Der Bote ist nicht so wichtig, auf die Botschaft kommt es an. Das gilt zumindest so für den Islam, ganz im Unterschied zum Christentum, wo – nach Marshall McLuhan – das Medium bekanntermaßen selbst die Botschaft ist. Mohammed war hingegen nur Empfänger der göttlichen Offenbarung, die im Koran niedergelegt ist. Entscheidend ist, diese zu rezitieren, um mit dem Göttlichen in Beziehung zu treten. Mit Recht verwahren sich die Gläubigen dieser Weltreligion heute deshalb auch dagegen, analog zur Bezeichnung „Christen“, „Mohammedaner“ genannt zu werden.
Dennoch zeigt sich an den aktuellen Diskussionen über den Islam, dass man nicht einfach von der Gründerfigur dieser Religion absehen kann. Ganz unabhängig davon, wie groß man den Einfluss christlichen Denkens auf diese Entwicklung einschätzen mag: Leben, Reden und Wirken eines Zeugen Gottes ist für die Glaubwürdigkeit der Botschaft nicht unerheblich.
Das gilt auch ganz unabhängig davon, dass es im islamischen Raum auch Gegenbewegungen gibt, die den Einfluss des Christentums widerspiegeln. Nicht nur in der Türkei wird inzwischen vermehrt auch der Geburtstag des Propheten gefeiert. Weihnachten als das größte Fest weltweit lässt grüßen.
Doch angefangen von den ersten Jahrhunderten muslimischer Zeitrechnung bis heute ist die Bedeutung des Propheten mehr als umstritten. Allein der Streit zwischen Sunniten und Schiiten, deren Uneinigkeit über die Rolle des Schwiegersohns Ali auch Konsequenzen für die Sicht auf Mohammed hat, ist hier ein beredtes Beispiel.
Dabei ist das Spektrum der Interpretationen noch größer. Einerseits wird Mohammed als Sozialrevolutionär gefeiert, andererseits wegen der gelebten Polygamie gescholten. Hier ist er der Asket, dort der Lüstling, zum einen der Bote der Liebe Gottes und zum anderen Gewaltverherrlicher und Kriegstreiber, der als Anführer eines Wüstenstamms von Medina aus die Weltherrschaft angestrebt hat.
Es gibt kein allgemein akzeptiertes Mohammed-Bild
Offenkundig hat man sich angesichts dieser schillernden Persönlichkeit auch auf Seiten der katholischen Kirche immer schon mit der Person des Propheten schwer getan. Es gibt keine lehramtlichen Aussagen über Mohammed. In den Sechzigerjahren drängte der große Vermittler im islamisch-christlichen Dialog, der Dominikaner Georges Anawati, darauf, dass sich die katholische Kirche auch einmal offiziell zu seiner Rolle äußern solle.
In der Erklärung über das Verhältnis der katholischen Kirche zu den nicht-christlichen Religionen des Zweiten Vatikanischen Konzils ist dann zwar die Rede von der „Hochschätzung“, die man dem Islam entgegenbringen müsse (Nostra Aetate, Nr. 3). Über den Propheten selbst aber schweigt man sich aus.
Auf der Cibedo-Werkstatt Ende Oktober in Frankfurt standen diese äußerst disparaten Deutungen des Propheten jetzt im Mittelpunkt. Cibedo, die Fachstelle der Deutschen Bischofskonferenz für den islamisch-christlichen Dialog, versteht ihre jährlich veranstaltete Werkstatt ausdrücklich als ein katholisches Forum zur Entwicklung einer heute möglichen, aber auch notwendigen „Theologie im Angesicht des Islam“. 2012 hat das erste Treffen stattgefunden, man ist seitdem ständig gewachsen, zuletzt waren es rund 50 katholische Islamwissenschaftler und Theologen, darunter viele Islambeauftragte der deutschen Bistümer, die sich intensiver mit dem Islam als auch aus christlicher Perspektive wichtigem Thema auseinandergesetzt haben.
