdenken und verkürzende Schemata zu erinnern.