Umnutzung von SakralgebäudenAlte Kirchen versilbern?

Mitte der Neunzigerjahre hat die Denkmalpflege das Problem der „überflüssigen Kirchen“ in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht. Mittlerweile ist daraus ein lukrativer Markt geworden.

Verfallene Kirche
© pixabay.de

Wer von Köln über die Autobahn auf den Europaplatz in Aachen zufährt, kann einen neugotischen Kirchenbau nicht übersehen, der aus dieser Perspektive das Stadtbild beherrscht. Am 22. Juni 2017 meldete die „Aachener Zeitung“: „Die Elisabethkirche wird zur ‚Digital Church‘ umgestaltet.“ Die mehr als 100 Jahre alte, unter Denkmalschutz stehende Kirche wurde 2016 entwidmet. Damit sei sie wieder zu einem „ganz normalen“ Bauwerk erklärt worden. Nach einem dreimonatigen Experiment als „Hotel total“ kann der Investor nun ein kommerzielles Nutzungskonzept vorweisen.

Im Zeitungsartikel heißt es: „Denn auch ohne göttlichen Segen soll die Kirche ein Ort der Begegnung bleiben – nur eben in erster Linie für kreative Köpfe aus dem Unternehmerbereich. Mit der ,Digital Church‘ hat der ,Digital Hub‘ seinen neuen Standort in Aachen gefunden. Gemeinsam mit der Landmarken AG hat das Aachener Digitalisierungszentrum einen sogenannten Co-Working-Space entwickelt, also einen gemeinschaftlichen Arbeitsplatz, an dem Menschen unterschiedlicher Unternehmen unter einem (Kirchen-)Dach zusammenfinden und flexible Arbeitsplätze anmieten.“

Dass die Kirche für Investor und Mieter keineswegs ein ganz normales Bauwerk ist, geht aus den jeweiligen Internetseiten hervor, wo es unter anderem heißt: „Der designierte neue Standort des digital Hub in der ehemaligen Kirche St. Elisabeth soll auch und gerade als Immobilie zum Leuchtturm des digitalen Wandels entwickelt werden.“ Neben dem Hauptmieter nutzt der Vermieter den ehemaligen Kirchenraum im Sinne eines Shared Space als „unabhängige Veranstaltungslocation“.

Zweifellos handelt es sich bei dieser Umnutzung aus der Sicht der neuen Nutzer um einen Gewinn. Nicht anders werden es die mittelständischen Unternehmen der Wirtschaftsregion sehen, und auch das Land Nordrhein-Westfalen, das noch vor nicht allzu langer Zeit eine Teilumnutzung der Kirche durch die Pfarrgemeinde gefördert hatte, beteiligt sich an dem neuen Konzept. Ein Spitzenpolitiker einer wirtschaftsnahen Partei war bei der Einweihung zugegen.

Die Gemeinden sollten die Gebäude nicht schnell aus der Hand geben

Die Verantwortlichen in der Pfarrgemeinde sind möglicherweise erleichtert, eine schwer zu vermarktende Immobilie los zu sein, und das Bistum kann eine neue Nachnutzungsvariante für ein obsoletes Kirchengebäude verbuchen. Selbst die Denkmalpflege dürfte mit dem nur durch einige reversible Eingriffe veränderten Gebäude zufrieden sein. Die figürlichen Kirchenfenster und einige der historischen Ausstattungsstücke, so die steinerne Kanzel und einige Seitenaltäre, sind im Raum verblieben.

So weit, so gut. Gibt es dabei also nur Gewinner? Selbstverständlich ist davon auszugehen, dass seit dem Schließungsbeschluss im Jahr 2012 verschiedene Nutzungsvarianten vor der Veräußerung und Entwidmung intensiv durchgespielt worden sind. Eine Teilumnutzung in kirchlicher Trägerschaft oder eine Mitnutzung durch eine benachbarte Kulturinstitution wurden aber aus Kostengründen verworfen. Außer einem Kindergarten hat die katholische Kirche hier keine Anlaufstelle mehr. Für die ehemaligen Gemeindemitglieder bleiben nur die äußere Hülle und – beim Besuch einer Veranstaltung – der Raumeindruck mit den verbliebenen sakralen Gegenständen.

