Glaube und Existenz bei Eugen BiserWie Theologie Leben prägt

Vor genau 100 Jahren wurde der Religionsphilosoph Eugen Biser geboren. Wer war dieser katholische Priester und Nietzscheforscher, der zu den wichtigsten Theologen des 20. Jahrhunderts zählt?

Eugen Biser
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Klein, alt und versunken in einer Ecke sitzend – so konnte man Eugen Biser nach dem Mauerfall an der Humboldt-Universität beobachten. Sieht etwa so der Neuanfang Berliner Theologie aus? Wie kommt ein fast Achtzigjähriger auf die Idee, den Guardini-Lehrstuhl in der Mitte der Stadt neu zu begründen? Solche und ähnliche Stimmen der Kritik gingen mir durch den Kopf, wenn ich beobachtete, wie der Religionsphilosoph langsam zum Pult schritt. Auf diesen Augenblick hatte ich jedoch gewartet. Wenn Biser zu sprechen begann, blickte ich schnell ins Auditorium, um in den Gesichtern der Zuhörer zu lesen – auf denen ging meist eine seltsame Verwandlung vor sich: Auf Verwunderung folgten Erstaunen und Lächeln. Denn was der Theologe zu sagen hatte, schien er plötzlich mit seiner eigenen Existenz zu verkörpern: dass Glaube lebendig macht.

Über Möglichkeiten des Menschseins

Tatsächlich verfügte der am 6. Januar 1918 im badischen Oberbergen geborene Lehrersohn über die markante Eigenschaft, sich von eingeschränkten Möglichkeiten kaum entmutigen zu lassen. Das half ihm nicht bloß auf seinem Weg in die Wissenschaft, sondern vor allem, als der Freiburger Theologiestudent 1939 zur Wehrmacht eingezogen wurde; dort ging es für ihn bald auf Leben und Tod. „In einem unbedachten Augenblick“, berichtete er über seine Zeit als Frontsoldat, „hatte ich mich zu der Bemerkung hinreißen lassen, dass wir in Stalingrad verbluten würden, während Hitler fast gleichzeitig lauthals verkündete, dass er die Stadt mit Stoßtrupps einnehmen werde. Dies trug mir ein Kriegsgerichtsverfahren ein, dem ich bloß knapp entging“. Seine nazistisch dominierte Einheit habe danach jedoch versucht, sich seiner „auf kaltem Weg zu entledigen, indem sie ihn „zweimal zu gefährlichen Außenstellen abordnete, darunter zu einem von der Einkesselung bedrohten Regiment“ (Gott brach sein Schweigen. Ein Gespräch mit Eugen Biser, Hg. Andreas Schaller, München 1999, 16.).

Bei einem solchen Himmelfahrtskommando wurde Biser so schwer verletzt, dass man bereits damit begonnen hatte, seine Kleidungsstücke aufzuteilen. Es fehlte wenig, und der Schwerverwundete wäre im Winter 1942/43 vom Russlandfeldzug nicht mehr heimgekehrt. Aber der Student überlebte die Katastrophe von Stalingrad/Wolgograd nach monatelangem Lazarettaufenthalt, während sein Regiment das Schicksal der etwa 100 000 deutschen Gefangenen teilte, von denen nur eine Hand voll nach Hause zurückkehrte.

Die Konfrontation mit Verblendung, Krieg und Verzweiflung wurde für den 1946 zum Priester Geweihten zur Urszene. Sie machte den Wissenschaftler empfindsam für die Ängste seiner Nächsten und für den Menschen als „Möglichkeitswesen“. Aus der Unheilssituation des homo sapiens, der von allem Anfang an nach Erlösung suche, entwickelte er im Anschluss an Blaise Pascal und Sören Kierkegaard die Grundgedanken seines großen Spätwerks, der „Einweisung ins Christentum“ (Düsseldorf 1997). Danach gebe es einen Ausweg aus existenzieller Lebensangst: „die therapeutische Selbstmitteilung Gottes“, der dem Menschen in Jesus Christus durch die Geschichte hindurch „als Bruder, Helfer und Freund“ entgegentritt.

Wer auf das erste Jahrzehnt nach 1945 zurückschaut, kann zwar einen engagierten Privatgelehrten erkennen, das Kommende aber nicht vorausahnen: Denn die akademische Karriere des späteren Münchner Guardini-Lehrstuhlinhabers schien bereits zu Ende, bevor sie richtig begonnen hatte. Weil dem Kaplan, Krankenhausseelsorger und Gymnasiallehrer ein Promotionsstipendium seines Bischofs verwehrt blieb, verlegte sich Biser darauf, diesen Nachteil in jahrelanger Nachtarbeit auszugleichen. Aber seine mehrfach umgearbeitete Promotionsschrift „Der Kosmos der Tugenden“ scheiterte an akademischen Intrigen, sodass Biser nach eigenen Worten „fast verzweifelnd vor dem Nichts stand“ (Gott brach sein Schweigen, 22). Erst in einem weiteren Anlauf gelang es ihm 1956, mit einem fundamentaltheologischen Thema über Grenzerfahrungen im Werk Gertrud von le Forts promoviert zu werden.

