Am 5. Mai dieses Jahres feierte der Neokatechumenale Weg in Anwesenheit von Papst Franziskus sein fünfzigjähriges Bestehen in Rom. Als „eine ganz andere Art der Achtundsechziger“ bezeichnete „Vatican News“ diesen weltweit etablierten Glaubensweg. Ungeachtet der durchaus anerkennenden Worte in der Homilie des Papstes wurde in einigen Medien die Berichterstattung auf eine „Warnung vor Isolationismus“ reduziert. Doch bei aller Möglichkeit zur Kritik: Liegt im Neokatechumenat nicht auch ein pastorales Potenzial für die Kirche, gerade vor dem Hintergrund der pastoralen Umbruchsituation hierzulande?
An den theologischen Fakultäten in Tübingen und später in Regensburg erfuhr zum ersten Mal ein Ordinarius für katholische Theologie durch seine eigenen Studenten von einem innerkirchlichen Aufbruch: Professor Joseph Ratzinger. Später sagte dieser im Rückblick: „Diese jungen Menschen hatten entdeckt, dass nach der Taufe ein neues Katechumenat nötig sei, eine neue persönliche und gemeinschaftliche Vertiefung der Taufe auf einem gemeinsamen Weg. (…) Genau das hatte der Neokatechumenale Weg verstanden: Auch wenn wir als Kinder getauft wurden, müssen wir später in die Wirklichkeit der Taufe eintreten“ (Kirchliche Bewegungen und neue Gemeinschaften. Unterscheidungen und Kriterien, München 2008, 60–61). Durch Ratzingers persönliche Vermittlung konnten sich Neokatechumenale Gemeinschaften dann 1974 in und bei München in zwei Pfarreien ansiedeln.
Auf dem 85. Deutschen Katholikentag 1978 in Freiburg war es dann der Initiator dieses Glaubensweges selbst, der Spanier Kiko Argüello, der diesen gemeinsam mit Vertretern anderer neuer geistlicher Gemeinschaften vorgestellt hat. Frühe, heute noch lesenswerte theologische Porträts aus den späten Siebzigerjahren sind in der Zeitschrift „Concilium“ und im Liturgischen Jahrbuch dokumentiert (Giorgio Zevini, Die christliche Erwachseneninitiation in den neokatechumenalen Gemeinschaften, in: Concilium 15 [1979] 112–117; Lau Engels, Der Neokatechumenat, in: Liturgisches Jahrbuch 29 [1979] 180–185).
Der Ständige Arbeitskreis „Geistliche Gemeinschaften“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken befragte im Jahr 1995 verschiedene Vertreterinnen und Vertreter geistlicher Gemeinschaften unter anderem nach ihrer Herkunft, ihrem spezifischen Charisma, ihrer pastoralen Zielsetzung und ihrem Selbstverständnis in der Beziehung zur Ortskirche. Auch die Verantwortlichen des Neokatechumenalen Weges in Deutschland beteiligten sich hierbei. Aus den Antworten geht hervor, dass neokatechumenale Gemeinschaften sich als Teil der Pfarrei vor Ort sehen, die wiederum als eine übergeordnete „Gemeinschaft von Gemeinschaften“ zu verstehen ist (Nachdruck in: Peter Wolf [Hg.], Lebensaufbrüche. Geistliche Bewegungen in Deutschland, Vallendar-Schönstatt 2000, 71). Im Jahr 2008 wurde schließlich das Statut des Neokatechumenalen Weges vom Päpstlichen Rat für die Laien definitiv approbiert. Darin heißt es: „Der Neokatechumenale Weg steht im Dienst des Bischofs als eine der diözesanen Durchführungsweisen der christlichen Initiation und der ständigen Glaubenserziehung“ (Art. 1 § 2).
Nicht erst heute werden im deutschsprachigen und nordamerikanischen Kontext Modelle für eine „Kirche, die über den Jordan geht“ (Christian Hennecke) diskutiert, es wird gefragt, was passiert, „wenn Gott sein Haus saniert“ (James Mallon). Bei aller Verschiedenheit und Vielfältigkeit der Ansätze liegt die Zielsetzung in einer erneuerten Art des Kirche-Seins jenseits des etablierten Traditionschristentums. Es war schon sehr früh eine der Hauptintuitionen des Neokatechumenalen Weges, zu einer Seelsorge beizutragen, die weniger konservativ-bewahrend, sondern vor allem evangelisierend und im besten Sinn des Wortes missionarisch sein möchte.
