Ein Interview mit der Anwältin, Publizistin und Moscheegründerin Seyran Ates„Die Moschee ist meine Rebellion gegen Terror“

Die Berliner Anwältin Seyran Ateş kämpft für Frauenrechte und gegen den Zwang im Glauben. Jetzt hat sie ein Gotteshaus eröffnet, in dem Frauen kein Kopftuch tragen müssen und zusammen mit den Männern beten. Die türkische Religionsbehörde und das ägyptische Fatwa-Amt werten das als „Angriff auf den Islam“. Das Gespräch führte Claudia Keller.

Gerade ist der Ramadan zu Ende gegangen. Haben Sie gefastet?

Seyran Ateş: Ja, ich habe gefastet. Es ist großartig! Ich mache weniger und mit mehr Ruhe. Ich komme tagsüber zu nicht so viel, aber ich arbeite dann eben nachts. In der Früh esse ich ein bisschen und lege mich hin.

Haben Sie schon immer gefastet?

Ateş: Ich habe als Teenager zuhause bei meinen Eltern gefastet, aber dann lange Zeit nicht mehr. Ich bin ja mit 17 Jahren von zuhause abgehauen. 2014 habe ich wieder richtig mit dem Fasten angefangen. Ich habe es mir vorgenommen, von einem Tag auf den anderen. So wie ich aufgehört habe zu rauchen.

Warum haben Sie wieder angefangen mit dem Fasten?

Ateş: Weil es ein tolles Gemeinschaftserlebnis ist. In der Türkei fasten alle, auch die, die nicht sonderlich religiös sind.

Hat das etwas Sportliches?

Ateş: Nein, etwas Gesellschaftliches. Vergangenes Jahr musste ich mit meiner Mutter in das Dorf in Anatolien fahren, aus dem wir stammen. Wir sind morgens nach Kayseri geflogen und dann mit dem Auto weitergefahren. Am Abend waren wir da und haben mit den Verwandten Iftar gefeiert. Eigentlich muss man ja beim Reisen nicht fasten. Ich habe es aber trotzdem gemacht, obwohl es Hochsommer war. Ich wollte es einfach mal testen – und es war klasse. Die hochschwangere Frau meines Cousins fastete auch. Ich fragte sie: Warum machst du das? Das soll man doch nicht, das ist gesundheitsschädlich, das steht sogar im Koran. Sie sagte: Mein Arzt hat nichts dagegen und überhaupt: Du bist doch auch gereist und hast gefastet!

Sie kämpfen seit Jahrzehnten für Frauenrechte und gegen den Islam, weil er Frauen unterdrücke…

Ateş: Da muss ich vehement widersprechen! Ich kämpfe nicht gegen den Islam, sondern gegen das Patriarchat. Ich hatte mich auch nie von meiner Religion verabschiedet, das habe ich immer wieder betont. Doch viele haben mir nicht zugehört. Ich war von 2006 bis 2009 Mitglied in der Deutschen Islamkonferenz beim damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble – und nicht als Atheistin, sondern als Muslimin.

Lassen sich Patriarchat und Islam trennen?

Ateş: Die monotheistischen Religionen sind grundsätzlich patriarchal aufgebaut. Deshalb kämpfe ich für die Geschlechtergerechtigkeit, aber nicht gegen den Islam. Wenn ich in Brasilien leben würde, würde ich gegen die patriarchalen Strukturen in der katholischen Kirche kämpfen. In Indien gegen die des Hinduismus. Es geht um die Strukturen, die Frauen benachteiligen. „Die Moschee gehört den Männern“, hieß es in meiner Familie. Ich habe mich schon als Jugendliche beschwert, weil die Frauen nicht in die Moschee gehen dürfen.

Frauen dürfen doch in die Moschee!