Große Aussagekraft für den Weg des angehenden Gelehrten besitzt ein Brief, der sich im Archiv der Eugen-Biser-Stiftung in München befindet. Darin schreibt er unter dem Datum vom 22. Oktober 1960 an Karl Löwith: „Ihre ebenso entgegenkommende wie hilfreiche Bemühung um meine Arbeit veranlasst mich immer wieder zum Vergleich mit den Umständen, unter denen ich vor vier (!) Jahren meine theologische Promotion, ich muss schon fast sagen, ‚erkämpfen‘ musste.“ In dem Schreiben macht Biser auf den Kontrast zwischen seinem theologischen Doktorvater – Bernhard Welte – und dem Betreuer seiner philosophischen Dissertation – eben Löwith – aufmerksam. Dieser, wegen seiner jüdischen Wurzeln in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt, hatte Biser im Tessin kennengelernt und dem lesenden Priester halb scherzhaft vorgehalten, als Katholik dürfe er doch die indizierten Bände Friedrich Nietzsches gar nicht studieren. Nachdem Biser sich zunächst „recht gewunden“ gerechtfertigt hatte, nutze er einen gemeinsamen Spaziergang, um dem Philosophen seine Auffassungen zu Nietzsche darzulegen. Was folgte, war Löwiths Einladung, bei ihm zu promovieren.

Rückblickend kommentiert Biser die für seinen intellektuellen Werdegang entscheidende Begegnung folgendermaßen: „Ungleich glücklicher [als die theologische] gestaltete sich dagegen meine philosophische Promotion über das Nietzschewort ‚Gott ist tot‘, vor allem dank des generösen Entgegenkommens des jüdischen Nietzscheforschers Karl Löwith, in dem mir zugleich einer der hellsichtigsten Analytiker der gegenwärtigen Lebenswelt begegnete. Obwohl er sich offen zum Atheismus bekannte, behandelte er mich, den katholischen Kaplan, mit Toleranz und großmütiger Hilfsbereitschaft. Ich konnte mich zuletzt dafür in der Form bedanken, dass ich ihm in einem etwas gewagten Ritus die Beerdigung hielt“ (Gott brach sein Schweigen, 22f.).

Im Umgang mit Texten erprobt, konnte Biser seine Arbeit bereits ein Jahr später bei Löwith einreichen. Die Studie wurde unter dem Titel „,Gott ist tot‘. Nietzsches Destruktion des christlichen Bewusstseins“ (München, 1962) publiziert. Darin wird philosophische Radikalität nicht als areligiöse Grenzverletzung angesehen, sondern als spezifische theologische Erkenntnisquelle erschlossen. Um das Verstehen und Mitteilen des Glaubens voranzubringen, urteilt Biser, müsse die Theologie bereit sein, Einsprüche von Andersdenkenden, Agnostikern und Atheisten zu rezipieren.

Bemerkenswert erscheint Bisers Beitrag zur Umprägung katholischer Theologie also nicht deshalb, weil er die engen Grenzen neuscholastischer Schulphilosophie überschreitet. Auch sein Mitvollzug der anthropologischen Wende war kein Sonderfall. Vielmehr gehörte er zu einer Generation bedeutender Glaubenstheologen, die sich, wie zunächst Romano Guardini, später Karl Rahner, Hans Urs von Balthasar sowie Walter Kasper und Joseph Ratzinger auf je eigenständige Weise ein theologisches Profil erarbeiteten, aber zugleich eine grundlegende Prämisse teilten: die zentrale Rolle des glaubenden Subjekts.

Die Eigenständigkeit des Münchner Religionsphilosophen, sein Proprium, manifestiert sich gerade in der Art und Weise, wie er christliche Offenbarung und Religionskritik miteinander in Beziehung setzt. Dieser Ausgangspunkt gibt seinem Denken eine spezifische Signatur; er verleiht ihm eine unverwechselbare Gestalt. Ihr prägnantes Merkmal manifestiert sich dabei in dem Versuch, Nietzsche für eine Selbstkorrektur des Christentums fruchtbar zu machen. Dass Nietzsches Kritik am Glauben als einem System starrer Begriffe bei Biser stets mitbedacht werde, konstatiert deshalb Richard Heinzmann: Bei aller thematischen Vielfalt konvergiere sein Gesamtwerk „letztlich in dem Bemühen, das Christentum von einem abstrakten und geschlossenen Lehrsystem zur konkreten Wirklichkeit und so zu seiner eigenen Identität zurückzuführen sowie dadurch den zentralen Angriff Nietzsches und der Religionskritik insgesamt ins Leere laufen zu lassen“ (Vom System zur Lebenswirklichkeit. Eine Hinführung zum Werk von Eugen Biser, in: Theologie der Zukunft. Eugen Biser im Gespräch mit Richard Heinzmann, Darmstadt 2005, 137–145, 137).

