Jahrelang boten eine Frau und ihr Partner einen Jungen im Breisgau zum Missbrauch an. Mehrere Behörden und Gerichte hatten die Familie im Blick, doch niemand schaute genauer hin. Die Geschichte eines Systemversagens.“ So beginnt die abschließende Reportage von Jean-Pierre Ziegler auf „Spiegel Online“ vom 6. August 2018 zum monströsen Missbrauchsfall von Staufen. Am 7. August wurde vom Landgericht Freiburg das Urteil gefällt: Die Mutter des Jungen wurde zu zwölfeinhalb Jahren Haft verurteilt, ihr Mann und Stiefvater des Jungen zu zwölf Jahren mit anschließender Sicherheitsverwahrung aufgrund des Gutachtens über „Pädophilie mit aggressiven, sadistischen Nebenströmungen“.
Was ist der Mensch? Was ist das Böse? Wie wird ein Mensch in Versuchung und ins Versagen geführt? Und wie lassen sich Versuchungen zum Bösen abwehren oder doch wenigstens begrenzen? Das sind einige Fragen, die sich der Moraltheologe angesichts solcher grauenerregender Meldungen stellt. Endet hier etwa still die ansonsten recht vollmundige Rede von Gott und seiner Güte?
Das Problem einer christlichen Ethik ist wohl nicht in erster Linie die mögliche Exklusivität der vom Glauben geprägten Normen, sondern vielmehr deren Übersetzbarkeit in eine nicht mehr vom Christentum geprägte Umwelt. Exakt dies ist das Problem der Moraltheologie in unserer Zeit. Die theologisch-biblische Rede von der Ursünde und der Erbschuld zeigt, dass es aus christlicher Sicht durchaus keine bruchlose Einheit von Schöpfung und Erlösung, von Natur und Gnade gibt, ja mehr noch: dass Erlösung nötig wurde, da Schöpfung durch die missbrauchte Freiheit des Menschen zur Selbstzerstörung tendierte – spätestens deutlich sichtbar seit dem Brudermord von Kain an Abel. Worin aber bestand denn der erwähnte Missbrauch, der Erlösung und Gnade und Offenbarung Gottes in Jesus Christus notwendig machte, worin besteht die Ursünde? Es ist, philosophisch gesprochen, die Verwechslung von Idealverwirklichung und bloßer Bedürfnisbefriedigung, theologisch gesprochen, die Verweigerung ganzheitlicher liebender Selbsthingabe.
Der Mensch in seiner Freiheit ist von Gott zu mehr berufen als nur zum bloßen Überleben als biologisches Lebewesen. Er ist in der Lage, mehr anzustreben, nämlich ein gutes Leben, in der Verwirklichung des Besten. Dieses Beste des Menschen heißt biblisch „Liebe“ und meint mehr als einen bloß zufriedenstellenden Austausch von Interessen innerhalb der knappen zugemessenen Zeit des Überlebens. In der Sprache der griechischen Philosophie stehen dafür die Gegensatzbegriffe bios und zoé, theologisch wird dies in den Begriffen von Natur und Gnade ausgedrückt: Gottes gnadenhafte Erlösung mittels seiner Offenbarung in eigener Person ermöglicht dem in Bedürfnisbefriedigung sich tummelnden Menschen die Erkenntnis und Verwirklichung hingebender Liebe, und zwar in der inneren Haltung von Glaube (an Gottes Offenbarung im Handeln der Kirche und ihrer Sakramente) und Hoffnung (auf eine Erfüllung des eigenen Strebens nach Glückseligkeit). Dies ist eine steile These, die sich der kruden Realität im Breisgau und anderswo zu stellen hat: Ein naturhaftes Leben sei „im Sinn des platonischen Eros, ein Leben der Bedürftigkeit und der Bedürfnisbefriedigung“, demgegenüber aber: „Christliches Leben kann, im Sinne der Gnade, des Glaubens und der Liebe, nur ein Leben aus der Fülle und darum ein Leben der Dankbarkeit sein: eucharistia“ (Hans Urs von Balthasar, Verbum Caro. Skizzen zur Theologie, Einsiedeln 1960, 179). Ein solches Leben ist in der Person Jesus Christus beispielhaft offenbart und wird dem Christen durch den Empfang der Sakramente ontologisch wie ethisch zur zweiten Natur.
