Wer eine Religion kennt, kennt keine“. Dieser so schlichte wie wahre Satz des Religionshistorikers Max Müller beschreibt nicht nur eine Erkenntnis der vergleichenden Religionswissenschaft, sondern auch die alltägliche Erfahrung vieler tausender Menschen, die sich in deutschen Kommunen seit Jahren den Mühen und Freuden des verlässlichen interreligiösen Miteinanders vor Ort verpflichtet haben.
Ohne zentrale Steuerung ist in den letzten 15 Jahren in nahezu allen westdeutschen und einigen ostdeutschen Großstädten sowie in diversen Landkreisen eine Kultur gewachsen, die in den oft erhitzten Debatten um die wachsende religiöse Pluralität gerne übersehen wird: Beinahe unbemerkt sind Dutzende von lokalen „Räten“, „Runden Tischen“ oder „Foren“ entstanden, in denen die verschiedenen Religionen sich miteinander austauschen. Die (mediale) Öffentlichkeit hingegen schaut vor allem auf „den Islam“, um dessen Verteidigung oder Kritik von einzelnen prominenten, in einem Pro-Contra-Schema klar positionierten Akteuren – Publizisten, Wissenschaftlern, Verbandsvertretern oder selbsternannten Experten – bis heute erbittert und selten mit viel substanziellem Ertrag gestritten wird.
Was dabei unter den Tisch fällt, sind einerseits die in Deutschland kleinen Religionsgemeinschaften wie Sikhs, Hindus, Bahai oder Buddhisten. Ihnen werden bestenfalls Sonderdiskurse gegönnt, wie die Alternative zwischen „östlichem“ und „westlichem“ Denken (westliche Buddhisten), der Respekt vor einer aufgeklärten Universalreligion modernen Zuschnitts (Bahai) oder – wenn man sie überhaupt wahrnimmt – das Phantasma einer letztlich folkloristischen Exotik (Sikhs, Hindus und asiatische Buddhisten), das mehr mit dem letzten Bali- oder Indienurlaub zu tun hat als mit der religionspolitischen Realität dieser Migrantengemeinden in der Bundesrepublik des 21. Jahrhunderts.
Andererseits leidet auch die in allen Räten der Religionen vertretene jüdische Religion – mit etwa 100 000 registrierten Gemeindemitgliedern quantitativ auch eher „klein“ – unter typisch bundesdeutschen Fremdzuweisungen: Werden die jüdischen Gemeinden doch vor allem als Gegenüber in einem in die Jahre gekommenen „Post-Shoa“- beziehungsweise „Israel“-Diskurs wahrgenommen. Dieser ist angesichts der deutschen Geschichte vielleicht unausweichlich, führt aber letztlich von den eigentlichen Themen auch dieser Religion weg. Dies gilt verschärft seit der sozialen und weltanschaulichen Transformation jüdischer Gemeinden durch Zehntausende säkularer sowjet-russischer Immigranten in den Neunzigerjahren.
Doch was genau ist das für eine Form der interreligiösen Selbstorganisation, die da, forciert von den Ereignissen der Jahre 2001 und 2014, aber auch schlicht vom „Ankommen“ vieler Migrantengemeinden in der deutschen Alltagsrealität, entstanden ist? Etwa hälftig sind die Räte, Runden Tische oder Foren auf Initiative der Religionsgemeinschaften selbst, häufig der großen Kirchen, muslimischen Verbände und jüdischen Gemeinden entstanden, selten aus noch breiter gemischten Initiativkreisen. Ebenso häufig war es die Initiative der Kommunalpolitik, hier häufig der Integrationsabteilungen in den Stadtverwaltungen, die ein – oft anlassbezogenes – Zusammentreffen aller örtlichen Religionsgemeinschaften initiiert haben und auch weiterhin organisieren (und finanzieren).
Wer sagt eigentlich, dass Religion ein Integrationsthema ist?