Dieses Beispiel wurde ausführlich vorgestellt, weil sich daran einige grundsätzliche Fragen festmachen lassen. Sie haben einen Erfahrungshintergrund von etwa zwanzig Jahren. Mitte der Neunzigerjahre trat – angestoßen von der Denkmalpflege – das Problem der „überflüssigen Kirchen“ in das Bewusstsein der Öffentlichkeit. Seitdem findet ein teils schleichender, teils vehement vorangetriebener Erosionsprozess statt, der zuweilen Schlagzeilen macht, so zum Beispiel unter der Überschrift „Kirchenabrisse: Wir stehen erst am Anfang“ auf der Internetseite „katholisch.de“ am 6. Oktober 2017.

Nach Angaben der deutschen Bistümer wurden seit dem Jahr 2000 zwar „erst“ 140 von rund 24 000 Kirchengebäuden abgerissen, aber aller Voraussicht nach wird die Zahl bald drastisch ansteigen. Beim Abriss handelt es sich freilich um die ultima ratio einer ganzen Kette von Nutzungsvarianten, die von Weiternutzung für Liturgie und Spiritualität, als Kolumbarium oder für andere kirchliche Aktivitäten über Nutzungsteilung, Teilumnutzung, Profanierung und rein profaner Nutzung bis hin zum Teil- oder Ganzabriss reichen. Die 2003 von der Liturgiekommission der Deutschen Bischofskonferenz vorgelegten und derzeit in Überarbeitung befindlichen Leitlinien für die Umnutzung von Kirchengebäuden sehen vor, dass das ganze Spektrum durchgearbeitet werden muss, bevor man ein Gebäude aus der kirchlichen Trägerschaft entlässt. Die Erfahrung lehrt jedoch, dass man das Pferd zuweilen auch von hinten aufzäumt, etwa wenn ein williger Investor Gewehr bei Fuß steht.

Die Thematik wird inzwischen von unterschiedlichen Interessengruppen außerhalb der Kirchen verfolgt. Neben Lehrstühlen für Architektur oder für Kunstgeschichte gibt es inzwischen Spezialisten für Kirchenumnutzung im Bau- und Immobiliensektor. Offensichtlich besitzen Kirchengebäude eine große Attraktivität für ganz unterschiedliche Interessenten, zumal, wenn es sich um Gebäude aus der Zeit des Historismus handelt. Moderne Kirchenbauten finden in der Regel schwerer neue Liebhaber als Kirchen mit Gewölben und Spitzbogenfenstern. Dies hat natürlich verschiedene Gründe. Gern aber wird mit den Klischees des Sakralen („Wohnen unter Spitzbögen“) Werbung gemacht. Kirchenimmobilien sind, sofern sie in puncto Lage und Erscheinungsbild attraktiv erscheinen, ein lukrativer Markt geworden.

Nun ist dies freilich auch nichts grundsätzlich Neues. Zu allen Zeiten, nicht nur infolge der Säkularisation zu Beginn des 19. Jahrhunderts, wurden Kirchen aus unterschiedlichsten Gründen aufgegeben und umgewidmet. Wer aufmerksam durch die Straßen italienischer Städte geht, kann zahlreiche umgewidmete Oratorien und Kirchen entdecken. Sie dienen unter anderem als Wohnungen, Büros, Theater, Restaurants, Bars oder Werkstätten. Relativ neu ist besonders in nördlichen europäischen Ländern, neben Deutschland vor allem in den Niederlanden und in England, die große Zahl der zur Disposition gestellten Kirchen und vor allem die Entschlossenheit, sich möglichst schnell von ihnen zu trennen. Hier aber drängen sich grundsätzliche Anfragen auf.

Wem gehört eine Kirche? Die klassische katholische Antwort „dem lieben Gott“ erscheint auf den ersten Blick naiv. Immerhin heißt es aber im Weihegebet des Kirchweihritus über das Gotteshaus: „Es soll dir für immer gehören.“ Kann ein bischöfliches Dekret das ungeschehen machen? Der Bischof hat nach Kirchenrecht die Rechtshoheit, aber er ist nicht der Besitzer, ebenso wenig wie die Kirchengemeinde, die lediglich die Immobilie ihr Eigen nennen kann. Beim Kölner Dom sind die Besitzverhältnisse klar: Er gehört sich selbst! „Kirchweihe“ (dedicatio) bedeutet endgültige Übereignung und damit Entzug aus dem profanen Gebrauch. In einem geweihten Kirchenraum können daher nur Funktionen ausgeübt werden, die der höchsten Zweckbestimmung, der Gottesbegegnung in gemeindlichem Gottesdienst und persönlicher Spiritualität, nicht widersprechen. Der Ritus der Profanierung öffnet das Nutzungsspektrum zwar für „profane“ Zwecke, kann aber die durch über Generationen hinweg angereicherte geistliche Qualität des Raums nicht auslöschen. Auch die entwidmeten Kirchengebäude behalten eine sakrale Aura, derer sich die Nachnutzer im guten wie im schlechten Sinn wohl zu bedienen wissen.