Im Hintergrund steht die Differenzierung von Urbild und Abbild, eine Differenzierung schon der biblischen Überlieferung, die im Schöpfungsbericht von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen spricht. Auch in der Moderne ist immer wieder die Rede vom christlichen Menschenbild. Wozu aber – und diese Frage wird leider häufig gar nicht gestellt – braucht man überhaupt ein Bild vom Menschen oder gar ein „christliches Menschenbild“? Kurz gesagt: Der Mensch braucht Bilder und schafft sich Bilder, um sich Rechenschaft zu geben über seine Wünsche und Sehnsüchte, über seine Träume und Hoffnungen, also um sich Antwort zu erhoffen auf die beiden großen und letztlich einzig wichtigen Fragen des Lebens, nämlich „Woher komme ich?“ und „Wohin gehe ich?“ Jüdisch-christliche Theologie beantwortet diese beiden großen Fragen mit den Begriffen von Schöpfung und Erlösung, die das Bild Gottes im Menschen begründen und die mögliche geistige Ausrichtung der Natur auf Gottes Gnade ermöglichen, will heißen: mit dem Glauben an Gott, der vor aller Zeit und außerhalb von Raum und Zeit ist, und der den Menschen erschafft und ihm die Möglichkeit gibt, ein solches Leben zu führen, das ihn auf ewig, bei Gott und in seiner ewigen Liebe, leben und glücklich sein lässt. Etwas anders ausgedrückt: Jüdisch-christliche Theologie ist der festen Überzeugung, dass sich die beiden wesentlichen Fragen des menschlichen Lebens, nämlich die Frage nach dem „Woher“ und nach dem „Wohin“, nicht aus der Analyse und der technischen Beherrschbarkeit vergänglicher Materie beantworten, mithin aus der Naturwissenschaft, so nützlich sie auch sein mag. Nein, die Antwort auf diese beiden Sinnfragen ergibt sich nicht aus der Materie, sondern nur aus dem Geist des Menschen, näherhin aus der geistigen Möglichkeit des Menschen, mehr zu denken und zu ersehnen als nur die bloße Bedürfnisbefriedigung. Genauer: Gott zu denken und zu ersehnen, sich ein gültiges Bild von ihm zu machen.
Erst kommt die Moral, dann das Fressen
Ist Gott aber dann nicht nur ein menschlicher Wunschtraum, eine Sehnsucht des menschlichen Geistes, eine bloße Idee und nichts weiter? Oder gar, wie schärfer und bösartiger Friedrich Nietzsche zuspitzte, das Ressentiment der Zukurzgekommenen, die Lebenskrücke der Lebensuntüchtigen, schließlich, mit Lenin, das Opium des in dumpfer Lebensqual dahinbrütenden Volkes, das man nur aus materiellem Elend befreien muss, damit es seine geistigen Wolkenkuckucksheime umso bereitwilliger aufgibt, getreu der Devise des großen Spötters Heinrich Heine: Den Himmel überlassen wir den Spatzen…? Was aber umgekehrt, wenn der Mensch, dieser scheinbar nackte Affe, eben doch nur scheinbar ein höher entwickeltes (oder, wie der schon erwähnte Nietzsche einmal boshaft bemerkte: ein nicht festgestelltes) Tier wäre, und in Wirklichkeit ein Zwitterwesen aus vergänglicher Materie und unvergänglichem Geist (wofür im Abendland der Begriff „Seele“ sich einbürgerte)? Wäre das der Fall oder auch nur ansatzweise denkbar – und wäre es etwa nicht denkbar angesichts der erstaunlichen Leistungen des menschlichen Geistes? – und könnte das als gleichsam unsichtbare Wirklichkeit gedacht und geglaubt und als Bild vor dem inneren geistigen Auge festgehalten werden, dann käme alles darauf an, richtig zu denken, geistig zu leben, bevor man sodann materiell lebt und überlebt, sich gute Gedanken über Ethik zu machen, bevor man sich richtige Gedanken über die Technik macht.