Hier liegt vielleicht eines der wesentlichen Unterscheidungsmerkmale: Nicht nur die Zufriedenheit der Mitglieder, auch ihr Aktionsradius und Ideenreichtum scheint bis heute von ihrer Organisationsform abhängig zu sein: Werden die Räte dauerhaft von politischen Erwartungen dominiert und etwa als Platzhalter für ein funktionierendes interkulturelles Miteinander (vor allem mit den ins Gerede gekommenen muslimischen Verbänden) oder als Beweis dafür instrumentalisiert, dass Juden und Muslime eben doch miteinander reden, kommt selten Eigeninitiative oder auch nur die Frage auf: „Welche Ziele verfolgen wir selbst denn als Religionsgemeinschaften in dieser Runde?“ Daneben kann man berechtigt fragen: Warum ist Religion aus politischer Perspektive überhaupt ein Integrationsthema? Die Mehrheit der jüdischen, christlichen und inzwischen auch muslimischen Gemeindemitglieder hat einen deutschen Pass, ebenso wie viele Bahai und autochthon deutsche Buddhisten. Steht dahinter nicht die unausgesprochene Wahrnehmung von Religion als Fremdkörper oder gar als Konfliktursache in einer ansonsten friedlichen, weil ja säkularen Gesellschaft?
Dazu passt es, wenn die so versammelten Religionsgemeinschaften immer wieder funktional als „Religionen für den Frieden“ adressiert werden. Dies entspricht weniger dem Eigeninteresse und der Selbstwahrnehmung der Religionen als den Bedürfnissen der Kommunalpolitik, sie für die Interessen einer „funktionierenden“ Integrations- oder Sozialpolitik zu gebrauchen. Wenn „Frieden“ etwa dezidiert als politische oder soziale Kategorie konnotiert wird, etwa im Sinne eines „friedlichen“, also nicht gewalttätigen oder doch konfliktarmen sozialen Miteinanders, so verfehlt dies die religiöse Verwendung des Begriffs in beinahe allen Fällen. Zumindest in den monotheistischen Religionen wird Frieden (pax/shalom/salam) nämlich in der Regel im Sinne umfassenden Heiles verstanden. Das würde aber durchaus die eine oder andere kritische Anfrage an Lebensverhältnisse in modernen Großstädten implizieren, in denen Diskriminierung, Kinderarmut und Wohnungsnot gerade unter den hochreligiösen Migrantengemeinden verbreitet sind.
Darüber hinaus kann man selten überhaupt das „Miteinander“ der Religionen als Kernbestand eigenreligiöser Aussagen bezeichnen, sind sie doch in ihren Traditionen eher auf Selbsterhalt und Abgrenzung oder Mission als ein „friedliches Miteinander“ orientiert. Diese Tatsache wirkt sich konkret häufig etwa darin aus, dass in vielen Gemeinden die Akteure des interreligiösen Miteinanders immer wieder ob ihrer angeblich die eigene Botschaft verfremdenden und exzentrischen Aktivitäten (vor allem von „konservativen“ Gemeindemitgliedern) kritisch angefragt werden.
Es gilt also, im Vollzug des interreligiösen Miteinanders diese Spannung zwischen Fremd- und Eigeninteressen zu reflektieren und in ein gutes Gleichgewicht zu bringen. Dabei ist eine weitgehende finanzielle und organisatorische Unabhängigkeit einerseits dringend anzuraten, andererseits aber schwierig zu realisieren angesichts der Mehrfachbelastung der erst in den letzten Jahrzehnten gegründeten und von ihren Mitgliedern meist allein durch Spenden finanzierten Gemeinden.
Die Palette möglicher Aktivitäten der Räte ist breit. Sie reicht von – möglichst regelmäßigen und von einer gut ausbalancierten verbindlichen Satzung gestützten – Mitgliederversammlungen und flankierenden Vorstandsaktivitäten über gemeinsame liturgische Feiern, Austausch über die Inhalte der Religionen anhand gemeinsamer Themen (Ethik, Gottesbild, Jenseitsvorstellungen, Menschenbild, Gewaltfragen, Liturgien und so weiter), öffentliche Podien über religionspolitische und theologische Fragen (Diskriminierung aus Gründen der Religion, Religionsverfassungsrecht, Bau religiöser Gebäude, Kleiderordnungen, kulturalistischer Rassismus, Feste und Feiertage etc.) bis hin zu regelmäßigen Kontakten zu den politischen Parteien beziehungsweise Parlamentsfraktionen und städtischen Ämtern.
