Zum Verhältnis von Tradition und Kritik im IslamZurück in die Gegenwart

Im Islam besitzen Handlungen und Gedanken nur dann Gültigkeit, wenn sie als bereits vorausgegangene Phänomene nachgewiesen sind. Das hat zu einer geschlossenen Rationalität geführt und macht Kritik schwierig. Es lassen sich daraus aber auch neue Chancen ableiten.

Muslima
© pixabay.de

Von Tradition zu sprechen, hat Konjunktur. Von islamischer Tradition zu sprechen erst recht. Der Häufigkeit, mit der über Tradition geredet wird, steht die immense Breite und Unschärfe ihrer Thematisierung gegenüber. Auf systematische Zugänge zum Phänomen von Traditionalität stößt man dagegen selten. Und das in einer Zeit, die von vielen als „post-traditional“ (vgl. Anthony Giddens, Tradition in der post-traditionalen Gesellschaft, in: Soziale Welt 44.4 [1993] 445–485) oder „ent-traditionalisiert“ bezeichnet wird (vgl. Karl Gabriel und Dietrich Wiederkehr, Wie geschieht Tradition?, Freiburg 1991). Darunter wird verstanden, dass Tradition in der Moderne jene selbstverständliche Geltungskraft als soziale Orientierungsgröße verloren hat, die sie in früheren Gesellschaften und über Jahrhunderte hinweg noch ausstrahlen konnte.

Während die europäischen Gesellschaften ihren Sinn für Traditionen verloren haben, haben ihn orientalische Gesellschaften bewahrt: Muslime leben nach wie vor in traditionalen Beziehungs- und Bedeutungsstrukturen, so zumindest ist die gängige Wahrnehmung.

Der Religionssoziologe Max Weber hat zwischen rationaler und traditionaler Gesellschaft unterschieden. Und spätestens seit seiner Unterscheidung, die vereinfacht in eine Gegenüberstellung moderner und traditionaler Gesellschaften überführt wurde, wird Tradition schlechthin als Gegenbegriff zur Moderne verstanden (vgl. Wolfgang Schluchter, Einleitung. Zwischen Welteroberung und Weltanpassung. Überlegungen zu Max Webers Sicht des Islams, in: Schluchter [Hg.], Max Webers Sicht des Islams. Interpretation und Kritik.,Frankfurt 1989, 11–124). In ihrer Lebensführung werden Muslime also zu Sinnbildern der Anti-Moderne.

Dass der Widerspruch von Tradition und Moderne ein beliebtes Vorurteil darstellt, hat hingegen jüngst der Traditionstheoretiker Thomas Winter in überzeugender Weise deutlich gemacht (Traditionstheorie. Eine philosophische Grundlegung, Tübingen 2017, 42). Als weitere Vorurteile benennt Winter Widerspruch zur Rationalität, Widerspruch zu Innovation, die konservative Vereinnahmung sowie die Wesenslosigkeit von Tradition. Die Moderne zeichne sich nicht dadurch aus, dass sie traditionslos sei, sondern im Gegenteil durch eine enorme Vielfalt in Frage kommender Traditionen. Diese zwingen den modernen Menschen jedoch, eine bewusste Entscheidung im Hinblick darauf zu treffen, welcher Tradition er folgen möchte.

Mehrfachzugehörigkeiten müssen hierarchisiert werden

Gerade die Konfrontation mit der Wahlmöglichkeit raubt der Tradition vermeintlich ihre Stärke: in die Fußstapfen der Vorausgegangenen zu treten und dem folgen zu können, was sich in Moral und Recht als schicklich bewährt hat, ohne vor die Qual einer eigenen Entscheidungsleistung gestellt zu werden. Einerseits die Mehrzahl an möglichen Traditionen und andererseits der Mangel an Bindungskraft jeder einzelnen Tradition machen das Verhältnis von Tradition zur Moderne so komplex. Tradition bedeutet aus dieser Perspektive heraus in erster Linie Entlastung. Aus dem gleichen Impuls heraus geschieht aktuell die Verklärung von Vergangenheit, als ob es zu früheren Zeiten jene Eindeutigkeit gegeben hätte, nach der heute gesucht wird.

