Kann es sein, dass Sie im Bistum Passau eigentlich am falschen Platz sind?
Stefan Oster: Falsch, wieso?
Sie wollen doch Missionar sein, da würden Sie doch eigentlich besser nach Görlitz oder Berlin gehören. Der bayerische Gewohnheitskatholizismus passt doch gar nicht zu Ihnen.
Oster: Ich bin ja selbst ein dankbares Kind dieser Volkskirche. Ich bin in der Oberpfalz geboren, das ist quasi in der Nachbarschaft zu Passau. Das ist sehr ähnlich von der Struktur hier. Aber Sie haben Recht: Im Gewohnheitskatholizismus ist es tatsächlich manchmal schwierig, in die Tiefe vorzudringen, das ist ein dickes Brett. Vielleicht ist es dort, wo mehr Brache ist, leichter, einen Aufbruch anzustoßen. Aber ich habe mich hier nie falsch gefühlt und bin sehr gern hier. Ich tue den Dienst in dem Bewusstsein, dass Gott mich hier hingestellt hat – und dann ist es gut. Ich will mithelfen, dass die Menschen eine persönlichere und tiefere Glaubensbeziehung finden.
Von Ihnen stammt der Satz: Ich will die Sehnsucht wecken! In der Kirchengeschichte waren es meist nicht die Bischöfe, die Sehnsucht wecken wollten. Steht das Amt manchmal Ihrem Charisma entgegen?
Oster: Vor der Zeit als Bischof habe ich mit jungen Menschen eine Weggemeinschaft begonnen, da hatte ich manchmal das Gefühl, das könnte noch weitergehen und mehr Form annehmen. Da habe ich mich sehr beschenkt gefühlt, aber tatsächlich auch für die Arbeit im Bischofsamt viel gelernt. Ich fühle mich hier deshalb nicht eingeschränkt, neue Dinge zu tun, sondern vielfach unterstützt. Natürlich: Als Bischof habe ich jede Menge Dinge zu tun, die nicht automatisch meine Lieblingsbeschäftigungen sind. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass mich zum Beispiel „der Apparat“ blockieren würde, wie ich es mal von einem Mitbruder im Bischofsamt gehört habe.
Woraus besteht aus Ihrer Sicht die gegenwärtige Krise der Kirche?
Oster: Die Krise ist sehr komplex, das lässt sich nicht auf eine einzelne Formel bringen. Das, was wir als Rückgang oder Glaubensverdunstung erleben, hat viele Ursachen. Wir leben hier im Wohlstand, wir haben den Pluralismus, die Herausforderung durch die Aufklärung und Wissenschaften und anderes mehr. Wir haben die Missbrauchskrise zu verarbeiten, auch Limburg hat die Glaubwürdigkeitskrise verschärft. Aber am Ende ist die Krise der Kirche zuerst eine geistliche Krise.
In den Fünfzigerjahren war die Zahl der Gottesdienstbesuche besser. Wollen Sie dahin zurück?
Oster: Nein. Es war früher nicht einfach alles besser. Denn in der Tat kann Volkskirche – bei allem Guten – auch einlullen. In der Volkskirche komme ich leicht um die Frage herum: Will ich mich für Jesus und den Glauben an ihn entscheiden oder nicht? Irgendwie ist da ja ohnehin jeder dabei. Und eben dieser Automatismus ist weitgehend zu Ende. Daher: Vieles spricht dafür, dass wir uns stärker zu einer Entscheidungskirche entwickeln.
Wie erleben Sie die Verkrustungen des Traditions-Katholizismus?
Oster: Ein Beispiel: Neulich hat die „Passauer Neue Presse“ ein Dorf im bayerischen Wald ausfindig gemacht als das katholischste Dorf Bayerns. Es ist Sommersberg mit 99 Prozent Katholiken – und einer jungen Frau, die ausgetreten ist. Eine Reporterin hat dann mit viel Wohlwollen eine ganze Seite lang vom kirchlichen Leben im Dorf berichtet. Das Interessante war, es ging in dem Text vor allem um die Frage, ob und welche Traditionen noch gepflegt werden oder nicht. Zum Beispiel: Geht man in die Kirche oder nicht? Nur: Um Inhalte ging es im Grunde gar nicht, null. Jesus, das Evangelium, Erlösung, Eucharistie, Auferstehung – Fehlanzeige. Es ging nur um Tradition. Das sagt meines Erachtens etwas über den Kern der Krise: Verlust der entscheidenden Inhalte.