Oder anders ausgedrückt, und ganz anders als Bert Brecht es sich dachte: Erst kommt die Moral und dann das Fressen. Das aber heißt dann auch: Erst kommt das Menschenbild, dann die Detailfragen der im Raum von Technik und Mathematik sich vollziehenden Strategien des Überlebens. Und nach christlicher Überzeugung ist der Mensch eben weit mehr Metaphysik als Physik, mehr im Raum der Ethik nach gutem und geglücktem Leben strebend als im Raum der Technik um möglichst langes und gesundes Überleben besorgt. Freilich: Jeder ist um langes und gesundes Leben besorgt, aber doch nur unter der Voraussetzung eines letzten Sinnes, eines Zieles, einer Antwort auf die Frage „Warum bin ich überhaupt auf der Welt?“ Das Christentum antwortet darauf mit dem Glauben an Gott und seine Offenbarung in Jesus Christus: So ist Gott, so liebenswert und menschenfreundlich. Und so soll und darf der Mensch sein, so liebenswert und menschenfreundlich. Und jede Technik muss diese Qualität jedes Menschen als Person achten und voraussetzen, ohne doch ein letztes Urteil darüber fällen zu dürfen. Woraus sich übrigens die vollkommen logische und allzu spät erfolgte kategorische Ablehnung der Todesstrafe durch die katholische Moraltheologie erhellt. Technik ist richtig, aber nur, wenn sie gut ist: Das Dual „Gut/Böse“ definiert die grundlegende Unterscheidung der ethischen Hochebene und dies ist nicht weiter nach einem letzten Warum hinterfragbar. Richtig und Falsch hingegen sind die grundlegenden Unterschiede der technischen Tiefebene und messen sich immer nach einem letzten Ziel und Zweck. Das letzte Ziel ist die gute Gesinnung und das gute Gewissen der Person – und diese Person entzieht sich einem letzten Zweck und lebt ganz zweckfrei. Einfach, weil sie es darf und Gott es so will. Das genau meint christliches Menschenbild.
Bildung leitet sich als Begriff ab von Bild, letztlich von Urbild, und meint daher mehr als bloße Formatierung oder auch Erziehung und Zwang zu einem bestimmten Ziel hin. Bildung und Ausbildung ist immer etwas Abgeleitetes und Zweites, etwas Verfügbares, das dem unverfügbaren Urbild oder der Uridee entsprechen muss, um authentisch zu sein. Gedacht ist an eine der Realität vorausliegende Idealität, deren geistige Erkenntnis erst eine Bewältigung und Formung der Realität ermöglicht und so zu einem sittlichen Lebensentwurf führt. Die Idee des Guten liegt aller Erkenntnis und allem Handeln voraus. Wenn und insofern Gott als Schöpfer mit diesem ersten Sein als dem Guten schlechthin identifiziert wird, kann auch die biblische Überlieferung von der Erschaffung der Welt und des Menschen präziser und umfassender verstanden werden.
Genau das ist dann nämlich mit der alttestamentlichen Rede vom vergangenen Paradies der Idealität und mit der Rede von der ursprünglichen Gottesebenbildlichkeit des Menschen gemeint: Der Kern des Menschen, sein ursprüngliches Wesen also, ist als Ideal gedacht. Es ist gut infolge der Teilhabe an Gottes vollkommener Gutheit – das meint der christlich-jüdische Begriff der Schöpfung und der Erschaffung der Welt – und damit vom Wesen her auf das Gute und auf Gott hin ausgerichtet. Oder anders: Das Gute ist das Sein und damit wirklich, das Böse ist eigentlich „unwirklich“, privatio boni, Abwesenheit von Gutem – was seiner Grausamkeit keinen Abbruch tut, wohl aber tröstlich ist im Blick auf seine mögliche Überwindung!