Hier entwickelt sich häufig ein wechselseitig fruchtbarer Austausch zu Fragen wie dem Umgang mit Geflüchteten, Religionsunterricht verschiedener Bekenntnisse, professioneller religiöser Jugendarbeit, Wohlfahrtsverbänden und Kategorialbetreuung in Krankenhäusern, Gefängnissen und Notfällen, Friedhofsordnungen, Feiertagsregelungen etc. Üblich werden zunehmend Nächte oder Tage der Religionen, die einer breiten Stadtbevölkerung den niedrigschwelligen Direktkontakt mit Religionsvertretern in ihren Gotteshäusern oder an einem zentralen Ort in der Stadt ermöglichen.
Vor allem entsteht aber im internen Austausch der Räte und Foren häufig ein Vertrauen zwischen Personen, das den Dialog über Jahre auch durch Konfliktsituationen hindurch trägt und die oben beschriebene ursprüngliche Abgrenzungsneigung religiöser Akteure relativiert. Schließlich machen hier manche die erstaunliche Erfahrung, dass andere Religionen viel mehr theologische Inhalte oder zumindest Problemhorizonte teilen, als man dachte. Nicht selten werden Selbstreflexion und Außendarstellung im geschützten Rahmen wohlwollender Andersgläubiger überhaupt erstmals erlebt und eingeübt. Vor allem aber teilt man die Erfahrung, einer immer weniger beachteten, ja offensiv ignorierten oder schlimmstenfalls sogar angefeindeten Gruppe in einer sich rasant säkularisierenden Stadtgesellschaft anzugehören. Auch viele christliche Kirchen erleben ja inzwischen, was es heißt, in der Minderheit zu sein.
Am 16. und 17. September 2018 trafen sich nun in Frankfurt am Main mit Unterstützung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und des interreligiösen Projekts „Weißt Du, wer ich bin“ erstmals Mitglieder nahezu aller der beschriebenen interreligiösen Dialoginitiativen aus ganz Deutschland. 30 Städte waren beim ersten Bundeskongress der Räte der Religionen mit meist zwei Delegierten vertreten. Eingeladen hatten die Räte der Religionen aus Hannover und Frankfurt am Main, beide im Jahr 2009 gegründet.
Aus Sicht der Verantwortlichen war die Zeit reif, die zahlreichen kommunal arbeitenden Dialoggremien, die in den letzten Jahren entstanden sind, überregional zu vernetzen. Die Einwanderungsgesellschaft braucht starke interreligiöse Strukturen, und die große Nachfrage und Präsenz bestätigen, dass Räte der Religionen ein Zukunftsmodell sind.
Inhaltlich diente der erste Bundeskongress in erster Linie dem gegenseitigen Kennenlernen. Frankfurts Oberbürgermeister Peter Feldmann (SPD) hatte die Schirmherrschaft übernommen. Einer der Hauptredner war der Paderborner Theologe Professor Klaus von Stosch. Arbeitsgruppen widmeten sich aktuellen Themen des kommunalen und regionalen interreligiösen Dialogs. Folgende Punkte sind hervorzuheben.
Vor dem Hintergrund der Erwartungshaltung einer liberalen demokratischen Öffentlichkeit findet sich in den Religionsgemeinschaften manchmal die Neigung zur oberflächlichen Anpassung und positiven Selbstdarstellung. Es erfolgt eine selektive Hervorhebung solcher Aspekte, die Offenheit und Toleranz demonstrieren, unter Umständen aber im Widerspruch stehen zu den tatsächlichen Tendenzen in den jeweiligen textlichen Quellen oder der historischen Praxis. Dieser Impuls einer defensiven Beschönigung ist zu vermeiden. Bestehende Hindernisse eines respektvollen Miteinanders, problematische Aussagen in den jeweiligen heiligen Texten sowie historische oder gegenwärtige Formen der Intoleranz müssen offen angesprochen werden.
Nicht zu unterschätzen sind auch Schwierigkeiten eines wirklichen Verstehens anderer religiöser Glaubenssysteme. Auch dann, wenn der Dialog zum Beispiel auf Deutsch geführt wird, können die hier verwendeten Begriffe vor dem Hintergrund verschiedener Traditionen unterschiedliche Bedeutungen annehmen, die auf den ersten Blick nicht erkennbar sind. Es erfordert eine sensible Übersetzungsleistung, um den je anderen angemessen zu verstehen.