Ist das aber nicht genau das Grundmissverständnis in der Kirche zwischen den sogenannten Liberalen und den Konservativen? Die Konservativen beharren auf Tradition und verlieren den Inhalt. Und umgekehrt: Die Liberalen kümmern sich um den Inhalt und verlieren die Tradition.
Oster: Mit diesen Schubladen ist das immer schwierig. Ich beobachte auch Entwicklungen quer zu den Lagern. So sehe ich eine Ökumene der Entschiedenen, da finden sich dann Katholiken mit Evangelikalen zusammen – und die lassen sich nicht automatisch irgendwie einordnen. Es gibt die Karikatur des Konservativen, der am Formalen, am Dogma, am Ritus festhält – ohne dass es existenziell wird. Die Karikatur des Liberalen ist der Gutmensch, der sich für Lehre und Liturgie nicht interessiert. Die Überzeichnungen helfen nicht weiter. Am Ende geht es um Heiligkeit. Gott will, dass wir Heilige werden, davon bin ich überzeigt – und darin sind Wahrheit und Liebe versöhnt.
Aber wo sehen Sie die traditionellen Formen der Kirche kritisch? Wo würden Sie etwas verändern?
Oster: Ganz oft denke ich, dass wir manches so Selbstverständliche verändern müssen. Zum Beispiel feiern wir seit Langem im Bistum die Firmung mit Zwölfjährigen. Das bedeutet, es sind noch fast alle Jugendlichen eines Jahrgangs dabei. Natürlich gibt es da Vorbereitung mit viel Engagement. Aber was wir dann da liturgisch tun oder im Gottesdienst beten, das hat mit der tatsächlichen Glaubenswelt der Jugendlichen im Grunde fast nichts zu tun. Auch viele der Paten sind sehr, sehr weit weg. Und viele im Firmgottesdienst wissen natürlich auch gar nicht mehr, was sie bei der Eucharistie feiern. Da ist mein Gefühl schon sehr zwiespältig. Natürlich freue ich mich, wenn ich die Jugendlichen mit dem Sakrament auch stärken kann. Da lacht dann auch mein Salesianer-Herz. Auf der anderen Seite leide ich, weil ich merke, das passt hinten und vorne nicht mehr zusammen.
Sie selbst waren in ihrem Leben sehr stark ein Suchender. Nach der Firmung haben Sie sich erst mal vom Glauben abgewandt, waren mit anderem beschäftigt, inklusive Buddha in Indien und Lebensgefährtin in Kiel. Gestehen sie den Jugendlichen, mit denen sie heute sprechen, auch all diese Suchbewegungen, Irrungen und Wirrungen zu?
Oster: Natürlich gestehe ich das zu. Ich wünsche mir nicht die Jugendlichen, die nach der Firmung einfach nur scheinbar geradlinig katholisch durchs Leben ziehen. Die gibt es eh nicht. Zudem: Ich bin ja selbst immer noch ein Suchender. Denn es gibt zwar die tiefe Erfahrung des Angekommenseins bei Christus. Aber umgekehrt gilt: Wer bei ihm wirklich angekommen ist, bei dem wächst die Sehnsucht. Mit Christus ist man ja nie zu Ende. Aber worin ich ziemliche Gewissheit habe, ist, dass sich mein existenzieller Grund nicht mehr verändert. Ich bin daheim, Jesus ist der Grund meines Daseins – und nicht mehr austauschbar, zum Beispiel durch Buddha oder einen anderen.
Aber Sie haben es probiert, Sie wussten es nicht immer. Würden Sie den Jugendlichen heute nicht auch so eine Suche empfehlen?
Oster: Ich habe an der Uni den Studenten immer gesagt: Erstens, stellt alles in Frage. Und übernehmt nicht ungeprüft einfach Traditionen. Sucht fragt, zweifelt, ringt, ernsthaft und redlich. Zweitens: Vertraut darauf, dass man Wahrheit wirklich finden kann. Und drittens: Es gab da einen, der gesagt hat, ich bin’s. Nehmt das ernst. Schließlich: Es muss euer eigener Glaube werden, sonst nützt es wenig.