Ateş: Aber Frauen und Männer werden dort getrennt. In der Blauen Moschee in Istanbul zum Beispiel ist dieser große, tolle Bereich abgrenzt mit einem Schild, auf dem die Frau durchgestrichen ist. Das verletzt mich sehr – zumal an einem Ort, wo es um den Kontakt zu Gott geht und alle Menschen gleich behandelt werden sollten. Das ist der Grund, weshalb ich nicht in Moscheen gegangen bin. Auch mein Vater hat die Moscheen später gemieden. Ihm waren die Predigten zu politisch. Er hat geflucht, weil der Imam so gepredigt hat, dass er sich als Mann beleidigt fühlte, weil er seine Frau nicht gezwungen hat, Kopftuch zu tragen. So etwas haben auch meine Onkel und Brüder erzählt. Ich habe mir immer eine Moschee gewünscht, in der Frauen und Männer zusammen beten – wie in Mekka bei der Hadsch. Denn ich gehe gerne in Gotteshäuser, auch in Synagogen und in Kirchen. Ich habe mir auch immer gewünscht, dass es Imaminnen gibt und dass sie vorbeten.

Haben Sie zuhause gebetet?

Ateş: Meine Eltern haben mich nie dazu angehalten. Sie haben im Dorf gebetet, sie haben in Istanbul gebetet, aber als sie in Deutschland Schicht gearbeitet haben, war nicht mehr viel mit Beten. Sie haben erst wieder damit angefangen, als sie nach der Pensionierung in die Türkei zurückgegangen sind. Das war alles sehr unaufgeregt. Früher hat mich das nicht so sehr interessiert. Da stand der politische Kampf für Frauenrechte und gegen das Kopftuch im Vordergrund. Aber ich merkte, dass das nicht reicht. Das Kopftuch hat eine so religiöse Dimension, dass ich religiös argumentieren muss, um die Familien zu erreichen. Also habe ich begonnen, mich wieder mit meiner Religion zu beschäftigen. Mein Glaube an Gott war schon vorher da. Er hat viel mit einem Nahtoderlebnis zu tun.

Wann war das?

Ateş: 1984 bin ich in einer Beratungsstelle für Frauen aus der Türkei angeschossen worden. Ich hatte mich dort als Studentin engagiert. Meine Halsschlagader war durchschossen, die Kugel steckte im Hals, ich habe viel Blut verloren. Ich fiel auf den Boden. Doch mein Gefühl war, dass ich auf einem Thron sitze und nach oben schwebe. Ich habe mich unten liegen sehen. Ich habe gesehen, wie eine Kollegin versucht hat, am Telefon mit der Drehscheibe 112 zu wählen. Und ich habe gesehen, wie sie sich verwählt hat. Später im Krankenhaus sprach ich sie darauf an: Du hast dich dauernd verwählt, stimmt‘s? Ja, sagte sie, aber das kannst du gar nicht gesehen haben, so wie du lagst. Beim Hochschweben habe ich ein absolutes Glücksgefühl erlebt, das man sich gar nicht vorstellen kann. Dann kam die Frage, ob ich sterben und ins Licht gehen will, oder zurück ins Leben kommen will.

Was haben Sie geantwortet?

Ateş: Ich habe gesagt, ich bin jung und will noch viel erledigen auf dieser Welt. Ich war erst 21. Das war wirklich ein unglaubliches Glücksgefühl, und das war auch kein Gespräch, wie wir es hier führen. Es war eine Form von Kommunikation, für die wir gar keinen Begriff haben. Man wollte mich erschießen, weil ich mich für Frauenrechte engagiert habe. Und zwar aus religiösen Motiven. Danach dachte ich mir: Jetzt engagiere ich mich erst recht. Das Nahtoderlebnis hat mir Kraft gegeben.

Andere verlieren durch eine solche Begegnung mit religiösen Fanatikern ihren Glauben.

Ateş: Ich habe eine andere Schlussfolgerung gezogen: Wenn Gott mich nicht lieben würde und wollen würde, dass Menschen wie ich sterben, dann wäre ich an diesem Tag gestorben. Aber Gott hat offensichtlich etwas für mich übrig. Dass er mich hat zurückkehren lassen, zeigt mir, dass er es gut findet, dass es Frauen wie mich gibt, die sich für Frauenrechte engagieren. Und dass es meine Aufgabe ist…

…den Islam zu reformieren?