Das Problem, so wurde in Frankfurt abermals deutlich, besteht nicht zuletzt darin, dass die ersten Prophetenbiografien wie etwa von Ibn Ishaq rund 200 Jahre nach seinem Tod entstanden sind, es bis dahin also nur eine mündliche Überlieferung gab. Das hat faktisch zur Konsequenz, dass jeder Versuch, sich Mohammed historisch-kritisch zu nähern, an Grenzen stößt, weil alle Quellen Teil der religiösen Wirkungsgeschichte sind – was freilich im Christentum nicht wesentlich anders ist. Mit Blick auf den Islam gibt es eine dem Christentum vergleichbare Herausforderung der intellektuell redlichen Annäherung an die eigene Gründerfigur, die die christliche Theologie im Rahmen der „Leben-Jesu-Forschung“ und der Diskussionen über sie seit dem 19. Jahrhundert zu begegnen versucht hat.
Der Islam-Wissenschaftler Armin Eschraghi, der unter anderem an der Universität Frankfurt lehrt, widmete sich ausdrücklich der Frage, wie man das Verhältnis zwischen dem „historischen Muhammad“ und dem „Muhammad des Glaubens“ beschreiben könne. Der Koran, der hauptsächlich von seiner liturgischen Verwendung her verstanden werden müsse, sei jedenfalls nur eine unzureichende Quelle, um im Streit über die Deutung Mohammeds zu entscheiden. Dabei gebe es nur eine kleine Gruppe von Forschern, die die Historizität des Religionsstifters selbst in Frage stellten, wie dies der konvertierte muslimische Theologe Muhammad Sven Kalisch getan hatte, bevor er seinen Lehrstuhl an der Universität Münster abgeben musste. Aber auch jene, die im Rahmen alternativer Erklärungsmodelle den Islam lediglich als christliche Sekte sehen (Patricia Crone, Karl-Heinz Ohlig und der Forscher mit dem Pseudonym Christoph Luxenberg), haben keine Breitenwirkung gewonnen, weil ihre Ergebnisse selbst auf Spekulationen basierten. Auch wenn es eine tendenziöse Ausgestaltung der Figur Mohammeds gegeben habe, könnten die Grundlinien seines Lebens und Wirkens als gesichert gelten.
Bemerkenswerterweise sei der Volksislam vielfach vom mystischen Sufismus geprägt, der Mohammed als spirituellen, asketischen Führer gezeichnet habe, was dann auch poetisch überhöht worden sei. Viele Muslime seien deshalb selbst überrascht, wenn sie im Koran und der Prophetenbiographie, der Sira, über Mohammed und sein Handeln als Stammesanführer lesen. Gerade hieraus ergebe sich dann ein Problem, wenn Salafisten in fundamentalistischer Lesart Stellen zitierten, die durchaus anerkannten Autoritäten zugeschrieben werden. Die Mohammed-Biographie des wesentlich religionskritisch inspirierten Hamed Abdel-Samad ist da nur das Spiegelbild (vgl. Mohamed. Eine Abrechnung, München 2015).
Demgegenüber gibt es in der derzeitigen deutschsprachigen islamisch-theologischen Literatur über Mohammed (vgl. etwa: Yaşar Sarıkaya, Muhammad. Ein Prophet – viele Facetten, Berlin 2014) einen zweiten Pol, der ganz um den Begriff der Barmherzigkeit kreise, wie Nora Kalbarczyk, bisher wissenschaftliche Mitarbeiterin von Cibedo und jetzt innerhalb des Katholischen Akademischen Ausländer-Diensts (KAAD) für die Region des Nahen Ostens zuständig, aufzeigte. Das trifft nicht nur auf Mouhanad Khorchide zu, dessen Ansatz mehr auf Gott als Allbarmherzigen und Allerbarmer zielt, Mohammed dabei gar nicht so sehr im Blick hat (vgl. Islam ist Barmherzigkeit, Grundzüge einer modernen Religion, Freiburg 2012). Noch weitergehender sieht Yaşar Sarıkaya, Professor für islamische Theologie und ihre Didaktik an der Universität Gießen, Mohammed geradezu als Verkörperung der göttlichen Barmherzigkeit. Er betrachtet dabei vor allem den Koran, weniger die Sira. Mohammed werde geradezu ein „Freudenbote“, das seiner Frohen Botschaft zugrundeliegende Prinzip sei die Liebe Gottes. Er sei letztlich sogar der Grund für die Erschaffung der Welt; die Sira-Tradition müsse ganz in diesem Sinne gelesen werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung Khorchides, dass Mohammed nur als Gesandter Gottes unfehlbar sei, aber als Staatsoberhaupt, wie er später in Medina konkret gewirkt habe, nicht vor Irrtum gefeit gewesen sei. Nicht in jeder Hinsicht habe er deshalb eine Vorbildfunktion.