Kann es sein, dass man in den Fünfzigerjahren so jemanden nicht geweiht hätte: einen Radiomoderator mit Freundin, der als Clown auftritt und sich von der Kirche deutlich entfernt hatte?
Oster: Wahrscheinlich stimmt das, jemand mit meiner Biografie wäre nicht geweiht worden. Ich habe mich auch gewundert, wie die auf mich gekommen sind.
Dann ist es doch gut, dass sich die Kirche verändert hat.
Oster: Sicher! Ecclesia semper reformanda. Die Kirche muss sich immer verändern. Aber die meisten, die von Veränderung reden, meinen sofort den klassischen Katalog: Zölibat, Frauenpriestertum, Homosexualität, wiederverheiratet Geschiedene. Ich sage: Diese Reizthemen greifen zu kurz. Veränderung bedeutet: mehr Wahrhaftigkeit, Heiligkeit, Tiefe im Glauben und größere Liebesfähigkeit. So muss sich Kirche verändern.
Wer vor dem Konzil theologisch die Religionsfreiheit eingefordert hat, wurde auch bezichtigt, sich mit „Reizthemen“ zu beschäftigen und sich außerhalb des Katholischen zu stellen.
Oster: In der Tat geht es nicht ohne das Ringen um die Wahrheit. Und es gibt keinen, mit dem ich nicht bereit bin, zu ringen. Für mich sind bei den Reizthemen die Argumente der kirchlichen Tradition plausibler als die der Kritiker. Mir wird da vieles zu oberflächlich verhandelt. Ich habe manchmal den Eindruck, dass es schon bei den anthropologischen Grundannahmen sehr stark auseinandergeht. Religionsfreiheit ist in der Tat richtig benannt, aber auch da bleibt es bei der Verpflichtung, nach der Wahrheit zu suchen. Gewissensfreiheit hieß ja nie oberflächlich Freiheit vom Gewissen, sondern die Achtung vor einem Gewissen, das in Freiheit nach der Wahrheit sucht. Das war in der Tat auf dem Konzil ein Schritt. Aber die genannten Reizthemen begleiten die Kirche doch von Anfang an. Und meinen Sie, es ist ein Zufall, dass sie in den Ländern am stärksten diskutiert werden, in denen der Glaube am meisten an Kraft eingebüßt hat?
Der aus dem Münsterland stammende katholische CDU-Bundestagsabgeordnete Jens Spahn erklärt: Ich bin Geschöpf Gottes, er hat mich gemacht, wie ich bin. Ich habe mir das nicht ausgesucht. Die Homosexualität in Partnerschaft zu leben, ist demnach der Wille Gottes, es gehört zur Schöpfung dazu.
Oster: Nein, das sehe ich anders. Gott hat uns nicht gemacht, wie wir sind. Wir leben in einer gebrochenen Welt, wir sind nicht einfach so, wie Gott es gewollt hat. Er will aber, dass wir durch die Erfahrung der Erlösung seinem Sohn ähnlicher werden! Und das ist niemand von Anfang an. Und ein solcher Weg der Reifung, oder christlich: der Heiligung, schließt Liebesfähigkeit und Sexualität ein, nicht aus. Deshalb ist bei keinem Menschen der momentane Zustand seiner Sexualität gottgewollt. Egal, wie er orientiert ist. Beziehungsfähigkeit und damit Sexualität ist immer auch Aufgabe, Reifungsaufgabe.
Die naturwissenschaftliche Forschung geht aber doch in weiten Teilen davon aus, dass Homosexualität eine Veranlagung ist und keine durch Prägung erzeugte Neigung.
Oster: Sexualität hat aber immer etwas zu tun mit meinem Verhältnis zu mir selbst, zu meiner eigenen Leiblichkeit, mit meinem Verhältnis zur Welt und wie ich vermittels des Leibes mit der Welt kommuniziere. Das ist immer etwas, was wird, was sich entfaltet, was Teil meines Weges als Mensch ist, was also nicht fix und fertig da ist. Soweit ich sehe, ist die Entstehung von sexueller Orientierung ein sehr komplexes, von vielen Einflüssen geprägtes Phänomen. Es ist jedenfalls nicht so einfach, wie wir meist pauschal annehmen. Und noch einmal: Kein Mensch ist darin ganz heil. Sie nicht, ich nicht. Niemand. Jeder ist da erlösungsbedürftig – und bleibt es auch.