Ateş: Genau. Ich habe ja nichts dagegen, dass es konservative und orthodoxe Muslime gibt, die den Koran wortgetreu verstehen. Aber ich will auch mit meiner Lesart akzeptiert werden. Doch die Islamverbände sagen mir ständig: Du bist keine Muslimin. Das verletzt mich. Am Ende entscheidet alleine Gott, ob ich eine gute oder schlechte Muslimin bin – und nicht die Verbände!

Sie haben angefangen, den Koran zu studieren und Arabisch zu lernen. Sie sind dafür 2015 in die Türkei gezogen. War das in Berlin nicht möglich?

Ateş: Es kam vieles zusammen. Ich wollte in der Türkei die islamische Gesellschaft erleben und auch mitbekommen, wie sie sich unter Erdoğan verändert. Außerdem wollte ich, dass meine Tochter Türkisch lernt und meine Mutter unterstützen. Nach dem Tod meines Vaters 2014 war viel zu organisieren. So bin ich parallel zu meiner Berliner Anwaltskanzlei in eine Kanzlei in Istanbul eingetreten. Ich bin auf Familienrecht spezialisiert und habe viele türkische Mandantinnen. Die waren glücklich, dass ich ihre Fälle direkt in der Türkei verfolgen konnte. Außerdem wollte ich die berühmte „Ankaraner Schule“ kennenlernen, die theologische Fakultät in Ankara.

Was zeichnet sie aus?

Ateş: Sie war sehr fortschrittlich, unabhängig und reformorientiert. Sie arbeitete mit der historisch-kritischen Methode und war einzigartig in der muslimischen Welt.

War? Gibt es die Fakultät nicht mehr?

Ateş: Doch, aber sie steht jetzt völlig unter Erdoğans Kontrolle. Das Hochschulgesetz wurde geändert. Erdoğan persönlich stellt jetzt die Professoren ein.

Sie leben wieder in Berlin. Sind Sie wegen des Putschversuchs zurückgekehrt?

Ateş: Ich bin am Tag des Putschversuchs nach Berlin geflogen, um einen Preis des schwul-lesbischen Berliner Stadtfestes entgegenzunehmen. Das war ein Freitag. Ich hatte ein Rückflugticket. Am Sonntag saß ich bei Anne Will in der Sendung und habe gesagt, dass ich nicht glaube, dass Fethullah Gülen hinter dem Putschversuch stand. Ein anderer Teilnehmer der Runde machte öffentlich, dass ich von der Gülen-Bewegung einmal mit einem Preis ausgezeichnet worden bin. In den Folgetagen wurde ich in den sozialen Medien als Gülen-Anhängerin angezeigt. Es wurde mir gedroht, jemand schrieb, er habe mich angezeigt und ich dürfe nicht mehr in die Türkei.

Seitdem waren Sie nicht mehr dort?

Ateş: Nur noch einmal kurz im September, um mein Auto zu holen.

Sie müssen einen hohen Preis zahlen für die politische Einmischung. Ist es auch ein Heimatverlust?

Ateş: Ja, sehr. Deutschland und die Türkei sind beides meine Heimat. Ich leide sehr darunter, dass ich nicht einfach mit meiner Mutter eine Woche runterfliegen kann. Das ist, als ob jemand einen Teil von mir wegschneidet. Stefan Zweig schrieb in seinen Erinnerungen im Exil: „Am Tage, da ich meinen Pass verlor, entdeckte ich mit achtundfünfzig Jahren, dass man mit seiner Heimat mehr verliert als einen Fleck umgrenzter Erde.“

Haben Sie die Moschee gegründet, um hier noch mehr Wurzeln zu schlagen?