Die Frage nach der Bedeutung und dem Gehalt von Traditionalität betrifft Muslime in zweifacher Hinsicht. Einerseits betrifft sie sie als soziale Subjekte in europäischen Gesellschaften, die geradezu auf dem Weg sind, ihre Narrationen kollektiver Identität neu zu konstituieren. Diese Dynamik verlangt von den von ihr eingeholten Subjekten, individuelle Mehrfachzugehörigkeiten klar zu hierarchisieren, wenn nicht gar eine einzige Zuschreibung zur bedingungslosen Primäridentifikation sichtbar zu machen. Die ursprünglich nicht konfliktfrei, aber überwiegend reibungslos in einer Person zusammenfallenden Zugehörigkeiten weichen einem Paradigma der Unvereinbarkeit. Der aktuelle Verweis auf Tradition wird insofern auf den Bedarf nach identitärer Gewissheit hin funktionalisiert und Tradition gerade dadurch entfremdet.

Die zweite Hinsicht, die Muslime im Hinblick auf Traditionalität betrifft, leitet sich dezidiert aus einem religiösen Bezug ab. Mit den Überlieferungen Muhammads zählt der islamische Textkorpus eine Gattung zu seinen Grundelementen, die sich gerade aus der Fülle unendlich erscheinender tradita zusammensetzt.

Trotz der Tragweite dieser Struktur islamischen Glaubens- und Religionsverständnisses, gestaltet sich eine Suche danach, was islamische Tradition dem Gehalt nach bedeute, ausgesprochen mühevoll. Systematische Abhandlungen im Sinne einer stimmigen Traditionstheorie oder auch nur einer hermeneutischen Reflexion über Tradition, die Bezug nimmt auf einen muslimischen ideengeschichtlichen Kontext, sind rar, womöglich überhaupt nicht aufzufinden.

Einen der wenigen Ansätze zur Frage von Traditionalität im islamischen Kontext stammt von dem deutschen Orientalisten Johann Fück aus dem Jahr 1939 (Die Rolle des Traditionalismus im Islam, in: Zeitschrift der deutschen morgenländischen Gesellschaft 93 [n.F. 18], Nr. 1/2 [1939] 1–32). Ausgangspunkt seiner Untersuchung bildet die Frage, woher die Einheitlichkeit der islamischen Kultur zu begründen ist. Jene Einheitlichkeit ist Fücks Auffassung nach nicht gekennzeichnet durch das gemeinsame Bekenntnis, sondern äußere sich in einer „gleichen seelischen Haltung und in dem gleichen Lebensstil, welcher über den Bezirk des im abendlichen Sinne Religiösen weit hinausreichend alle Gebiete des persönlichen und öffentlichen Lebens durchdringt“. Die Ursache dieser seelischen Haltung und des gleichen Lebensstils, so folgert Fück weiter, hänge mit der Vorbildlichkeit des Propheten Muhammad und deren Institutionalisierung als tradita (Sunna) zusammen. Hier entdeckt Fück den „Geist des Traditionalismus des Islams“, dessen generationelle Wiederholung durch ewige Restauration der prophetischen Sunna gewährleistet werde.

Präzedenzparadigma

Fücks Ausführungen sind deshalb bemerkenswert, weil er zum einen deutlich macht, dass die Wahrnehmung dessen, was Religiosität definiert und wie sie in Gesellschaften eingeflochten ist, kulturell höchst unterschiedlich ausfallen kann. Zum anderen erhebt er den Traditionalismus, in dem Moment, wo er ihn als Vehikel der Wahrung der prophetischen Vorbildlichkeit identifiziert und diese Vorbildlichkeit seiner Auffassung nach „das Wesen des Islams“ ausmache, selbst zum unabdingbaren Kern islamischer Religiosität. Der Geist des Traditionalismus wahre demnach das Spezifikum islamischer Glaubensauffassung, sprich: die in der Sunna weitergetragene und ewig aufrechtzuerhaltende Vorbildlichkeit des Propheten. Die Tragweite dieser These ist sowohl für die innere Deutung durch Muslime als auch die äußere Wahrnehmung des Islams gewaltig – und ihr soll in gewisser Weise zugestimmt und in anderer widersprochen werden.