Entgegen dem innerkirchlichen Trend, sich aufgrund der finanziellen und personellen Situation von Kirchengebäuden mehr oder weniger bereitwillig zu trennen, erfreuen sich Kirchen in der Gesamtbevölkerung einer erstaunlich großen Beliebtheit. Nach Umfrageergebnissen aus dem Jahr 2009 hatten nur etwa 15 Prozent keinerlei Beziehung zu Sakralbauten, während etwa die Hälfte den Besuch von Kirchen im Urlaub zu den beliebtesten Aktivitäten zählte. Im Gegensatz zum Befund in den Glaubensgemeinschaften nimmt die Relevanz von Kirchen als Identifikationsorte für die Zivilgesellschaft eher noch zu. Dies kann als ein Indiz für den der Globalisierung entgegengesetzten Trend zur Regionalisierung gedeutet werden, für den konkrete Orte an Bedeutung gewinnen.

Soll man also möglichst alle Kirchengebäude, die man vor allem aufgrund des Priestermangels nicht mehr sonntäglich nutzt, der Allgemeinheit zur Verfügung stellen, das heißt, sie auf den freien Markt werfen? Das wäre vielleicht für manche pfarrlichen und diözesanen Gremien ein Befreiungsschlag, würde aber in mehrfacher Hinsicht das Ziel verfehlen. Als das Erzbistum Berlin die von Rudolf und Maria Schwarz 1959 bis 1965 erbaute Kirche St. Raphael in Berlin-Gatow 2005 an einen Investor zwecks Errichtung eines Supermarktes veräußerte, war es neben Stimmen aus Architektur und Kunstgeschichte vor allem die Bevölkerung des Viertels, die sich dem Vorhaben, wenn auch ohne Erfolg, widersetzte. Zwar wird wohl nur ein Bruchteil von ihr die Kirche besucht haben, als Orientierungs- und Identifikationsort hatte das Gebäude für sie aber einen hohen Stellenwert. Die eigentlichen „Besitzer“ sind also all jene Menschen, die dem Gebäude eine besondere Bedeutung zuschreiben, potenziell also die gesamte dort wohnende oder verkehrende Bevölkerung. Dabei geht es keineswegs nur um den Erhalt der äußeren Hülle. Wie die Erfahrungen mit zahlreichen evangelischen Dorfkirchen in den östlichen Bundesländern seit der Wiedervereinigung zeigen, legen auch Kirchenferne Wert auf eine zumindest teilweise oder zeitweilige religiöse Nutzung des Raums. Auch für viele, die keine Kirchensteuer zahlen, stellen Kirchenräume einen Mehrwert dar, der nicht mit ihrem Gebrauchswert identisch ist, sondern gerade in ihrer prinzipiellen Unverfügbarkeit liegt. Vor allem aufgrund ihrer Zweck-losigkeit sind solche Räume für sie sinnstiftend. Der Marburger Theologe Thomas Erne spricht in diesem Zusammenhang von „hybriden Räumen der Transzendenz“.

Aus dem kaum zu beziffernden Mehrwert ergibt sich eine Verantwortlichkeit der Kirchen für ihre Sakralgebäude, die nicht mit der Profanierung und dem Verkauf erlischt. Bei der Veräußerung ist in jedem Fall Vorsicht geboten. So ist darauf zu achten, wem man ein solches Gebäude überlässt und ob die Vertragsgestaltung ein Einspruchsrecht gegen missbräuchliche Nutzung vorsieht. Besser wäre es freilich, die Gebäude, wenn eben möglich, nicht völlig aus der Hand zu geben. Hier gibt es ein großes Spektrum an Varianten, das selten in Betracht gezogen wird. Einem Investor, der gänzlich freie Hand haben will, um möglichst großen Profit zu erzielen, sollte man seine Kirche nicht zu schnell überlassen. Viele Investoren wären aber durchaus bereit, auch auf Dauer mit den Gemeinden zusammenzuarbeiten.