Aber wieso kann ein homosexuell veranlagter Mensch dann nicht nach einem heileren Leben in dieser Welt suchen? Gehören Partnerschaft und Sexualität zu seinem Menschsein nicht dazu?
Oster: Ich bin nicht der Richter von irgendjemandem – schon gar nicht von aufrichtigen Gewissensentscheidungen eines Einzelnen. Ich glaube aber grundsätzlich, dass die katholische Anthropologie in der Tiefe mit dem, was sie sagt, recht hat. Und die besagt, dass ausgelebte Sexualität im Grunde ausschließlich in eine Ehe zwischen einem Mann und einer Frau gehört. Das gilt auch für alle anderen, das heißt für jeden, der – aus welchem Grund immer – nicht in einer Ehe leben kann oder will. Freilich: Wir kennen als Christen durch unseren Glauben ein Lebensmodell des Verzichts, das auf Gott ausgerichtet ist und in tiefen Frieden führen kann. Dass es das gibt, glaubt aber in der modernen Gesellschaft kaum noch jemand. Das ist ein echtes Problem.
Zur Jugendsynode im kommenden Jahr wollen einige diese Themen in Rom zur Sprache bringen. Stört Sie das?
Oster: Ich glaube, die Diskussionen werden anders laufen. Grundlegende Veränderungen bei diesen sogenannten „Reizthemen“ wird es aus meiner Sicht nicht geben. Die Synode steht unter dem Titel „Jugend, Glaube, Berufungsunterscheidung“. Der Papst hat den Wunsch, dass wir Jugendlichen helfen, ihre Berufung zu finden. Jeder Mensch hat eine Berufung. Und es klingt ein jesuitisches Motiv in dieser Themenstellung an: Unterscheidung der Geister.
Was erhoffen Sie sich denn von der Synode?
Oster: Zunächst ist es gut, dass die Jugend wirklich in den Blick kirchlichen Lebens kommt. Weltweit. Dann: Wir müssen neu nachdenken über Glaubensvermittlung, über den Suchprozess zum Glauben und zur eigenen Berufung. Wir gehen noch zu oft davon aus, dass der junge Mensch seinen Weg in die Kirche irgendwie findet über die klassischen Sozialisationsprozesse: Kindergarten, Schule, Kommunionunterricht, Jugendgruppe – und am Ende ist er gläubig. Das stimmt aber schon lange nicht mehr. Wie helfen wir heute jungen Menschen, die kritisch fragen, die Geister zu unterscheiden, nach der Wahrheit zu suchen? Wir haben da für die normale Pfarrei noch nicht allzu viele Antworten.
Was brauchen wir?
Oster: Ich glaube, eine wichtige Frage ist die Vermittlung von relevanten Inhalten. Wo in unserer normalen Pfarrei werden jenseits der Predigt Inhalte vermittelt, Glaubensinhalte – bei denen es zum Beispiel um die Frage nach dem Heil geht? Für mich steht im Mittelpunkt: Wer ist Jesus Christus? Wie wollen wir Christen sein, wenn wir dieser Frage nicht immer wieder nachgehen? Und da müssen wir auch selbstkritisch sein. Die Berufsgruppen, die im Neuen Testament am schlechtesten wegkommen, sind die Berufstheologen, die Schriftgelehrten, die Gesetzeshüter, die Pharisäer, die Hohenpriester. Das trifft alles irgendwie auch auf mich zu. Und am Ende geht es bei allem immer wieder um die Frage: Wo hast Du Dein Herz? Liebst Du mich? – fragt Jesus.
Woher rührt Ihre große Skepsis der Theologie gegenüber?
Oster: Wer ist der Herr? Das ist die entscheidende Frage. Ich habe manchmal den Eindruck, dass in unserer Theologie diese Frage aus dem Blick gerät. So wichtig mir der intellektuelle Austausch ist und das Verstehen, manchmal scheint mir die Theologie den Blick auf Jesus eher zu verstellen als ihn offenzulegen. Der Jesus des Evangeliums ist sehr wuchtig, die Theologie schiebt dann Schicht um Schicht zwischen mich und Jesus, noch eine Perspektive und noch eine Sichtweise. Dann ist die Gestalt, um die es geht, ungefährlich weit weg. Das Neue Testament ist eben nicht in erster Linie für Theologieprofessoren geschrieben worden, sondern für Menschen, die Gott suchen.