Daneben gibt es den Ansatz von Mark Chalîl Bodenstein, Professor für Kultur und Gesellschaft des Islam in Geschichte und Gegenwart an der Universität Frankfurt, der von Mohammed als einer Art Sozialrevolutionär die Gleichheit aller Menschen und Gerechtigkeit für sie fordert. Er knüpft damit an die befreiungstheologische Perspektive des Südafrikaners Farid Esak an. Andere wiederum sehen in Mohammed den Feministen, der angesichts der damals herrschenden Umstände auf die Rechte von Frauen aufmerksam gemacht hat. So habe Mohammed die Polygamie eingeschränkt, sich gegen die Tötung von weiblichen Neugeborenen gewendet, Gewalt gegen Frauen kritisiert und Frauen das Zeugnisrecht gegeben, wenn auch jeweils noch nicht in dem Umfang, der uns heute als Ausdruck von Gleichheit geboten ist. Die Frauenfeindlichkeit innerhalb des Islam habe sich dann leider durch die geschichtlichen Entwicklungen, konkret die sassanidischen und byzantischen Rechtssysteme wieder verstärkt.
Der Jesuit Christian Troll, Vorreiter des christlich-islamischen Dialogs in Deutschland, wies angesichts dieses Panoramas auf das Desiderat hin, dass selbst die Sunniten noch kein allgemein akzeptiertes Mohammed-Bild entwickelt haben. Angesichts der Diskrepranz der Interpretationen Mohammeds, die unterschiedlicher nicht sein könnten, gebe es eine innere Not für katholische Theologen, bekannte auch Tobias Specker, Inhaber des Stiftungslehrstuhls „Theologie angesichts des Islam“ an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen. Wie kann man ehrlich, also sowohl mit Blick auf die Fakten als auch auf die muslimische Gemeinschaft, aber auch mit Blick auf die eigene Redlichkeit über Mohammed reden, ohne in eine Apologetik zu verfallen?
Der Leiter von Cibedo, Timo Aytac Güzelmansur, erinnerte vor diesem Hintergrund daran, dass vom Zweiten Vatikanischen Konzil über Johannes Paul II. bis zu Franziskus die Überzeugung innerhalb der katholischen Kirche vorherrscht, dass sich auch im Islam als Weltreligion Spuren der göttlichen Wahrheit finden lassen, im Islam wie in den anderen Weltreligionen der heilige Geist wirke.
Kann Mohammed aber etwa vergleichbar den alttestamentlichen Mahnern oder auch entsprechenden Figuren im Neuen Testament als „Prophet“ verstanden werden (vgl. Anja Middelbeck-Varwick u.a. [Hg.], Die Boten Gottes. Prophetie im Christentum und Islam)? Sind „nachchristliche“ Propheten theologisch überhaupt denkbar? Angesichts dieser Fragen waren schließlich die Überlegungen des Potsdamer Religionswissenschaftlers Johann Evangelist Hafner besonders reizvoll, wie man die Person Mohammed aus einer dezidiert christlichen Perspektive theologisch würdigen könne. Ausdrücklich, so Hafner, dürfe man aus Gründen der Fairness nicht nur auf den historischen Mohammed schauen, sondern müsse auch den Mohammed des Glaubens berücksichtigen. Immerhin könne man, wie Hans Küng und Reinhard Leuze dies getan hätten, Mohammed zugute halten, dass er ähnlich den alttestamentlichen Propheten willensstark und von seiner Sendung durchdrungen den Gehorsam gegenüber dem einen Gott gegen einen Vielgötterglauben eingefordert habe. Die Frage sei dann allerdings, wie man Mohammed von anderen formal durchaus vergleichbaren Phänomenen, etwa von Joseph Smith, dem Gründer der Mormonen, abgrenzen könne.
