Psalmen sind Gebete, Gedichte und Lieder. Sie werden gebetet, rezitiert und sie werden gesungen. Wie kein anderes biblisches Buch wurde das Psalmenbuch immer wieder übersetzt und hat Theologen wie Dichter inspiriert, das Ineinander von Gedicht, Gebet und Lied genauer zu verstehen. Mit dem Buch „Psalmen“ (S. Fischer 2017) schreibt der Lyriker
Uwe Kolbe sich nun auf sehr beeindruckende Weise in diese Tradition ein. In Ostberlin 1957 geboren, wurde er wie die meisten Bürger der DDR atheistisch sozialisiert. Dieser Atheismus aber ist für Uwe Kolbe nicht das letzte Wort, und er macht sich daran, seine eigenen Psalmen zu schreiben.
„Hier sind meine Psalmen, Lieder nach alter Art, Gebete, hier kommen sie, die sind es, die habe ich gemacht. / Aber es sind keine Lieder geworden – singe, so singe sie doch –, wohl auch nicht recht Gebete” (7).
Uwe Kolbe setzt sich den biblischen Psalmen aus, studiert sie und lässt sich von ihnen inspirieren. Aber nach dem Atheismus seines bisherigen Lebens gesteht sein Psalm ein, dass ihm Gott und mit ihm der Ton fehlt.
„Das Lied ohne Gott ist tonlos, / es langweilt sich bei sich selbst /und seine Sänger schlafen ein. (…) Das Lied ohne dich ist tonlos, / Herr, dies ist mein Psalm“ (12).
Im Geleitwort seiner „Psalmen“ nennt Uwe Kolbe sich einen „Ketzer der Liebe“, einen „Heiden“ und einen Dichter, der bislang nicht nur die Poesie an die Banalität, sondern vor allem den Kinderglauben verraten hat:
„Dies sind Psalmen eines Heiden, der Gott verpasste, weil keiner bei dem Kinde ging, der sagte, hörst du die Stimme? (…) / So sind diese hier genau genommen Ketzer-Psalmen. / Weil ich den Kinderglauben verraten habe, der zum Gespött wird in den Straßen der Stadt, der immer und überall verlacht wird, der Glaube des Kindes. Während er doch besteht und groß ist und die Dummheit und die Dreistigkeit überlebt und die Bedrohung durch Nichtigkeit“ (9).
Der Verrat am Kinderglauben, aber auch das Vertrauen auf seine Unzerstörbarkeit sind der dunkel-lichte Grund dieses Buches, dessen „tonlose Psalmen“ noch die Bitte vorbringen, dass endlich ein Singen anhebt und sich der Weg zum Leben öffnet:
„Noch singe ich nicht, ein Stammler der Liebe, ich bitte dich, lasse / mich sehen den Weg / und singen dein Lied” (11).
Uwe Kolbes Psalmen sind durchwirkt mit vielen Stimmen der Tradition (Martin Luther, Andreas Gryphius, Martin Buber, Paul Celan u.a.) und führen ihren Leser ein in die Zusammenhänge von Epiphanien, verschwindenden Bildern und rettenden Worten, in das Erstaunen der Morgenfrühe und den Stimmenzauber der Tageszeiten, in die vielen Weglosigkeiten und die Verheißungen des Wohnens. Sie erinnern an das Ineinander von Glück und Abgrund in jeder Liebe und an das unlösbare Band von Leben und Literatur. Dass der Grund des Lebens ein „überschüssiger“ und „musikalischer“ Grund ist, wird dem Leser nach und nach ebenso klar wie ihm die Ahnung dämmert, dass eine Dichtung ohne Gottes Wort und Stimme ihre angemessene Form und Schönheit nicht findet.
Noch nicht Gebet und noch nicht Lied verdienen diese in ihrer kunstvollen Tonlosigkeit zerbrechlichen Psalmen einen ebenso scheuen wie mutigen Leser, dessen flüsterndes Lesen das noch Matte und Stimmlose dieser Psalmen akzentuiert wie gleichzeitig ihr banges Lauschen auf die erlösende Stimme Gottes. Von Gott allein und von seinem Wort wird in diesen „tonlosen Psalmen” erhofft, dass sich die Gedichte zu Liedern und Gebeten verwandeln.
Auch der gläubige Beter kennt die Gebetsnot. In den Formen der Klage wie im Loben. Hier muss – wie beim Musenanruf des Dichters (Homer, Klopstock) – die Seele des Beters einspringen, um das Lob Gottes zu erwirken: „Lobe den HERRN, meine Seele! / HERR, mein Gott, du bist sehr herrlich; du bist schön und prächtig geschmückt“ (Psalm 104). Uwe Kolbe erinnert an diese Tradition. Sein „singe, so singe sie doch“ aber wendet sich nicht mehr an die Muse des Dichters oder an die eigene Seele, sondern allein an Gott.
Wer die Bücher von Arnold Stadler und Christian Lehnert schätzt, wird nun Uwe Kolbe lesen müssen, und er wird reich beschenkt. Vielleicht auch mit der Einsicht, dass der verloren geglaubte Kinderglaube sich nicht verlieren lässt. Uwe Kolbe schließt sein Psalmenbuch mit einer reifen und kindlichen Bitte: „Lass nur den Weg mich, der noch bleibt, an deiner Hand zu Ende gehen.“ Wir leben auch dann noch aus unserem Kinderglauben, wenn wir ihn verraten haben und zu ihm zurückwollen.