Kern der Auseinandersetzung ist aber doch, ob der Weg der Gottsuche feststeht, fixiert ist – oder nicht. Und spätestens in der Moderne ist der Weg eben nicht mehr eindeutig navigierbar. Die Suche muss offen bleiben, das Lehramt aber will sie festzurren, so der Vorwurf.
Oster: Wir zurren doch nicht die Suche fest, aber wir haben einen gemeinsamen Glauben! Es gibt ein Ankommen bei Christus. Wir müssen deshalb darüber reden, was Kirche ist. Ich will nicht, dass die Kirche sonntags einfach nur voll ist, damit sie voll ist. Ich will, dass die Menschen dort Jesus begegnen, weil er dort schon da ist. Es geht eben nicht nur um die Suche als Suche, sondern auch ein um ein Ankommen-Können. Paulus etwa bleibt auch immer auf der Suche, folgt seiner Sehnsucht – und dennoch geht es ihm immer um Christus. Um das Geheimnis Christi, um das In-Christus-Sein, der immer schon da ist und den Paulus schon kennt.
Was aber ist Ihre Antwort auf die Moderne? Sie haben zunächst Philosophie studiert, erst später Theologie. Wie verläuft da Ihr Weg durch das Denken des skeptischen Zeitalters?
Oster: Mein philosophischer Lehrer Ferdinand Ulrich hat mir da die Augen geöffnet. Er war tief gläubig, aber hat wenig über Jesus gesprochen. Er hat mir die Philosophie erschlossen, er hat mir zum Beispiel Friedrich Nietzsche erklärt, als ob es das Denken eines noch ungetauften Bruders wäre: ganz nah, aber doch auch unterschieden. Aber woraufhin zielt Nietzsche im Grunde, in der Tiefe? In Christus ist letztlich die Antwort auf alles, das habe ich gelernt. Dann konnte ich Hegel oder Kierkegaard lesen, Nietzsche oder Foucault und merken: Viele sind da nah dran, von allen kann man lernen. Aber ich merkte auch, was ihnen fehlt. Der Zarathustra von Nietzsche ist ja fast eine Jesus-Gestalt, wenn da nicht beispielsweise im Weg stünde, dass er „kein Empfangender“ sein kann.
Aber worin liegt nun Ihr Widerspruch zur Theologie?
Oster: Es ist kein Widerspruch an sich. Ich bin doch selbst Theologe. Aber ich erwarte von Theologieprofessoren, dass sie in gewisser Weise auch schon Angekommene sind. Das heißt nicht, dass ich die Suche nicht verstehen würde, und dass die Suche nicht weitergehen müsste. Aber die Mitte, um die es geht, die muss schon da sein, eben weil sie in der Kirche schon real da ist, das erwarte ich; diese Bezugnahme – und mit ihr eben das Stehen in dieser – wenn man so sagen will – kirchlich-eucharistischen Realität, das erwarte ich.
Eine gewisse Skepsis gegenüber der Theologie teilen Sie vielleicht mit Papst Franziskus. Die Debatte um ihn nimmt scharfe Züge an. Wie beurteilen Sie das Pontifikat?
Oster: Vor allem ist er der Papst, den uns der Heilige Geist mit ausgesucht hat. Ich glaube, dass Papst Franziskus der Kirche sehr gut tut. Er ist Ordensmann. Ich habe daher als Ordensmann oft großes Verständnis für seine Haltung und die vielen großartigen Zeichen, die er setzt. Er ist eine tiefe geistliche Persönlichkeit, die sich intensiv mit der Heiligen Schrift auseinandersetzt und aus dem Gebet lebt – und zwar zugleich ganz in der Welt von heute. Das ist sehr schön. Manchmal habe ich bei dem, was er tut und sagt, Fragen, aber das soll und darf auch so sein.
Was ist Ihre wichtigste Frage?