Ateş: Ich habe hier tiefe Wurzeln. Die Moscheegründung ist eine Rebellion gegen den islamistischen Terror. Ich habe 2009 begriffen, was Wolfgang Schäuble in der Islamkonferenz wie ein Mantra wiederholt hat: Die liberalen Muslime müssen sich organisieren, um politische Partner des Staats sein zu können. Ich habe ihm immer wieder gesagt, dass man als Muslim seine Religiosität eigentlich nicht vor sich her trägt. Und dass die Tatsache, dass sich die liberalen Muslime nicht organisieren, dem eigentlichen Charakter des Islam entspricht. Die Politisierung, die die konservativen Verbände betreiben, widerspricht ihm. Da geht zu viel Spiritualität und Mystik verloren. Deshalb ist es ein Widerspruch, dass ich jetzt so viel über meine Religiosität spreche. Ich mache aus politischen Gründen etwas, was meinem Verständnis von Religiosität zutiefst widerstrebt. Doch der Islam ist gerade so politisiert, dass man da reingezogen wird.

Ohne dass Sie es wollten, ist Ihre politische Arbeit religiös geworden? So wie auch die politischen Konflikte in der arabischen Welt seit 1979 zunehmend religiös aufgeladen wurden?

Ateş: Ja, genau. Die Moscheegründung ist mehr eine Reaktion als eine Aktion. Doch wenn sich die liberalen Muslime nicht organisieren, überlassen sie das Feld den anderen.

Warum haben Sie sich nicht mit den anderen liberalen Zusammenschlüssen zusammengetan? Mit dem Muslimischen Forum oder dem Liberal-Islamischen Bund?

Ateş: Weder die einen noch die anderen haben mich gefragt, ob ich bei ihnen mitmachen will. Die Idee mit der Moscheegründung habe ich 2009 zum ersten Mal öffentlich gemacht. Eigentlich hatte ich gehofft, dass das andere übernehmen.

Setzen Sie Ihr Koranstudium in Berlin fort?

Ateş: Ich werde mich für das Wintersemester bei Gudrun Krämer an der Freien Universität für Islamwissenschaften einschreiben. Wenn das Institut für Islamische Theologie an der Humboldt-Universität gegründet ist, möchte ich dort studieren.

Ist die Mystik Ihr Zugang zur Religion?

Ateş: Der muslimische Mystiker Mevlana hat mich schon immer fasziniert. Auch mein Vater hat sich mit ihm beschäftigt und viel Sufi-Musik gehört. Er ist morgens aufgestanden, hat Musik angemacht und angefangen zu tanzen. So habe ich tanzen gelernt. Musik ist ein wichtiger Bestandteil meines Lebens, sie gehört für mich auch zum Gottesdienst dazu. Aus religiösen Gründen keine Musik zu hören, ist lebensverneinend.

Wer ist die Gemeinde Ihrer Moschee?

Ateş: Es kommen Sunniten, Schiiten, Aleviten, Sufis. Und Menschen aller sexuellen Orientierung. Es gehört auch eine Frau dazu, die sagt, dass sie mit dem Islam „nichts am Hut hat“, aber vom Sufismus fasziniert ist. Flüchtlinge sagen mir, dass es in Syrien viel liberalere Moscheen gab als hier in Berlin und dass sie jetzt endlich einen Ort haben, wohin sie gehen können. Unter meinen Verwandten gibt es Menschen, die sich sogar vom Islam verabschiedet haben, weil sie so viele hasserfüllte, schlechte Predigten gehört haben. Die haben jetzt hier wieder Lust gefunden, sich mit ihrer Religion zu beschäftigen.

Sie wollen mit 30 Gemeindemitgliedern den Islam verändern?

Ateş: Wir sind Teil einer weltweiten Bewegung: In New York hat die Theologin Amina Wadud 2005 als erste Frau vor einer Gruppe von Männern und Frauen das Freitagsgebet gehalten. Weil sie Morddrohungen bekommen hatte, musste sie allerdings in eine Kirche ausweichen. Vor vier Wochen musste sie den Gottesdienst in den Niederlanden in einen Konzertsaal verlegen. In Los Angeles hat Ani Zonneveld die Organisation „Muslime für einen progressiven Islam“ gegründet. Sie hat bei unserer Moschee-Eröffnung zum Gebet gerufen. In London gibt es die „Inclusive Mosque“-Initiative und in Dänemark die Imamin Sherin Khankan mit ihrer Moschee.