Ein beachtliches Modell einer gemeinsamen Nutzung ist in der evangelischen Kreuzeskirche in Essen verwirklicht. Eine größere Akzeptanz bei Umwidmungen findet sich oft dann, wenn der Ortsgemeinde wenigstens ein kleiner Andachtsraum erhalten bleibt, wie im Fall der zu Wohneinheiten umgenutzten Herz-Jesu-Kirche in Mönchengladbach-Pesch. Dies wird aber zuweilen von den Kirchenleitungen nicht gern gesehen, da man befürchtet, damit eine neue Zelebrationsstelle zu schaffen, die man doch gerade hatte abschaffen wollen. Beispiele dazu ließen sich aus verschiedenen Diözesen nennen.

Hier liegt womöglich einer der größten Problempunkte der katholischen Variante des Kirchensterbens. Die Neuordnung der pastoralen Räume ist oft von der Berechnung der Zuschnitte auf die Zahl der vorhandenen Priester bestimmt, wobei man gern schon einmal von der zu erwartenden Situation in 10 bis 20 Jahren ausgeht. Dies führt momentan dazu, dass sich mancherorts die Priester gegenseitig auf die Füße treten, trübt aber vor allem in tragischer Weise den Blick für die eigentlichen Fragen: Wie können wir Menschen ermutigen und befähigen, sich vor Ort als geistliche Gemeinschaft zu versammeln? Liturgie ist nicht gleich Eucharistiefeier und bedarf nicht unbedingt des kirchlichen Amtsträgers, so wünschenswert es auch ist, dass er mit seiner Gemeinde zusammen feiert, sei es die Eucharistie, das Stundengebet oder auch nur eine schlichte Andacht. Die Christinnen und Christen, die ermutigt und befähigt sind, miteinander ohne priesterliche Leitung an ihrem Ort Gottesdienst zu feiern, tun dies nicht nur für sich selbst, sondern stellvertretend und Fürbitte haltend auch für die vielen anderen Menschen, die mit dem auf diese Weise erhaltenen und belebten Sakralraum in einer inneren Beziehung stehen. Es handelt sich also um einen diakonischen Dienst, der in unserer immer mehr auseinanderdriftenden Gesellschaft nicht hoch genug geschätzt werden kann.

Korrespondenz von innen und außen

Dem Aachener Kirchenbau, der jetzt das Label „Digital Church“ vorzeigt, wenn man an ihm vorbei in Richtung Stadt einbiegt, hätte man für diesen nicht unproblematischen Stadtteil eine ehrlichere Botschaft geben sollen. Die verbliebenen Fenster, der Skulpturenschmuck und das Kreuz auf dem Turm lassen den Bau nun als Mogelpackung erscheinen, da zwar eine vertretbare Nachnutzung gefunden ist, die aber nicht mehr mit der Bauaussage samt den verbliebenen sakralen Gegenständen korrespondiert. Die Schaffung eines separaten Andachtsraums (Raum der Stille) mit einer entsprechenden Belebung durch die Ortsgemeinde, einen Verband oder Verein hätte hier allen gut getan, die Betreiber der „Digital Church“ eingeschlossen. Dann wäre die stets präsente Religiosität des Raums und im Raum nicht nur eine hübsche Reminiszenz an Vergangenes, sondern eine ständige Herausforderung zu verantwortetem Handeln, sei es beim Aufbau einer beruflichen Existenz in der digitalen oder bei der Organisation und Durchführung von Veranstaltungen in der realen Welt.

Dass es auch anders geht, zeigt ein Beispiel aus Bonn. Die ehemalige Pfarrkirche St. Helena im Bonner Norden, ein Bau von Emil Steffann und Gisbert Hülsmann der frühen Sechzigerjahre, wurde bis auf die Krypta-Kapelle im Erdgeschoss aus dem liturgischen Gebrauch genommen, aber nicht profaniert. Im Laufe eines Jahrzehnts hat sich dort ein „Dialograum für Gegenwartskultur und christlichen Kult“ entwickelt, der ein Forum künstlerischer und allgemein kultureller Aktionen in den unterschiedlichsten Sparten bildet. Indem die Kirche (in diesem Fall die Pfarrgemeinde, unterstützt von einem Trägerverein) den Raum zur Verfügung stellt und sich aktiv an den Veranstaltungen beteiligt, werden ihre Anliegen implizit eingebracht, auch da, wo Christliches nicht ausdrücklich thematisiert wird. Dies gilt insbesondere für Kunstinstallationen, die sich mit dem bis auf den verbliebenen Altar leeren Sakralraum auseinandersetzen, aber auch für Theaterprojekte oder Konzerte mit Literaturlesungen. Am Anfang war das Ergebnis noch nicht abzusehen, wohl aber war der feste Wille vorhanden, den in einem ähnlich schwierigen sozialen Umfeld wie beim Aachener Beispiel gelegenen Sakralraum nicht aus der Hand zu geben.

