Die neue Große Koalition startet überraschend katholisch, so könnte man meinen. Einige frohlocken schon, weil im Kabinett nun evangelische Minister anscheinend durch jüngere und katholischere Köpfe ersetzt worden seien. Auf den engagierten evangelischen Christen Hermann Gröhe folgt der katholische Shooting-Star Jens Spahn im Gesundheitsressort, auf die unscheinbare Bildungsministerin Johanna Wanka folgt die unbekannte katholische Münsterländerin Anja Karliczek und schließlich rückt ZdK-Mitglied Julia Klöckner als Landwirtschaftsministerin ins Kabinett ein. Auch im Innenministerium folgt auf den evangelischen Thomas de Maizière der katholische Bayer Horst Seehofer. Während früher schlicht die Parität der Konfessionen Normalität war, ist in einer sich säkularisierenden Gesellschaft das christliche Bekenntnis an sich das Auffallende – ohne Folgen sollte das nicht bleiben.
Es waren nicht nur die Personen. In den ersten Tagen und Wochen im Leben der neuen Bundesregierung haben überraschend viele Themen eine Rolle gespielt, die ein besonderes Interesse von Christen hervorrufen. Und auch einige Zuspitzungen waren dann durchaus mit konfessionellen Färbungen versehen beziehungsweise riefen deutlichen Widerspruch oder auch Zuspruch der Kirche hervor. „Islam, Armut, Abtreibung“, schreibt der Spiegel-Kolumnist Jakob Augstein, „kaum im Amt, blinkt die GroKo schon nach rechts“. Doch was für den Publizisten „rechts“ oder „konservativ“ ist, entpuppt sich bei näherem Hinsehen durchaus auch als Positionsfeld des „Christlichen“. Mit der neuen Großen Koalition könnte eine neue Phase des „politischen Katholizismus“ beginnen, der sich deutlich stärkerer Kontroversen ausgesetzt sehen kann, als dies noch vor zwanzig Jahren der Fall war. Darin liegen Gefahren und Chancen. Die Gefahr der ideologischen Verhärtung und Politikunfähigkeit, und die Chance der Sichtbarkeit und Unterscheidbarkeit.
Beispielhaft dafür ist die aktuelle Debatte um den Paragrafen 219a, die überraschend den Start der neuen Regierung zu überschatten drohte (vgl. dieses Heft, 6). Die SPD-Fraktion hatte einen Antrag eingebracht, der die Abschaffung des Werbeverbots für Schwangerschaftsabbrüche vorsah. Ein scheinbar kleiner Eingriff in das gesetzliche Regelwerk, der aber den fragilen Kompromiss zur Abtreibungsfrage aus dem Jahr 1995 ins Wanken bringen könnte. Wenige Tage vor der Neuwahl der neuen und alten Bundeskanzlerin im Bundestag und dem Start der Regierung schien eine Absprache der Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder (CDU) und Andrea Nahles (SPD) den Weg frei zu machen, das Werbeverbot zu kippen. Der Leiter des Katholischen Büros, Prälat Karl Jüsten, zeigte sich enttäuscht, mit solch einem „Manöver zulasten des ungeborenen Lebens“ dürfe die Große Koalition nicht beginnen. Die Empörung auch in der Unionsfraktion war groß. Manche fühlten sich an die Einführung der sogenannten Ehe für alle erinnert, als vergangenes Jahr vor der Bundestagswahl die SPD mit wechselnden Mehrheiten ihre Position durchsetzte. Nun wollte sie wieder mit FDP, Grünen und Linken stimmen, um gegen die Union etwas zu erreichen. Dies wäre nicht nur ein Bruch des Koalitionsvertrags gewesen, sondern auch eine Düpierung des Partners.
Der Konflikt wurde zunächst vertagt, weil die SPD den Antrag zurückzog, und Kauder und Nahles sich auf eine Formel einigten, die nun der neuen Regierung einen Prüfauftrag in der Frage zuschiebt. Damit ist das Thema keineswegs vom Tisch. Ganz im Gegenteil: Die alten Gräben brechen erneut auf. Abzulesen ist das am Tonfall der Debattenbeiträge. Die SPD-Bundestagsabgeordnete Eva Högl twitterte: Man möge mal „die widerlichen ‚Lebensschützer*innen‘ in der Union in den Blick“ nehmen und kritisieren. Schweres Geschütz in so sensiblen Fragen. Inzwischen hat sie den Text gelöscht, doch die Erregungswelle ist seitdem gestiegen. Minister Spahn formuliert pointiert, manche würden den Tierschutz höher bewerten als den Schutz des ungeborenen Lebens. Bei Abtreibung gehe es nicht um eine normale ärztliche Leistung, deswegen sei das Werbeverbot richtig.