Was für einen Islam wünschen Sie sich?

Ateş: Im evangelischen Religionsunterricht hat mich die Lehrerin für die Liebe begeistert. Ich hörte von Vergebung, von Jesus und „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Als Teenager habe ich diesen Satz zuhause mit Lippenstift auf meinen Spiegel geschrieben.

„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ – steht das auch im Koran?

Ateş: Nicht wortwörtlich, aber man kann diese Aussage auch aus dem Koran ableiten. „Bismillahirrahmanirrahim“ – so beginnt der Koran, so beginnen fast alle Suren, und damit ist die herausragende Eigenschaft Allahs benannt, seine Barmherzigkeit. Das ist für mich der Kern des Islam.

Der Prophet Mohammed war Heerführer und hat Verteidigungs- und Angriffskriege geführt. Lassen sich die Gewalt-Passagen im Koran ausblenden?

Ateş: In der ersten Phase in Mekka ging es nur um Mystik und auch viel um Geduld und Liebe. Kriege gab es erst in der Medinischen Phase, da war man in einer anderen Gemeinschaft und musste sich verteidigen. Wir Muslime müssen uns eben überlegen, auf welche Phase wir uns berufen. Vor dieser Schwierigkeit stehen andere Religionen ja auch.

Die Tatsache, dass Jesus friedlich war, hat die Christen jedenfalls nicht davon abgehalten, gewalttätig zu sein. Aber trotzdem wird der Dschihad im Koran eben auch als Kampfeshandlung beschrieben und nicht nur als Bemühung um Vollkommenheit.

Ateş: Das stimmt schon. Aber ich habe neulich einen Artikel gelesen, in dem sich ein Theologe die Mühe machte, Passagen zur Gewalt in der Bibel und im Koran aufzulisten. Da hat die Bibel gewonnen. Es kommt eben darauf an, wie viel ich davon in die Gegenwart übertrage.

In Ihrer Moschee gebe es „keinerlei Zwang im Glauben“, schreiben Sie in Ihrem neuen Buch. Kommt eine Religion ohne Festschreibungen und Dogmen aus?

Ateş: Ich kann niemandem vorschreiben, dass er an Gott glauben oder ein Kopftuch tragen soll. Aber natürlich muss es Regeln und Festschreibungen geben und klar sein, dass wir an eine bestimmte Lesart des Korans glauben. Wir sollten dennoch versuchen, möglichst wenige Vorgaben zu machen und Zweifel zulassen. Das ist in vielen anderen Moscheen nicht erlaubt.

Sind bei Ihnen auch Frauen mit Kopftuch willkommen?

Ateş: Wir haben eine Frau als Mitglied, die Kopftuch trägt. Unsere Alevitin sagt, jeder, der an die Tür klopft, wird eingelassen, auch Frauen mit Niqab. Aber ich bin dagegen, dass eine Frau mit Niqab in meiner Moschee betet. Burka und Niqab verstoßen meiner Meinung nach gegen die Würde der Frau. Darüber diskutieren wir in unserer Gruppe viel.

Ihre Moschee heißt Ibn-Rushd-Goethe-Moschee. Ibn Rushd?

Ateş: Ibn Rushd lebte im 12. Jahrhundert und war ein großartiger Philosoph. Wenn man ihn liest, liest man auch Kant. Ibn Rushd ist der Aufklärer im Islam, aber seine Sichtweisen wurden unterdrückt. Er war ein Brückenbauer zwischen Ost und West, er hat den Christen Aristoteles nahegebracht. Mit diesem Namen möchte ich Muslimen zeigen, wie viele Traditionen es im Islam gibt. Auch heute gibt es Reformansätze in der arabischen Welt, viele kritische Literatur wird nicht übersetzt ins Deutsche. Deshalb lerne ich ja Arabisch.

Warum beziehen Sie sich auf Goethe?