Zweifellos ist kein „Fall“ mit einem anderen identisch, und es kann auch nicht darum gehen, die für ein Umnutzungsprojekt Verantwortlichen, die nach bestem Wissen und Gewissen entschieden haben, im Nachhinein an den Pranger zu stellen. Wohl aber kann, ja muss man aus Erfahrungen lernen. Diese werden seit langem in unterschiedlichen Formaten und von unterschiedlichen Kompetenzen gesammelt, analysiert und ausgetauscht. Neben Qualifikationsarbeiten und Fachtagungen, veranstaltet etwa von wissenschaftlichen Einrichtungen, kirchlichen Institutionen oder von der Denkmalpflege, ist ein von der Wüstenrot-Stiftung ausgetragener Wettbewerb „Kirchengebäude und ihre Zukunft. Herausforderungen und Chancen“ zu nennen, der eine Reihe von inspirierenden Kirchennutzungen zutage gefördert hat. Die ausgezeichneten Beispiele gehen seit Frühjahr 2016 als Wanderausstellung durch die Republik.

All das kann nicht genügen, um in dieser diffizilen und diffusen Problematik weiterzukommen. Es lassen sich zwar viele Beispiele einer wie auch immer gelungenen Transformierung aufzeigen, doch gibt es wohl nicht weniger misslungene oder problematische Fälle. Vor allem ist zu bedenken, dass der Druck auf die Gemeinden in absehbarer Zeit gewaltig zunehmen wird: Diözesen, die bereits eine große Zahl an Kirchen aufgegeben haben, etwa das Bistum Essen, werden wohl eine noch größere Zahl zur Disposition stellen müssen. Andere, vor allem süddeutsche und österreichische Bistümer, die die Thematik bislang weitgehend ausgeklammert haben, werden bald damit konfrontiert. In der Schweiz befasst man sich in jüngerer Zeit ebenfalls stärker mit dem Problem. Eine Vernetzung national, international und interkonfessionell ist dringend notwendig, um die Transformationsprozesse der Sakralbaulandschaft nicht dem Zufall oder rein kommerziellen Interessen zu überlassen.

Eine solche Vernetzung wird seit langem vom Bonner Seminar für Liturgiewissenschaft angestrebt und soll sich bald in einer Expertengruppe konsolidieren. Dabei geht es um eine multiperspektivische Sicht, die methodisch zu einer möglichst optimalen Entscheidung für jeden Einzelfall führen soll. Hier spielen soziologische, ökonomische, architektonische und kunstwissenschaftliche Gesichtspunkte gleichermaßen eine Rolle. Der Horizont ist aber von der Praktischen Theologie (Pastoraltheologie, Religionspädagogik und Liturgiewissenschaft) vorgegeben, insofern die Prämisse gilt, dass auch ein nachgenutzter Raum eine religiöse Aussage tätigt – im Positiven wie im Negativen. Es geht aber letztlich darum, die weitgehend unbeachteten und brach liegenden Potenziale der sakralen Räume zu entdecken und fruchtbar zu machen, nicht nur ad intra für den binnenkirchlichen Raum, sondern auch und vor allem ad extra, in die plurale Gesellschaft hinein. Hier gibt es bereits zahlreiche Initiativen, etwa auf dem Feld der Kirchenraumpädagogik (vgl. HK, März 2006, 149–153), das Internet-Projekt „Straße der Moderne“ des Deutschen Liturgischen Instituts (vgl. HK, Juni 2016, 52) sowie diözesane Projekte (beispielsweise „Kirchennutzen“ des Diözesanrats der Katholiken im Erzbistum Köln). Gegen die verbreitete Rückzugsmentalität brauchen die Christinnen und Christen in Europa Aufbruchsimpulse. Dazu können die Kirchengebäude beitragen, wenn man sie denn nicht mehr vorrangig als Last, sondern als Lust, als „Leuchtturm“ weniger des digitalen Wandels als vielmehr der in der christlichen Heilsbotschaft verkündeten Humanisierung unseres Lebensraums erfährt und nutzt.

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