Herder Korrespondenz 8/2017 S. 7, Kommentar, Lesedauer: ca. 4 Minuten
Es war der 25. Juni 1992, noch im alten Bonner Wasserwerk. Zur Abstimmung stand die Neuregelung der Abtreibungsgesetzgebung. Es gab mehrere Vorschläge, zwei stachen heraus. Ein Gruppenantrag, der aus den Reihen der Sozialdemokraten kam, sah vor, im wiedervereinigten Deutschland eine Fristenregelung nach dem Vorbild der DDR einzuführen. Die CDU/CSU hingegen hatte sich mit Mühe auf einen Antrag geeinigt, der eine sogenannte Indikationslösung vorsah, bei der die letzte Entscheidung, ob eine Abtreibung vorgenommen wird, dem Arzt und nicht der schwangeren Frau zugekommen wäre. Die sogenannte Fraktionsdisziplin wurde aufgehoben.
Kaum ein Thema polarisierte die Abgeordneten und auch die Gesellschaft dermaßen wie der Schwangerschaftsabbruch. Der Riss ging durch die Unionsfraktion. Schon damals war
Angela Merkel
als Jugendministerin dabei. Wer nach der Blaupause für ihr Handeln bei der „Ehe für alle“ sucht, findet es hier im Agieren von
Helmut Kohl
. Der Bundeskanzler warb für das restriktive Modell, das noch relativ nah bei der Position der katholischen Kirche lag. Doch er wusste, dass er sich nicht durchsetzen würde.
Bundestagspräsidentin
Rita Süssmuth
und weitere CDU-Frauen sprachen sich für den konkurrierenden SPD-Entwurf aus, der auch von Kohls Koalitionspartner FDP unterstützt wurde. 32 Stimmen aus Kohls eigener Partei votierten schließlich gegen den Unions-Entwurf. Ähnlich wie heute bei der „Ehe für alle“. Es gibt Fragen, die sprengen die Konsensmaschine der Unions-Parteien. Da lässt sich Einigkeit nicht erzwingen, deswegen wird eine Sollbruchstelle gesucht. Zu meinen, dies sei Merkels Masche, ist falsch. Sie hat es von Kohl gelernt.
Von Kohl ist der Satz überliefert: „Wir zeigen Flagge und gehen kämpfend unter“. Machtkalkül als Meisterleistung. Der verstorbene Kölner Kardinal
Joachim Meisner wetterte damals, die CDU müsse ihr „C“ ablegen, da sie im Lebensschutz nicht mehr christlich agiere. Doch selbst innerhalb der Kirchen waren auch damals nicht mehr alle Stimmen so scharf. Süssmuth war Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken und suchte mit anderen nach einem Mittelweg zwischen den verhärteten Positionen.
Auch Merkel war weder mit der einen noch mit der anderen Lösung glücklich – und enthielt sich bei der Abstimmung. Durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und mehrere Debatten später wurde die heutige Regelung gefunden: Verbot der Abtreibung, aber straffreie Abtreibung möglich nach vorheriger Pflichtberatung. Das hatte Kohl auch mit Kardinal
Karl Lehmann besprochen, um noch einmal einen katholischen Konsens mit der Union zu finden. Es ging ziemlich schief. Papst
Johannes Paul II. verbot den deutschen Bischöfen, sich an der Beratung zu beteiligen und missbilligte die gefundene Lösung. Seither geht ein Riss durch den politischen Katholizismus, der nur durch zunehmende gesellschaftliche Entkirchlichung nicht mehr so sichtbar und virulent ist.
Ein Jahr nach der Abtreibungs-Abstimmung, im Juni 1993 gründete sich in Bonn der Kardinal-Höffner-Kreis, zunächst vor allem als Zusammenschluss katholischer Unions-Abgeordneter. Schon damals – lange vor Merkels Aufstieg – sahen manche die katholische Prägung der Unionsparteien schwinden. Der Höffner-Kreis wurde zeitweilig so etwas wie die katholisch-konservative Bastion innerhalb der Unionsfraktion.
Vor wenigen Wochen, am 26. Juni um 17.30 Uhr, besuchte Bundeskanzlerin Merkel den Höffner-Kreis. Sie macht das nicht jedes Jahr, eigentlich nur vor Bundestagswahlen. Unter den rund 50 Teilnehmern sind Abgeordnete, die nicht nur katholisch sind, wie immer noch recht viele
. Sondern hier versammeln sich Katholiken, die mit ihrer Kirche etwas zu tun haben wollen, die sich manchmal an ihr abarbeiten – oder sie gegen Gegner verteidigen. Das sind nur noch wenige. Nach der Bundestagswahl werden einige prominentere Köpfe fehlen wie
Franz-Josef Jung
oder
Karl Schiewerling, der Vorsitzende des Höffner-Kreises. In diesem katholischen Schonraum des Parlaments, wo, wenn überhaupt, Widerstand zu erwarten gewesen wäre, rückt Merkel erstmals halböffentlich raus mit der Sprache. Die Abgeordete
Claudia Lücking-Michel
stellt die entsprechende Frage. Merkel antworet ausführlich: Sie wolle in einer möglichen Abstimmung über die „Homo-Ehe“ die Frage zur Gewissensentscheidung erklären.
Dann aber muss sie schnell weg, weil sie bei der Zeitschrift „Brigitte“ erwartet wird. Dort wiederholt sie ihre Entscheidung, was dann öffentlich Aufmerksamkeit findet. Von der Katholiken-Runde spricht keiner. Widerspruch gibt es nicht, nicht im Höffner-Kreis, auch nicht bei „Brigitte“.
Merkel hat den Kohl’schen Weg gewählt. Und auch die Katholiken in der Fraktion, die – wie Merkel – die „Ehe für alle“ dann im Parlament abgelehnt haben, sehen den Vorteil der Deeskalation gegenüber einer von anderen geforderten „Debatte“, wo doch eh alles klar ist. Lebensschutz und „Ehe für alle“ – es sind kontrollierte Sprengungen am eigenen einst katholischen Fundament, das unterhöhlt wurde, kaum noch Anbindung an eine breite Basis hat – auch nicht in der Kirche. Die Union leidet nicht darunter, denn sie vollzieht den Wandel nach, der sich in ihrer Anhängerschaft bereits vollzogen hat. Ein Pragmatismus, der ihr in der Demokratie allein Erfolg verspricht.
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