Was Fück in seinen Ausführungen zum Traditionalismus des Islams nicht unternimmt, ist dessen Spiegelung in einer begründeten Reflexion oder Traditionstheorie. Anhand einer breiten Kenntnis frühislamischer Geschichte gelingt es ihm zwar, eine nachvollziehbare Chronologie der historischen Entstehung der sogenannten islamischen Überlieferungswissenschaften zu zeichnen. Auch seine Überlegungen zur Etablierung der prophetischen Sunna, ihrer epochalen Restaurierungen durch den Traditionalisten Imām Ahmad im 9. Jahrhundert, durch den Revisionisten Ibn Taymiyya im 14. Jahrhundert oder durch den Begründer des Wahabismus Muhammad ‘Abd al-Wahhāb im 18. Jahrhundert, sind überaus lohnenswerte Gedankengänge. Aber sie bilden noch keine Traditionstheorie des Islams. Fück unterscheidet weder zwischen den Begriffen Überlieferung, Tradition und Traditionalismus, noch führt er aus, in welchem Bezug dazu die Lehre der Vorbildlichkeit Muhammads zu setzen ist.

Und doch bieten Fücks Gedanken erste wichtige Indizien dafür, wie sich der Idee einer Traditionstheorie in islamischem Kontext sinnvoll angenähert werden kann. Denn Fück weist indirekt auf ein Spezifikum islamischen Traditionssinns hin, welches hier als Präzedenzparadigma bezeichnet werden soll. Es ist jene Bedingung aller islamischer Legitimation, dass jede materielle Handlung und jeder abstrakte Gedanke nur dann eine Gültigkeit besitzen, wenn sie als bereits vorausgegangene Phänomene nachgewiesen worden sind.

Bewusst wird der Bezug des Präzedenzparadigmas hier nicht auf das Vorbild Muhammads reduziert; die starke Fokussierung auf Muhammad als Referenzpunkt dieser Präzedenzorientierung in der islamischen Lehre ist offensichtlich, aber sie ist nicht ausschließlich. Die muslimische Präzedenzorientierung richtet sich beispielsweise auch auf das nahe Umfeld Muhammads, die sogenannten Gefährten, und weitergehend auch auf andere Protagonisten der islamischen Geistesgeschichte, denen besondere Autorität zugeschrieben wird. Ausschlaggebend dafür, als Person zum Muster der moralischen Orientierung zu werden und damit also eine Tradition zu initiieren, scheint das Erbringen einer außergewöhnlichen Stiftungshandlung zu sein.

Ursache wichtiger als Verursachtes

Die ausschlaggebende Ursache für das Entstehen dieses besonderen Traditionssinns im Islam ist dagegen schwer zu rekonstruieren. Er mag kulturell bedingt und dem orientalischen Entstehungskontext geschuldet sein. Ihn per se in religiösen Begründungen zu suchen, wäre verfrüht. Die Idee beispielsweise, der Ursprung einer Sache habe immer einen Vorrang vor denjenigen Entitäten, die aus ihm heraus entstünden, ist zutiefst platonisch. Das Präzedenzparadigma baut genau auf einer solchen Vorstellung der Höherwertigkeit der Ursache vor dem Verursachten auf. Genauso wie die griechische Emanationslehre Einzug in bestimmte theosophische Stränge der mittelalterlichen islamischen Theologie gefunden hat, wäre es nicht weit hergeholt anzunehmen, die platonische Idee der Lehre von Ursprung und Wirkung hätte gleichermaßen für das Modell des islamischen Traditionalismus einflussreich sein können.

Für die These, das islamische Präzedenzparadigma sei ein Ergebnis der religiösen Lehre, spricht wiederum das zielgerichtete Existenzverständnis von Religion. Demnach ist der Mensch durch den bewussten Schöpfungsakt Gottes ins Leben gerufen worden, und er wird schließlich durch sein Urteil gerichtet. Diesem Narrativ liegt eine kontinuierliche Zeiterfahrung zugrunde, die durch den Zyklus von wiederkehrenden Gesandten und Propheten gespiegelt wird. Die Besonderheit des islamischen Traditionssinns besteht daher nicht darin, wie Fück angenommen hat, die Vorbildlichkeit Muhammads zu postulieren, sondern in der Aussage, er sei das Siegel aller Propheten. Die ursprünglich kontinuierliche und gleichzeitig zyklische Zeiterfahrung muss jäh an der Vorstellung zerbrechen, dass alle Existenz auf ein Ende zugeht.

