Viel zu lange war mit Blick auf die Juden vor und nach der von Christen definierten Zeitenwende vom „Spätjudentum“ die Rede – als ob das Christentum das Judentum abgelöst habe und die Geschichte der Juden danach obsolet sei. Darüber hinaus hat unter anderem der zuvor in den USA lehrende Judaist Peter Schäfer, inzwischen Direktor des Jüdischen Museums in Berlin, detailliert aufgezeigt, wie sich das frühe Christentum und das Judentum in den ersten Jahrhunderten wechselseitig beeinflusst haben. Auch von Mutter- und Tochterreligion kann man deshalb so ohne Weiteres nicht mehr sprechen.
In seinem jüngsten Buch weist Schäfer jetzt mit detaillierten Studien nach, dass der Monotheismus Israels keinesfalls so rein gewesen ist, wie das schematische Darstellungen gerne von ihm hätten. Vor allem die Vorstellung des Menschensohns als Wesen der göttlichen Sphäre in den unterschiedlichen Traditionen der Zeit des Zweiten Tempels, also in den Jahrhunderten vor Christi Geburt, ist ihm der Beleg dafür. Die damit verbundene These lautet folgerichtig, dass die Christen mit ihren christologischen (und dann auch trinitätstheologischen) Reflexionen durchaus Anleihen bei jüdischen Vorstellungen machen konnten: „Die Erhöhung des Jesus von Nazareth als des Erstgeborenen vor aller Schöpfung, des menschgewordenen Gottes, des Sohnes Gottes, des Menschensohns, des Messias – all diese christologischen Grundaussagen sind keine heidnischen oder sonstigen Verirrungen, sondern wurzeln im Judentum des Zweiten Tempels“. Umgekehrt gilt selbst für die Zeit des rabbinischen Judentums nach der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 nach Christus, dass trotz der Rede vom Sohn Gottes im Christentum auch im Judentum weiterhin von einem zweiten göttlichen Wesen die Rede ist.
Trotz mancher Diskussionen in dem Band, in denen Schäfer das Gespräch mit den Fachkollegen sucht: Nicht zuletzt, weil die Beobachtungen des Judaisten die Texte des Neuen Testaments besser verstehen lassen, ist das Buch so interessant zu lesen. Denn letztlich geht es sowohl im Christentum wie im Judentum immer um die Frage, wie ein monotheistisch gedachter Gott sich den Menschen vermitteln kann.