Wo Theologie als akademische Wissenschaft nicht aus eigener Kraft zur Innovation fähig sei, komme ihr bisweilen der Umstand zu Hilfe, dass ihre Themen und Texte „von außen“, auch von dezidiert atheistischen Autoren, wiederentdeckt und in den Diskurs eingebracht würden, so der Religionsphilosoph Hans-Joachim Höhn. Nicht selten geschehe es aber, dass solche „externen“ Zugänge Ablehnung erfahren, weil sie heterodox oder agnostisch erscheinen. Das traf jahrzehntelang auf den „Gottesleugner“ Nietzsche zu; dieser wurde vom Hauptstrom katholischer Theologie bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts auf die Rolle eines „Zerstörers des Christentums“ reduziert – als diametraler Gegensatz zu eigenen Begriffs- und Methodenstandards.

Dialektisch verbunden: Glaube und Unglaube durchdringen sich

Von dem erklärten Gottesfeind, das jedenfalls schien klar, hätten Katholiken in keinerlei Weise zu profitieren. Wie die Studien von Peter Köster (Der verbotene Philosoph. Studien zu den Anfängen der katholischen Nietzsche-Rezeption in Deutschland [1890–1918], Berlin, 1998) sowie Ulrich Willers (Aut Zarathustra aut Christus. Die Jesus-Deutung Nietzsches im Spiegel ihrer Interpretationsgeschichte. Tendenzen und Entwicklungen 1900–1980, Theologie und Philosophie 60 [1985] 239–256 und 418–442; 61 [1986], 236–249.) zeigen, wandelte sich dieses prohibitive Nietzsche-Bild im Laufe des 20. Jahrhunderts langsam in eine Haltung der Hochachtung. War der Christentums-Kritiker zuvor auf schärfste Ablehnung gestoßen, konnte er insbesondere in den Sechzigerjahren mit Neugierde, Sympathie und theologisch motivierter Sensibilität rechnen. Dabei war es nicht zuletzt die bei Löwith entstandene Studie „Gott ist tot“, die dazu beitrug, dass sich Aversion und Antipathie gegenüber dem Antitheologen verschoben. Denn Biser, der hermeneutisch arbeitende Glaubensdenker, begnügte sich keineswegs damit, den Verfasser zu verteufeln, hütete sich aber zugleich vor „banalisierender Eingemeindung“ (Heinrich Beterin). Vielmehr lehrte er seine Leserinnen und Leser, den Atheisten als seismographische Existenz zu schätzen – dazu fähig, dramatische Veränderungen im geistigen Fundament Europas zu beschreiben.

Wie der Autor später in „Theologie und Atheismus. Anstöße zu einer theologischen Aporetik“ (München 1972) hervorhob, sei der Unglaube eine viel zu radikale Herausforderung des Glaubens, als dass die Theologie es bei der „üblichen Aburteilung“ bewenden lassen könnte. „Allzu lange“ – erklärt der Religionsphilosoph über Aporien als erkenntnistheoretische Herausforderung für ein vertieftes Glaubensverständnis – „suchte die Theologie das ihr Konträre und Abgründige ausschließlich außer sich, im Bereich der ihr fremden Glaubensformeln und zumal in der Gegenposition des Atheismus. Die Freilegung der theologischen Implikationen im Phänomen der Gottesleugnung nötigt sie zu der Einsicht, dass kaum weniger große Hindernisse auf ihrem eigenen Weg liegen, ja dass sich dieser an mehr als einer Stelle in völlige Unwegsamkeit verliert. Diese Gefahrenstellen erkennen heißt, auf Möglichkeiten einer Umgehung sinnen“ (85).

Ausdruck von Bisers fortgesetzter Beschäftigung mit Nietzsches Philosophie sind nicht nur die Heidelberger Promotionsschrift sondern auch die Bände „Menschsein in Anfechtung und Widerspruch. Ansatz einer christlichen Anthropologie“ (Düsseldorf, 1980), „Gottsucher oder Antichrist“ (Salzburg 1982), „Nietzsche für Christen“ (2. Auflage, Freiburg 2000) sowie „Nietzsche. Zerstörer oder Erneuerer des Christentums“ (Darmstadt 2002).