Oster: Ich höre manchmal eine Skepsis gegenüber der dottrina, also gegenüber der Theologie heraus oder besser, gegen die Überbetonung einer bestimmten Art von dottrina, die ihm womöglich unfruchtbar scheint. Und ich kann, glaube ich, sehen, was er meint. Es ist ja wahrlich nicht leicht, bestimmte Inhalte unserer Überlieferung so in das Leben der Menschen von heute hineinzusprechen, dass sie fruchtbar werden. Aber ich sage das mit großer Vorsicht und als Frage. Der Papst ist der Papst und er ist für mich ein großer Lehrer, vor allem im geistlichen Leben und in der Pastoral für die Welt von heute – und beides ist ja nie einfach von der Theologie getrennt.
Liegt da nicht eine Pendelbewegung vor? Nach einer Überbetonung der Doktrin kommt nun mit Papst Franziskus der Ausschlag in die andere Richtung?
Oster: Das kann sein, aber ich denke, es gibt am Ende viel mehr Einheit zwischen Benedikt und Franziskus als Differenz – wenn Sie das meinen. Jesus sagt ja: Ich bin die Wahrheit. Das heißt, die Wahrheit ist hier nicht irgendetwas Abstraktes, was mit der Lebenswirklichkeit nichts zu tun hat. Er ist die Wahrheit, die Fleisch geworden ist – also mitten hinein in unser Leben, er ist die Wahrheit, die Leben und Geschichte erneuert und ihr Sinn gibt. Und deshalb ist es auch nicht einfach umgekehrt: Der Lauf der Welt oder der viel beschworene Zeitgeist verändert nicht einfach das Evangelium. Aber sie geben dem einen Evangelium immer wieder ein anderes Aussehen, eine andere Farbe, eben für die jeweilige Zeit – und womöglich neue Tiefe, gewissermaßen ein neues Zu-sich-selbst-kommen des Christlichen –, aber eben auch ein Sich-unterscheiden-können und -müssen von der Welt.
Nun ist doch gerade das Auseinanderklaffen von Lehre und Lebenswirklichkeit das Problem der Kirche. Das Pharisäerhafte und Heuchlerische hat sich teilweise bis zum Klischee in die Kirche und bisweilen auch ins Priesterbild eingeschrieben. Muss nicht erst einmal die Glaubwürdigkeit wiedergewonnen werden?
Oster: Deswegen glaube ich, dass das Thema Heiligkeit stärker in den Blick kommen muss. Diese Spannung zwischen Wahrheit und Freiheit oder Wahrheit und Barmherzigkeit gibt es überall, auch in meinem Leben. Wenn Sie auf Jesus schauen, dann stellen Sie fest, wie unerbittlich er manchmal ist. Gegen die Heuchler, gegen die Pharisäer etwa, ist er unerbittlich. Jesus ist aber auch unfassbar demütig, liebend, hingegeben. Und beides, diese Unerbittlichkeit und diese Demut, erleben wir bei ihm nicht als Widerspruch – weil es Heiligkeit ist.
Aber ist das nicht die Idee des päpstlichen Schreibens „Amoris Laetitia“, Wahrheit und Barmherzigkeit zu integrieren?
Oster: Ja, ich hoffe. So habe ich Papst Franziskus gelesen. So habe ich auch die Konzilstexte interpretiert, als ein Ringen um das rechte Verhältnis von Doktrin und Pastoral, von Wahrheit und Barmherzigkeit, im Konzil etwa auch in der Einheit von den Texten „Lumen Gentium“ – über die Kirche – und „Gaudium et spes“ – über die Kirche in der heutigen Welt.
Nehmen Sie den BDKJ mit nach Rom?
Oster: Ich weiß noch nicht, ob ich überhaupt jemanden mitnehmen darf. Aber ich habe nichts gegen den BDKJ, wenn Sie das meinen.
Wie blicken Sie auf den Konflikt mit dem BDKJ zurück? Sie haben dem BDKJ eine Lightversion des Evangeliums vorgeworfen. Das hat für Ärger gesorgt. Jesus als Karikatur, so war Ihre Formulierung.
Oster: Es ging mir nie um eine Pauschalkritik an den Verbänden. Ich habe mich mit dem Papier „Theologie der Verbände“ auseinandergesetzt. Manches gewürdigt, anderes kritisiert. Einige der Jugendlichen haben das wertgeschätzt, dass sich mal ein Bischof überhaupt so intensiv mit den BDKJ-Texten auseinandersetzt und nicht nur ein wohlfeiles Grußwort spricht.