Für das theologische Denken seit Thomas von Aquin wird die Gottesebenbildlichkeit des Menschen verwirklicht durch seine geistigen Tätigkeiten, oder, in der Sprache der griechischen Philosophie, durch den Unterschied von Handeln (praxis) und Machen (poiesis): „Machen besitzt nur eine indirekte moralische Qualität, weil es seine Wertigkeit vom hergestellten Gegenstand her bezieht. Dem Handeln kommt dagegen per se moralische Bedeutung zu, weswegen Aristoteles auch eine hierarchische Ordnung annimmt, der zufolge praxis höher zu bewerten ist als poiesis. Am deutlichsten zeigt sich die Dominanz der Praxis, wenn Aristoteles behauptet, das Leben als Ganzes habe den Charakter einer Praxis, denn schließlich liege der Zweck des menschlichen Lebens darin, gut zu leben“ (Marcel Becker, „Praxis / Poiesis“, in: Jean-Pierre Wils und Christoph Hübenthal [Hg.], Lexikon der Ethik, Paderborn 2006, 303). Gut meint hier ziemlich exakt das, was wir modern das Glück nennen, und zwar im Sinn einer umfassenden und vollkommenen Beglückung des eigenen Lebens im Zusammenleben mit anderen Menschen. Dies ist ja die letzte Sinnspitze einer aristotelischen Ethik, die von Thomas von Aquin aufgegriffen und in den Horizont der Offenbarung gestellt wird: Dass jeder Mensch glücklich werden möchte, bedarf keiner Begründung, Eudaimonie ist das für alle evidente letzte Ziel. Zu erreichen ist es freilich nur durch die Übung der Tugenden.
Beglückt durch den anderen Menschen vor dem Glück des eigenen Lebens stehen zu dürfen: Genau das ist mit dem Begriff der Schöpfung als Geschenk und Gabe des eigenen Lebens gemeint. Natur und ihre Zufälligkeit wird als Schöpfung und göttliche Notwendigkeit interpretiert; eine höchst eindrucksvolle geistige Leistung des Menschen bricht sich Bahn. Christlich gesehen verdichtet sich dieser ethische Überschuss des Menschen in der Erfahrung von Sterben und Tod und berührt genau hier die Wirklichkeit des Glaubens: „Die Konsequenz für den Umgang mit Glück und Glücksverlangen liegt in jener Vergeistigung, die der österlichen Dimension christlichen Daseins entspringt. Ständige Umwandlung aus Hoffnung gräbt sich ihre Lebensbahn und erzeugt eine lebensgeschichtliche Achse, die den vielfach gefährdeten Einzelentscheidungen Ziel und Halt gibt“ (Klaus Demmer, Gott denken – sittlich handeln, Fribourg 2008, 11).
Anreize zum Guten
Der Tod bildet das letzte und innerweltlich unübersteigbare äußere Unglück, das Böse schlechthin, das immer dann zum inneren Unglück wird, wenn es nicht nochmals von außen und damit den empirischen Raum übersteigend bewältigt werden kann. Solche endgültige Bewältigung trägt in der christlichen Theologie den Namen Erlösung; es ist Erlösung vom Zwang eines zeitlich begrenzten Glücks. Diese Erlösung wird von Gott in der Offenbarung der Freiheit des Menschen angeboten; Gott ist Geist, in der Sprache des Johannesevangeliums, und spricht den Geist des Menschen in seiner letzten und nicht mehr überbietbaren Möglichkeit an.
Aber der Mensch erlebt sich zugleich auch als Mängelwesen, als durch Defekt und „Ursünde“ je schon in seiner Freiheit zum Guten und zum vollkommenen Glück eingeschränkt. Die Schöpfung Gottes als innerste Wesensnatur des Menschen ist eingeschränkt durch die ebenso zur faktischen Natur des Menschen gehörende Fähigkeit zur Verfehlung und zum Bösen und zur Sünde. Sündigen ist, so zu leben, als ob Gott nicht existierte, ihn aus dem eigenen Alltag zu beseitigen, zu zweifeln an der von Gott geschenkten eigenen Notwendigkeit, sich und andere für entbehrliche Staubkörner im Universum zu halten. Dagegen, gegen diese tief sitzende innere geistige Verzweiflung und Verödung des Menschen, muss die wesenhafte, aber gebrochene Freiheit zum Guten und zum Besten gefördert und motiviert werden.