Polarisierung kann kein Selbstzweck sein. Zwar ist es richtig, Unterschiede sichtbar zu machen, es ist auch richtig, nicht nur in Sonntagsreden vom christlichen Menschenbild zu sprechen, sondern dies auch in praktische Politik zu übersetzen. Aber es scheint so, als ob die Sprach- und Diskursfähigkeit zum Christlichen in der Politik manchmal abhandengekommen ist und wieder erarbeitet werden muss. Lebensschutz ist nicht deswegen wichtig, weil er in der konservativen Wählerschicht positive Reflexe und auf der anderen Seite das Gegenteil auslöst, sondern er muss begründet und erklärt werden im Horizont des Grundgesetzes und unserer Werteordnung und darf nicht als verdächtiger Eskapismus und religiöses Sektierertum erscheinen. Nur wenn die Katholiken in der Politik wieder lernen, mit „katholischen“ Positionen in die ganze Gesellschaft zu wirken, stehen sie in der Tradition eines politischen Katholizismus, der die Bundesrepublik nach dem Krieg wieder aufgerichtet hat.
Kompromisssucher Lehmann
Das bedeutet Standhaftigkeit und keine Anbiederung, aber Kompromissfähigkeit ohne blinden Ideologismus. Für diese Haltung stand wie kein anderer: Kardinal Karl Lehmann. Dass ausgerechnet in den Tagen seines Todes über das schwierigste Thema seines politischen und kirchenpolitischen Wirkens diskutiert wurde, entbehrt nicht einer gewissen Tragik. Lehmann hatte seinerzeit beim Zustandekommen des neuen Abtreibungsrechts Bundeskanzler Helmut Kohl zur Seite gestanden, nach dem Abtreibungen rechtswidrig, aber unter gewissen Umständen nach einer Pflichtberatung straffrei sind. Diese Regelung war und ist aus verschiedenen Gründen in- und außerhalb der Kirche höchst umstritten. Dennoch ist sie heute eine der rigidesten Abtreibungsgesetzgebungen Europas, und sie hat zu einer gesellschaftlichen Befriedung geführt. Die innere Logik des Gesetzes gebietet ein Werbeverbot für eine gesetzeswidrige Tat, bei gleichzeitiger maximaler Hilfestellung für die betroffenen Frauen (und indirekt möglichst auch für die Väter).
Die aktuellen Zuspitzungen in der Debatte verdecken die Notwendigkeit für ein politisches Agieren, welches nicht nur den Effekt, sondern auch das Ergebnis in den Blick nimmt. Wenn es in der Frage des Werbeverbots im Bundestag zu einer Gewissensentscheidung kommen sollte, weil der Regierungsentwurf keinen Kompromiss ermöglicht und in der SPD manche auf eine Zuspitzung und Abgrenzung zur Union drängen, dann kommt es zum Schwur, ob die neuen und alten Katholiken im Bundestag in der Lage sind, ihre Position gebündelt vorzubringen.
Dazu können dann auch Abgeordnete von den Grünen, der FDP und der SPD gehören. Von SPD-Fraktionschefin Nahles wird gesagt, dass sie in der Sache keineswegs für eine Abschaffung des Werbeverbots sei. Übrigens ist die designierte SPD-Parteichefin auch Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK). Der zweit-wichtigste Liberale im Bundestag ist der Katholik Marco Buschmann. Als Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion ist er keineswegs klar und eindeutig auf der Linie von SPD-Politikerin Högl. Wenn in dem Fall die Union die Kompromisssuche scheut und lieber in dogmatischer Klarheit bei einer Abstimmung unterliegt, muss sie sich nicht wundern, wenn bald in Deutschland ein noch liberaleres Abtreibungsrecht eine Mehrheit findet.
Es stehen vor allem aufgrund des technischen und medizinischen Fortschritts in den kommenden Jahren noch einige ethische Fragen auf der Agenda. Erstaunlicherweise findet sich im neuen Koalitionsvertrag zur Bioethik nichts. Die Veränderungen in der Reproduktionsmedizin sind so rasant und teilweise verstörend, dass es wichtig wäre, frühzeitig hier Allianzen zu bilden. Es gab in den Neunzigerjahren, angebunden an die Katholische Akademie in Berlin, einen so enannten „katholischen Club“. Hier haben katholische Politiker aller Fraktionen sich zunächst einmal im Modus des Klüger-Werdens mit bioethischen Themen beschäftigt. Diese Zusammenarbeit führte dann später dazu, dass sich in der Stammzelldiskussion strengere Positionen durchgesetzt haben. Wäre es nicht an der Zeit, solche Thinktanks und Debatten-Zirkel wiederzubeleben, keineswegs aus konfessioneller Verengung, wohl aber aus einem gemeinsamen Anliegen heraus, eine gemeinsam geteilte Basis nutzbar zu machen für die alltägliche Politik?
Sicher muss es auch eine Parteienprofilierung geben, so wie sie sich die SPD mit Nahles und die neue CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer (ebenfalls Katholikin) vorgenommen haben. Das Christliche und das Katholische taugen hingegen nur bedingt zur parteipolitischen Profilierung, wohl aber zur Profilierung einer Politik, die in den Augen mancher Beobachter eine Grundlage und ein Fundament verloren hat. Eine solches Sichtbarmachen von christlicher Kontur ist dann auch ein probates Mittel gegen die rechte Oppositionspartei im Bundestag, die das Christliche absurderweise als kulturelle und nationale Größe zu vereinnahmen versucht. Das Werbeverbot für Abtreibungen könnte dafür ein Prüfstein sein. Andere ethische und religionspolitische Fragen, wie etwa die Haltung zum Islam, müssen folgen.