Ateş: Auch er war ein Brückenbauer zwischen Ost und West. Goethe hat Gott in der Natur gefunden, und der Islam faszinierte ihn mehr als das Christentum.

Das Christentum fand er spießig und unaufgeklärt.

Ateş: Ich möchte, dass die Leute begreifen, dass auch das Christentum einmal so dermaßen unaufgeklärt war und so abweisend, dass selbst Goethe sagte: Wenn das Religion ist, dann nein danke – wie heute Menschen über den Islam sagen: Wenn das Islam ist, dann will ich nichts damit zu tun haben.

Die heutige Situation des Islam ist nur eine geschichtliche Phase?

Ateş: Ich sehe alle Religionen und Kulturen in ihren zeitverschobenen Entwicklungen.

Die türkische Religionsbehörde Diyanet und die Fatwa-Behörde Dar al-Iftam in Kairo sind noch nicht bereit für eine Reform. Sie haben die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee als „Angriff auf den Islam“ verurteilt. Dass Frauen beim Gebet ihre Haare nicht bedecken und neben Männern beten, sei ein Versuch, „den Islam zu zerstören“, urteilte die Diaynet. Wie gehen Sie damit um?

Ateş: Es ist traurig, dass die Gelehrten nicht dazulernen. Sie predigen weiterhin Hass und säen Zwietracht. Dennoch würde ich mich über einen Dialog mit den Religionsbehörden in Ankara und Kairo freuen.

Sie haben neulich Kurden im Irak besucht. Warum?

Ateş: Ich war bei Atheisten in Süleymaniye und habe unser Moscheeprojekt vorgestellt. Da kamen Männer und Frauen und sagten: Vor unserer Tür wütet der IS, wir haben die Nase voll vom Islam. Jetzt sprichst du von der Liebe im Islam? Nachdem ich erklärt habe, wie ich das verstehe, sagten Männer: Hinter dir würde ich beten! Und Frauen: Für dich würde ich sogar ein Kopftuch aufziehen. Ich habe gesagt: Das musst du bei uns gar nicht! Viele Kurden dort besinnen sich auf den vorislamischen Zoroastrismus. Die Gemeinde hat schon 3000 Mitglieder.

Wie finanziert sich Ihre Moschee?

Ateş: Bisher von meinem privaten Geld und über Spenden. Wir wollen auch Anträge stellen beim Staat für Projekte in der Flüchtlingshilfe und Wohlfahrtspflege.

Dann werden Sie vom kooperativen Verhältnis von Staat und Religionen profitieren, das Sie schon oft kritisiert haben.

Ateş: Das tue ich auch immer noch. Mein Vorbild ist das laizistische Frankreich.

Dort fühlen sich viele Muslime als Bürger zweiter Klasse.

Ateş: Die Franzosen haben den Fehler gemacht, dass sie Integrationsprobleme nicht wahrhaben wollten und sich darauf ausruhten, dass alle französische Staatsbürger sind. Aber das lag nicht am Laizismus.

Was stört Sie am deutschen Staats-Religions-Verhältnis?

Ateş: Ich beobachte eine unglaubliche Ausweitung der Religionsfreiheit aus politischen Gründen. Daran beteiligen sich auch die Kirchen. Sie unterstützen Praktiken des konservativen Islam, die gegen die Gleichberechtigung der Frau und gegen die Menschenwürde verstoßen, weil sie Angst haben, dass sich etwas daran ändern könnte, dass Staat und Kirche in Deutschland nicht richtig getrennt sind.

Wo sollten die Kirchen Widerspruch einlegen?

Ateş: Zum Beispiel beim Thema Kopftuch. Da stehen die Kirchen komplett hinter der Kopftuchfraktion.

Wäre es nicht übergriffig, wenn sie sich einmischen würden?

Ateş: Sie mischen sich ja auch so ein, indem sie die Haltung der Konservativen unterstützen. Sie sollten sich vielmehr fragen, ob dieser konservative Islam gut ist für das friedliche Zusammenleben von Demokratie und Religion.

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