Was hat der Neokatechumenale Weg im Vergleich zu anderen Aufbrüchen oder pastoralen Initiativen innerhalb der katholischen Kirche zu bieten? Ich möchte mich auf einige wenige Punkte beschränken, die sich an den für den Neokatechumenalen Weg wichtigen Grundpfeilern Wort, Liturgie und Gemeinschaft orientieren.
Erstens: Durch einen intensiven Austausch über die Heilige Schrift in kleinen Gemeinschaften (etwa 20 bis 40 Personen) ist es möglich, zu einem reflektierten Umgang mit der Heiligen Schrift unabhängig von Vorbildung und akademischer Qualifikation herangeführt zu werden. Die Erfahrung zeigt, dass eine gemeinschaftliche Liturgiefeier die Voraussetzung dafür schaffen kann, eine Auslegung der Heiligen Schrift zu ermöglichen, die den geistlichen vom wörtlichen Schriftsinn zu unterscheiden weiß und dabei die eigene Lebenssituation im Blick behält.
Zweitens: Durch Liturgiefeiern in kleinen Gemeinschaften wird der tätigen Teilnahme der Glaubenden Raum gegeben, was ein zentrales Anliegen der Liturgischen Bewegung war und ist. Dabei werden von sich abwechselnden Vorbereitungsteams Einleitungen (stationes) zu den Schriftlesungen gehalten und es besteht die Möglichkeit, nach dem Evangelium eine Art Bibelteilen („Resonanz“) zu praktizieren, welche vonseiten einiger Mitfeiernder spontan eine Bibelstelle hervorhebt, die man persönlich als besonders ansprechend erfährt (vgl. Paul Josef Cordes, Actuosa participatio – tätige Teilnahme. Pastorale Annäherung an die Eucharistiefeier in kleinen Gemeinschaften, Paderborn 1995). Die Eucharistiefeiern an den Samstagabenden „sind Bestandteil der sonntäglichen liturgischen Pastoral der Pfarrei und stehen auch anderen Gläubigen offen“ (Statut, Art. 13 § 2).
Drittens: Die Erfahrung zeigt, dass aufgrund der gemeinsamen Taufberufung nach und nach verschiedene Charismen und Berufungen entstehen, die nicht nur die neokatechumenale Gemeinschaft, sondern auch die Pfarrei vor Ort mitaufbauen helfen. Die Mitglieder der Gemeinschaften bieten sich nach und nach an, bei konkreten pastoralen, karitativen, organisatorischen und anderen Diensten in der Gemeinde mitzuwirken, wie Wolfgang Marx, langjähriger Pfarrer im Münchener Stadtteil Neuperlach, aus eigener Erfahrung zu berichten weiß. Hierbei liegt es in der besonderen Leitungsverantwortung des Pfarrers, auf ein ausgewogenes Miteinander aller Beteiligten zu achten. Mit dem Wachsen der gemeinsamen Taufberufung kommt es zudem zu einem Miteinander unter Priestern und Laien, das die spezifische Berufung des priesterlichen Dienstes respektiert, aber auch jeglichem Klerikalismus entgegensteht, da wichtige Dienste stets auch von Laien ausgeübt werden.
Durch eine Sprache, die nicht nur von der Heiligen Schrift und der Theologie der Kirchenväter, sondern auch stark von existenzialistischen Denkern geprägt ist, wird die christliche Botschaft in einer Serie von Glaubensabenden (Katechesen) auf Einladung des Ortspfarrers verkündet. Diese Verkündigung ist jedoch durch das freie und persönliche Glaubenszeugnis des Katechisten-Teams, welches die Katechesenreihe anbietet und hält, immer auch lebensnah „geerdet“. Denn nicht wenige beobachten, dass gerade hier nicht „kirchisch“ im schlechten Sinn des Wortes gesprochen wird. Ferner betont Rabbiner Walter Homolka völlig zu Recht die große Nähe zur jüdischen Tradition in einem Beitrag in dieser Zeitschrift (vgl. HK, Juni 2018, 6). Allerdings ist richtigzustellen, dass der jüdische Seder-Abend bei den neokatechumenalen Gemeinschaften die Osternacht natürlich nicht ersetzt. Nichtsdestoweniger vertiefen vorbereitende Katechesen über das jüdische Pessachfest auf dem Neokatechumenalen Weg das Verständnis für die christliche Osterliturgie (mysterium paschale) und ihre innere heilsökonomische Verbindung zum Pessach. Dies artikuliert sich auch in einzelnen Liedern, die dem jüdischen Seder-Abend entstammen.