Wie sich im Unglauben ein pervertiertes Moment des Glaubens verberge, so enthalte auch der Glaube ein Moment des Unglaubens, fasst Hans Maier, Bisers unmittelbarer Nachfolger in München, dessen Analysen prägnant zusammen.

Denkmal für einen Theologen

„Ich fand den Guardini-Lehrstuhl in einem völlig desolaten Zustand vor. Man hatte alles, was man nicht definieren konnte, auf diesen Lehrstuhl abgeschoben“. Nach Stationen in Passau, Marburg, Bochum und Würzburg wurde Biser – dazwischen lag ein neun Jahre langes Interim – als Nachfolger Karl Rahners 1974 auf den Guardini-Lehrstuhl berufen. „Und ich machte eine Bauchlandung, wie man sie sich schlimmer nicht hätte vorstellen können.“ Aufgrund seiner Vorlesungen über den Tod wurde er von interessierter Seite bald als „Todespfaffe“ diffamiert. „So stand mein Einstieg in München unter keinem günstigen Vorzeichen. Und es kostete einiges Stehvermögen, um unter diesen Bedingungen durchzuhalten. (…) Ich habe den Lehrstuhl im Laufe der Jahre in ungeheurer Anstrengung wieder zu Ansehen gebracht. Am Schluss hatte ich zwar nicht die Hörerzahl von Guardini, aber immerhin eine Zahl von mehr als dreihundert Hörern“ (Gott brach sein Schweigen, 25f.).

Dass der Priester zum Seelsorger und der Theologe zum Gelehrten reifte – all dies wurde zur Frucht eines arbeitsreichen, nicht selten schweren Lebensweges, bei dem Glaube und Existenz schließlich eine exemplarische Einheit bildeten. Daher war es kein Zufall, dass sich in München im Jahr 2002 ein Kreis von Freunden, Hörern und Diskussionspartnern aus Wissenschaft, Kultur, Politik und Kirche zusammenschloss, um die „Eugen-Biser-Stiftung“ zu gründen – mit dem erklärten Ziel, die im Ansatz des Namensgebers grundgelegten Ziele zu verwirklichen: vor allem die friedliche Verständigung über religiös-kulturelle Grenzen hinweg.

Biser hielt es nach dem Mauerfall nicht mehr nur in München; er machte sich auf nach Berlin. Wo viele Theologen kein Wort für die welthistorische Zäsur von 1989 fanden, gab der Priester, Prediger und Professor der friedlichen Revolution in Europa eine christologische Lesart: Er deutete den Untergang der sowjetischen Diktatur sowie die deutsche Wiedervereinigung als wunderbares Zeichen der Zeit, kritisierte jedoch eine kirchenamtliche Sprachlosigkeit: „Wenn dem revolutionären Ereignis eine Botschaft zugrunde liegt, ist das jahrelange Schweigen nicht nur ein Zeichen von Rat- und Gedankenlosigkeit, sondern auch von Schuld. Vergünstigungen wie die große Freiheitswende werden der Menschheit nicht gegeben, um von ihr unbeantwortet hingenommen zu werden; sie wollen wahrgenommen, bedacht und zur Sprache gebracht sein. Im anderen Fall verkommen sie und schlagen schließlich in ihr Gegenteil um“ (Weder Gold noch Silber. Zum sprachlichen Fehlverhalten nach der Wende, Stimmen der Zeit 211 [1993] 343–350, 346).

Unvergessen bleibt für mich, wie der bald Achtzigjährige an die Humboldt-Universität kam, um dort die neu begründeten Berliner Guardini Lectures zu halten. Als ich später bei einem gemeinsamen Spaziergang an der Spree erklärte, dass das 20. Jahrhundert der Theologie nach seinem berühmten Anfang durch Adolf von Harnacks Vorlesungen zum „Wesen des Christentums“ in einem Hörsaal der Lindenuniversität gerade dabei sei, sich mit seiner, Bisers, „Einweisung ins Christentum“ auf unerwartete Weise zu runden, blitzte sein feiner Humor auf: „Ja, derzeit ist hier der spannendste Ort für einen Theologen.“

Heute erinnert ein besonderes Denkmal in Form eines Satzes aus goldfarbenen Aluminiumbuchstaben an die fortwirkende intellektuelle Präsenz Eugen Bisers in Berlin. Dieser befindet sich im kreuzgangähnlichen Areal des „Christlichen Gartens“: da, wo vor wenigen Monaten in Berlin Marzahn die Internationale Gartenausstellung mit Zehntausenden Besuchern zu Ende gegangen ist. „Gott ist Liebe. Durch seinen Eingriff in das Gottesbild der Menschheit erweist sich Jesus als größter Revolutionär ihrer Geschichte.“

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