Angesichts der weltweiten und lokalen religionspolitischen Situation ist die Vermittlung interreligiöser Kompetenzen bereits im Kindes- und Jugendalter entscheidend. Weder in der schulischen noch in der außerschulischen Bildungsarbeit wird dies bislang hinreichend geleistet, obgleich gerade im Ethik- und Religionsunterricht zunehmend Wissen über andere Glaubenssysteme vermittelt wird. In unserer globalisierten Welt sollte die aktive Auseinandersetzung von Kindern mit unterschiedlichen kulturellen und religiösen Hintergründen viel wichtiger genommen werden. An einigen Orten existieren bereits von Räten der Religionen initiierte Projekte für die Verbesserung der interreligiösen Kompetenz in Schulgemeinschaften, die in Hessen sogar vom Kultusministerium gefördert werden. Auch der Aufbau einer professionellen, möglichst verbandlich organisierten Jugendarbeit der hier noch nicht etablierten (vor allem muslimischen) Religionsgemeinschaften kann ein gemeinsames Ziel der Religionsgemeinschaften und der Kommunen sein.
Oftmals ist es schwierig, mit ethnischen und religiösen Gruppen zu arbeiten, die wegen Konflikten in ihren Herkunftsländern verfeindet sind. Im Alltag gehen sie sich vielleicht aus dem Weg. In einem Rat oder Runden Tisch der Religionen treffen sie notwendig aufeinander. Für den Umgang damit sind Satzungen hilfreich, die Bedingungen für Mitgliedschaft und im Extremfall auch Ausschlusskriterien benennen. Aber auch dies löst nicht alle Probleme, denn in jüngerer Zeit machen heftige interethnische beziehungsweise innenpolitische Konflikte etwa in der Türkei oder rund um den Nahost-Konflikt eine solche Verständigung schwierig, teilweise unmöglich. Hier besteht die Gefahr, dass bilaterale Konflikte zwischen den genannten Gruppen im Rat der Religionen ausgetragen oder dieser für ein friedliches Miteinander von Außenstehenden sogar seinerseits haftbar gemacht wird. Beides kann die Arbeit der Räte in der Innen- und Außenwahrnehmung fundamental gefährden.
Denkbar ist auch, dass Atheisten am interreligiösen Dialog teilnehmen
Das Leben in Deutschland muss eine Unabhängigkeit von den Frontlinien der Herkunftsländer mit sich bringen. Gewaltanwendung und Rechtsbrüche sind unbedingt zu ahnden und führen zum Ausschluss aus dem Dialog. Damit gilt umgekehrt aber auch das Prinzip: Wer sich vor Ort als fairer und verlässlicher Dialogpartner erweist, sollte nicht wegen Untaten seiner Gruppe oder Religion anderswo diskriminiert werden. Gerade in solchen Konfliktfällen ist die Unabhängigkeit von Wünschen, Verfahrenszwängen und einseitigen Parteinahmen von Kommunalpolitik und -verwaltung unabdingbar.
Zudem ist zu fragen, ob einige mögliche lokale Akteure (Hizmet-Bewegung, Aleviten, säkulare Kultur-Vereine etc.) sich überhaupt als religiöse oder nicht vielmehr als kulturelle Zusammenschlüsse verstehen. Im zweiten Fall sollte eine Mitgliedschaft in einem Rat der Religionen überdacht werden. Allerdings sind hier auch sehr weite Regelungen denkbar und praktikabel, etwa auch die Anwesenheit atheistischer oder anderswie weltanschaulicher Gruppen.
Problematisch sind für den Dialog insgesamt schlecht Deutsch sprechende geistliche Führungspersonen (Priester, Imame, Gemeindevorstände), die für den Dialog letztlich gar nicht zur Verfügung stehen, genauso aber auch der leider immer noch wachsende Antisemitismus, Hass auf Muslime, Christen oder religiöse Menschen überhaupt als Grundstimmung in der Gesellschaft.
Insgesamt wurde beim ersten Bundeskongress deutlich: Räte, Runde Tische und Foren der Religionen sind Einrichtungen, die eine gelebte Vielfalt vor Ort nicht nur postulieren, sondern mit allen Freuden und Problemen konkret und vorbildhaft leben. Sie sind damit lebendige Zeugnisse gegen den aktuellen Hang zu „identitären“ Welterklärungsmodellen, die sich über den Ausschluss oder die Diskriminierung andersartiger (oder als solche konstruierter) Menschen konstituieren.