Hafner versuchte, jene Linie auszuziehen, die den Islam als Sammlungsbewegung im Nahen Osten interpretiert angesichts einer Zersplitterung der monotheistischen Religionen Judentum und Christentum in verschiedene Gruppierungen. In den ersten Jahrhunderten waren die Christen kontinuierlich damit beschäftigt zu klären, was als christliche Häresie gelten müsse – und was als christliche Lehre, nachdem die Reflexionen über die Person Christi nicht von Anfang an der Kern des christlichen Bekenntnisses gewesen seien. Hier könne man Mohammed als jemanden profilieren, der die Ausrichtung auf Gott wieder ins Zentrum rücken wollte, so wie schon der Prozess der christlichen Kanonisierung einer zu großen Vielfalt der Deutungen Einhalt gebieten wollte.
Mohammeds Verkündigung wäre dann in der Reihe solcher „Vereinfachungen“ zu sehen – zumal sich diese Vielfalt im polytheistischen Umfeld in Mekka noch stärker als Problem zeigte. Ist mit dem Rückbezug auf Abraham nicht die Spaltung in jüdische und christliche Gemeinden überwunden? Als (Re-)Visionär hätte Mohammed dann eine Rückbesinnung auf die Basisimpulse des Judentums und des Christentums hingearbeitet: den Monotheismus.
Daneben sei auch eine weitere Annäherung im „visionsfreundlicheren“ Katholizismus über die Vorstellung von „Privatoffenbarungen“ möglich, die nicht zuletzt Karl Rahner zu würdigen gewusst habe. Der Clou dabei sei gewesen, dass man angesichts entsprechender Phänomene auch christlicherseits weiterhin mit Offenbarungen Gottes rechne, die zwar nicht allgemeinverbindlich seien, aber dennoch über den Bereich rein persönlicher Bedeutung hinausgehen, weil sie für alle relevant sein können.
Mohammed hätte dann mit seinen mystischen Erscheinungen den monotheistischen Aspekt der jüdisch-christlichen Tradition betont, im Kern nichts Neues hinzugefügt, sondern auf das Wesentliche hingewiesen. Erklärt werden könne damit zumindest das muslimische Selbstverständnis, dass Gott, anstatt auf – wie nicht zuletzt die Geschichte des Christentums gezeigt hat – missverständliche Zeichenhandlungen seines Boten zu setzen, seinen Willen in einem Buch direkt kundtut.
Übergangen wird damit freilich das wesentlich Christliche, das sich an der Bedeutung der Person Jesu Christi als Sohn Gottes festmacht, auch wenn Jesus von Nazareth innerhalb des Islam seinerseits als Prophet gewürdigt wird.
Hier zeigte sich in Frankfurt, wie virulent die Diskussionen sind, die letztlich erst noch am Anfang stehen. Es macht den Reiz der Cibedo-Werkstatt aus, dass sie dort geführt werden. Zu christlicher Überheblichkeit besteht im Übrigen kein Anlass. Auch im Raum der katholischen Kirche gab es bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil Positionen, die man heute als fundamentalistisch bezeichnen würde. Und selbst heute gibt es weiterhin innerhalb des Christentums Probleme, wenn man etwa Theologen in den Pfingstkirchen oder auch der orthodoxen Kirche mit den Ergebnissen aus dem Mainstream katholischer und evangelischer Bibelforschung konfrontiert.