Mit anderen Worten: Es braucht Anreizsysteme für den Menschen, damit er im Gewissen sich auf das Gute hin ausbildet und ausstreckt, damit er das Gute in konkreter Gestalt in seinem Leben für attraktiv hält und es in die Tat des Alltags umsetzt. Die guten Strebungen des Menschen müssen durch Anreize gefördert, die Versuchungen zum Bösen dagegen durch Sanktionen abgewehrt werden. Denn dem Menschen fehlen instinktive und unfehlbare Neigungen zum Guten und zum Besten, er neigt zu Fremd- und Selbstzerstörung, er hält ein nur scheinbar Gutes für ein wirklich Gutes und verstrickt sich auf der suchtartigen Suche nach dem Guten im Vorletzten, in der Sünde, im Bösen. Nach christlichem Glauben gehört das zum Erbe des Menschen, auch vor jeder persönlichen und individuellen Schuld. Daher spricht der christliche Glaube von der Ursünde des Menschen und der Erbsünde einer im Menschen eingewurzelten Lieblosigkeit, die sich jedem menschlichen Streben nach Glück höchst erfolgreich in den Weg stellt: „Die Antriebe werden narzisstisch und egoistisch. Sie neigen zum gewaltsamen Sichdurchsetzen“ (Albert Görres, Psychologische Bemerkungen über die Erbsünde und ihre Folgen, in: Christoph Schönborn [Hg.], Zur kirchlichen Erbsündenlehre, Freiburg 1991, 18).
Die menschliche Person verwirklicht sich im Raum gesellschaftlicher und staatlicher Ordnung und Zivilisation. Es bilden sich ethische Traditionen aus, die Wege zu gelungenem und geglücktem Leben erhoffen lassen. Insofern steht die Kultur im Dienst einer nach vollkommener Vollendung strebenden menschlichen Natur, die ihrerseits nur schwach vorgezeichnete Wege zu dieser Vollendung in den Instinkten findet. Jede Form höherer Kultur entsteht durch ein Vernunftrecht, das sich als eine Art kritisches Naturrecht ausweist: Was denkt jeder Mensch von Natur aus und mit seiner Vernunft als gut und vollkommen? Und genau hier wird der normethische Begriff der Menschenwürde einzutragen sein, verbürgt er doch in einzigartiger Schärfe Selbstzweck und Universalisierung von Personalität, die für jeden Menschen den Ausgangspunkt geglückten Menschseins darstellt.
Das Zueinander von Natur und Kultur zu bestimmen und zugleich die Grenze zwischen einer Ausbildung und einer Sanktionierung der ursprünglichen Natur immer neu in den Blick zu nehmen, ist die vornehmste Aufgabe der Ethik, nicht zuletzt der Sozialethik. Kultur erscheint dann als notwendiger Humus einer menschenwürdigen Gesellschaft; Kultur bildet die notwendige Ergänzung und Überformung einer in sich gebrochenen Natur.
Das Streben jedes Menschen nach Glückseligkeit führt, kantianisch gesprochen, zu der Variante des Kategorischen Imperativs, wonach zu tun ist, wodurch der Mensch würdig ist, glücklich zu sein: in Übereinstimmung mit sich als dem Wesen der Sittlichkeit zu leben. Kultur speichert solche menschenwürdigen Mittel der Glücksgewinnung. Gedacht sei etwa an den Begriff der unveräußerlichen Menschenwürde, die der Staat zu garantieren hat. Nicht der Staat hat ursprünglich ein Recht, sondern jede Person hat unveräußerliche Grundrechte, und der Staat hat nur insoweit Recht (einschließlich des Gewaltmonopols), als er bedrohte Rechte von Personen zu schützen hat. Die Heiligung und Vervollkommnung des Menschen im Blick auf ein gelungenes Bild vom Glück ist von Staat und Gesellschaft entschieden zu fördern. Es braucht Anreize zur Heilung und zum Guten durch Bildung und Leitbilder. Wenn alles gleich gültig ist aus Sicht des Staates, wenn der Staat sich selbst als gleichgültig gegenüber allen Werten und in diesem letztlich absurden Sinn als wertneutral empfindet, wenn jede Lebensentscheidung und jede Lebensform als vor dem Gesetz und vor der Gesellschaft gleich gültig betrachtet wird, dann ist letztlich alles gleichgültig, dann wird auf Dauer auch der Mensch gleichgültig gegenüber dem wirklich Guten, dann geht es letztlich nur noch um unterschiedliche Optionen höchst unterschiedlicher Individuen, die miteinander nicht mehr teilen als den entschiedenen Willen zum Überleben um jeden Preis.