Was haben Sie aus dem Konflikt gelernt?
Oster: Manche haben mich nicht gekannt und haben sich verletzt gefühlt. Ich wollte keine Verletzungen erzeugen, sondern Debatte. Der BDKJ ist ja sonst auch nicht konfliktscheu. Ich will die Diskussion, die Herausforderung. Ich habe zu weiteren Gesprächen eingeladen und hoffe, dass diese bald stattfinden. Wenn es bei der Polarisierung bliebe, wäre das verkehrt, aber wenn sie Motor für echtes Gespräch ist, ist es gut. Ich will auch keine Uniformität. Zugleich geht es für mich um die Wahrheitsfrage, von der kann ich niemanden dispensieren. Wir haben uns immer neu dem Evangelium zu stellen – dem ganzen Evangelium und nicht einer bevorzugten Auswahl daraus.
Die Verbände wollen das Thema Frauenpriestertum mit auf die Synode tragen. Die Debatte ist durch einen Beitrag des Münsteraner Dogmatikers Michael Seewald in der Herder Korrespondenz neu belebt worden. Im Raum steht der Verdacht, die Kirche hat im Kern den Paradigmenwechsel der Gleichberechtigung der Frau nicht vollzogen.
Oster: Bei den Geschlechterrollen gibt es einen Wandel, aber nicht alles daran ist fundamental. In das Geheimnis von Schöpfung und Erlösung aber gehört hinein, dass Jesus ein Mann war, er stellt sich im Evangelium als der Bräutigam vor. Maria wiederum ist das Urbild der Kirche. Die Kirche ist insgesamt eine Frau, Braut Christi. Wie feiern in der Eucharistie das Hochzeitsmahl des Lammes. Die Tatsache, dass Christus ein Mann ist und Maria als Urbild der Kirche eine Frau, ist also nicht nur ein biologischer Zufall. Deswegen kann derjenige, der in Persona Christi das Hochzeitsmahl des Lammes feiert, keine Frau sein. Aber dass Frauen in der Kirche ausgegrenzt wurden, dass sie Unterdrückung erfahren haben, das ist eine Sünde der Kirche, das geht nicht. Das gab es und gibt es.
Wenn die Frau das Urbild der Kirche ist und deswegen alle Macht, alle Gestaltungskraft in der Kirche von den Frauen wahrgenommen würde, lediglich das eucharistische Mahl den Männern obläge, wäre das dann vielleicht theologisch verständlicher?
Oster: Hier mit der Machtfrage zu beginnen, ist aus meiner Sicht schon Ausdruck unserer Gebrochenheit. Wir sollen nicht fragen: Wer darf was machen, und wer nicht, sondern was will der Herr von uns? Aber es stimmt natürlich, dass sich immer wieder sündige Strukturen in der Kirche gebildet haben, auch als Missbrauch von realer Macht. Der Vorbehalt des Priestertums für Männer gehört vom Grundsatz her nicht in diese Strukturen – das ist lehramtlich geklärt –, wohl aber in mancher Form der realen Ausübung des Amtes durch Männer.
Haben Sie Angst vor einem Schisma in der katholischen Kirche?
Oster: Nein, sicher nicht. Der Herr führt seine Kirche. Ich habe vielmehr Befürchtungen vor den Folgen eines nur mehr oberflächlich, substanzlos gelebten Christentums.
Sie wollen die Sehnsucht wecken. Haben Sie persönlich noch einen Sehnsuchtsort, den Sie anstreben?
Oster: Das letzte Mal, als ich im Heiligen Land war, da war ich noch ein sehr junger Mann, der sich naturgemäß mehr für junge Frauen interessiert hat als für den Herrn Jesus. Vielleicht kann ich da noch mal hin. Aber eigentlich ist mein Sehnsuchtsort mehr die Kirche selbst, und das ist für mich im Augenblick genau hier: der Platz vor oder im Stephansdom von Passau. Ich hoffe, dass hier – und überall im Bistum – immer mehr Aufbrüche passieren und viele Menschen wahrhaftig Gott suchen und den Glauben feiern. Hoffentlich hier auch, damit das da draußen nicht nur ein Parkplatz bleibt. Ja: Hier bin ich angekommen. Ich bin im Grunde daheim.