Christsein, Christ-Werden
Der Neokatechumenale Weg versteht sich in den Worten Papst Johannes Pauls II. als ein Itinerarium, also als geistlicher Weg, als Prozess (Brief Ogniqualvolta vom 30. August 1990). Im Gegensatz zu anderen Initiativen wie etwa den ebenfalls international weit verbreiteten Alpha-Kursen ist gerade der prozessuale Charakter des Christseins, des Christ-Werdens der Hauptgrund dafür, dass sich der Neokatechumenale Weg als Ganzes über einen langen Zeitraum erstreckt und erst nach vielen Jahren mit der feierlichen Erneuerung der Taufgelübde in der Ostervigil der Bischofskirche einen gewissen Abschluss erfährt. Es geht darum, schrittweise die einzelnen Elemente des Taufritus in Einkehrtagen zu betrachten und diese auf die eigene Lebenssituation zu beziehen. In diesem Sinn konnte bereits Romano Guardini in seiner ersten Vorlesung an der Berliner Universität im Jahr 1923 sagen: „Wir sind nicht Christen, wir werden es, und zwar in dem Maße, als in uns die Erlösung Christi verwirklicht wird.“ (H.-B. Gerl-Falkovitz [Hg.]: Lauterkeit des Blicks. Unbekannte Materialien zu Romano Guardini, Heiligenkreuz 2013, 113 - Hervorhebung im Original)
Auf dem neokatechumenalen Itinerarium betrachten die Teilnehmer dieses Weges nach und nach die eigene Lebensgeschichte im Lichte des Wortes Gottes und der liturgischen Feiern der Kirche. Wie die Erfahrung zeigt, ist es so möglich, die oft beklagte Kluft zwischen Verkündigung, Liturgie und Lehre der Kirche auf der einen Seite und der eigenen Lebenswirklichkeit auf der anderen Seite näherungsweise zu überbrücken. Die freudigen Ereignisse sowie auch die Brüche und vermeintlichen Zufälle im eigenen Leben wahrzunehmen und gerade dadurch kompetent zu werden, das eigene Leben schrittweise als eine Heilsgeschichte zu deuten, ist letztlich das, was in der jüngeren Diskussion als Theologie der Biografie bezeichnet wird. Auch das in der theologischen Ethik prominent diskutierte Gesetz der Gradualität findet hier seine konkrete Anwendung.
„Eine zentrale Leitungsaufgabe (ist es), zur Förderung der Ekklesiogenesis (Kirch-Werdung), zu ‚Gemeindegründung‘ an ganz neuen Orten beizutragen“, fordert der Pastoraltheologe Richard Hartmann in einem Buch, das den sprechenden Titel „Was kommt nach der Pfarrgemeinde?“ trägt (Würzburg 2013, 77). In nahezu allen Diözesen im deutschsprachigen Bereich finden Prozesse statt, die nicht nur strukturell, sondern auch geistlich-pastoral verstanden werden wollen. Ein Trend geht dahin, zukünftig stärker zwischen Pfarrei und Gemeinde zu unterscheiden. In ihrem Wort der deutschen Bischöfe zur Erneuerung der Pastoral „Gemeinsam Kirche sein“ formulieren diese: „Aus der traditionellen ‚Pfarrgemeinde‘, die ein in sich geschlossenes System mit einer festen Struktur war, wächst die ‚Pfarrei neueren Typs‘ (…). Die so verstandene Pfarrei wird sich immer mehr zu einer Gemeinschaft von Gemeinschaften entwickeln und verschiedene Orte kirchlichen Lebens hervorbringen“ (Bonn 2015, 51).
Das Modell der Pfarrei als „Gemeinschaft von Gemeinschaften“ entspricht sehr genau der Konzeption von Pfarrei, wie sie in den Anfangskatechesen des Neokatechumenalen Weges bereits am zweiten Abend vorgeschlagen wird. Eine oder mehrere neokatechumenale Gemeinschaften sind demnach innerhalb einer Pfarrei einer konkreten Gemeinde zugeordnet – oder vielleicht genauer gesagt: vorgeordnet. In diesem Sinne konnte Papst Benedikt XVI. anlässlich des Weltjugendtags in Köln 2005 zu den deutschen Bischöfen sagen: „Vielleicht muss es einerseits so eine Art Vorhof der Heiden geben mit einer Prä-Katechese, die überhaupt auftut für den Glauben – und das ist ja auch der Inhalt vieler katechetischer Versuche –, aber andererseits braucht es doch auch immer wieder den Mut, das Mysterium selbst zu vermitteln in seiner Schönheit und in seiner Größe (…).“ Ein solcher „Vorhof der Heiden“, der zunächst eine „Prä-Katechese“ oder eben ein Vorkatechumenat anbietet, aber dann doch schrittweise in das volle kirchliche Leben der gesamten Pfarrei hineinführt, möchte der Neokatechumenale Weg sein.