Alles bündelt sich im Gedanken der Personalität. Im Hintergrund steht also ein starker Begriff vom menschlich-personalen Selbst, das dem Individuum immer nur schemenhaft vorgegeben ist und der schrittweisen Verwirklichung bedarf. Das Selbst wird näherhin als Person gedacht. Eine der stillschweigend von Staat und Gesellschaft vorausgesetzten Grundlagen, von denen etwa das berühmte Böckenförde-Diktum spricht, ist jener primäre Personbegriff, der zur Ausbildung einer Persönlichkeit und zur geglückten Selbstverwirklichung hindrängt. Daraus folgt die Förderung des Bewusstseins von der absoluten Einmaligkeit und Unwiderruflichkeit des eigenen Lebens und der unverwechselbaren Berufung jedes Menschen zu einem unverwechselbaren Glück.
Weder Kaninchen noch Ameise
Genau hier setzt der Gedanke einer ewigen Unsterblichkeit der menschlichen Seele an, der von Plato paradigmatisch für das gesamte abendländische Denken formuliert wird, und sich mit dem jüdischen Gedanken einer unwiderruflichen Gottesebenbildlichkeit des Menschen verbindet. Die Möglichkeit ewigen Glücks in Gott schließt notwendig die Möglichkeit einer ewigen Abwendung vom Guten und von Gott ein. Und nicht der physische Tod ist das eigentliche Unglück des Menschen, sondern der geistige Tod, verstanden als dauerhafte Verstocktheit und Abkapselung im Unrecht.
Das ganze menschliche Leben ist ein ununterbrochener und schier vergeblicher Weg der Scheidung und Entscheidung zwischen Gott und Vergänglichkeit, zwischen Glück und Zufriedenheit, zwischen wirklich hingebender und bloß scheinbarer, verbrauchender und missbrauchender Liebe. Jede Lebensentscheidung wird erst ermöglicht durch die Bereitschaft zu einem als geglückt gedeuteten Verzicht. Diese Berufung eines jeden Menschen zur Selbstbildung ist zuletzt auch der Kern jeder Solidarität von Menschen in Staat und Gesellschaft: Jeder Mensch wird ungeachtet seiner Leistungen und Fähigkeiten als Gottes Ebenbild und mit Würde ausgestattet erkannt, anerkannt und geschützt. Das Christentum denkt das menschliche Streben nach umfassendem Glück unter der Signatur von Leiden und Fragment, daran erinnert die Rede von der Erbsünde.
Das vollkommene Glück ist nicht von dieser Welt und existiert nur als Idee, im Geist und im Beten des Menschen. Dennoch kann aus der Perspektive Gottes und im Licht der Auferstehung jede noch so fragmentarische Lebensgeschichte als vom Kern und vom Wesen her ursprünglich geglückt gedeutet werden; diese theologische Idee wird auch nicht durch die monströse Bosheit realer Menschen außer Kraft gesetzt; der Verzicht des Staates auf die Todesstrafe ist ein fernes Echo davon. Verlangt ist vom Menschen (jenseits von Eden und diesseits der Ewigkeit) ein beherzter Mut zum Vorletzten, eine nüchterne Tapferkeit im Angesicht vorläufigen Scheiterns und eine schier endlose Geduld der Resozialisierung. Nur dann lässt sich von einer im Kern versöhnten Lebensgeschichte sprechen, weil Gottes zuvorkommende Gnade einen nicht messbaren Erfolg individueller Berufung garantiert, ohne dass jedoch in vordergründiger Weise die Rede davon sein kann, Gott mache einfachhin glücklich. Es ist mithin der schleichenden Versuchung zu wehren, der Mensch sei im Grunde nur ein effizient anreizbares konsumierendes Kaninchen oder eine technisch optimierbare arbeitsame Ameise; es ist dies die Versuchung zum Verzicht auf den Gedanken von der ursprunghaften Liebenswürdigkeit jeder Person. Dem tritt das christliche Menschenbild und seine Idee vom Glück als Erlösung vom Zwang zum vergeblichen Leben in Raum und Zeit entgegen. Wir sind in der Tat jenseits von Eden – aber nicht unrettbar verloren, sondern auf dem Weg zu einem neuen Eden, zur noch ausstehenden Vollendung, zu einem Glück unvordenklicher Vorstellung.