Diese Vorstellung, unausweichlich auf ein Ende zuzugehen und gleichzeitig im Bewusstsein zu tragen, dass an diesem Punkt zwingend jene Weisungen zur Rettung führen, die mit dem Tod Muhammads als Siegel der Offenbarung versiegt sind, führen zu jener Haltung, die sich begründeter als Geist des islamischen Traditionalismus definieren ließe: Das Risiko des Verlustes der prophetischen tradita rechtfertigt jede noch so törichte Störrigkeit. Als Offenbarungsgemeinde Muhammads tragen Muslime – freilich in einem streitbaren Selbstverständnis – nicht bloß die Verantwortung für ihre eigene Traditionserhaltung; in der Wahrnehmung, die letzte Offenbarungsgemeinde zu sein, die „Gemeinde der Mitte“, wie es der Koran formuliert, wähnen sie zugleich die Bürde aller Offenbarungsgemeinschaften zu tragen.

Affirmation durch Dekonstruktion

Es ist der Arbeit des zeitgenössischen marokkanischen Intellektuellen Muhammad Abed al-Jabri zu verdanken, dieses spezifische Verständnis des islamischen Traditionssinns erkannt und einen kritischen Diskurs dazu unter muslimischen Geistlichen und Religionsgelehrten initiiert zu haben. In seiner „Kritik der arabischen Vernunft“ moniert al-Jabri, dass Tradition in der gegenwärtigen islamischen Welt nicht mehr bloß einen Pfad beschreibt, der Orientierung durch dynamischen Selbstvollzug gewährt, sondern dass Tradition zu einer geschlossenen Rationalität geworden ist, die keine andere Rationalität außerhalb von sich duldet. Al-Jabri wendet sich explizit nicht gegen die islamische Tradition als solche, er will keinen Bruch mit der Tradition herbeiführen. Er ruft jedoch dazu auf, „ein traditionelles Verständnis der Tradition“ aufzugeben (Kritik der arabischen Vernunft. Die Einführung. Naqd al-‘aql al-‘arabi, Berlin 2009). Seine Herangehensweise bezeichnet er als „disjunktiv-rückbindende Methode“, und er beschreibt sie als einen Prozess der Affirmation durch Dekonstruktion.

Diese Formulierung erinnert sowohl inhaltlich als auch sprachlich stark an Martin Heideggers Begriff der „Destruktion der Tradition“ beziehungsweise des „kritischen Abbaus der Tradition“ (vgl. Winter, 81–85).

Heideggers Hermeneutik gegenüber Tradition ist eine Hermeneutik des Verdachts. Dem menschlichen Bedürfnis nach Bequemlichkeit und Entlastung nachgebend, tendiere Tradition notwendig dazu, in den Augen der Rezipienten die Potenzialität von Vergangenheit auf ein einfältiges Resultat zu reduzieren. In der Folge wird geschichtliche und sittliche Eindeutigkeit suggeriert, wo nie eine bestand. Eine solch unangemessene Adaption von Tradition führe zu „Möglichkeitsblindheit“, was wiederum zu einem selbstvergessenen Dasein überleite (Winter, 71). Vor diesem Hintergrund weist Heideggers Destruktionsbegriff eine erstaunliche Ähnlichkeit zu al-Jabris „disjunktiv-rückbindender Lesart“ auf: Die Erschließung der Verdeckungsgeschichte von Tradition sei die einzige Möglichkeit, die eigentliche Bedeutung und den ursprünglich ausgehenden Sinn von Tradition als Orientierung durch Selbstaneignung zu ermitteln.

So wie Heidegger sieht auch al-Jabri in der Dekonstruktion von Verdeckungsschichten von Tradition das Mittel zu ihrer eigentlichen Bergung. Heidegger nennt jedoch auch zwei Bedingungen für diesen Prozess. Erstens müssten die Texte überliefert sein, auf denen sich eine Tradition ursächlich gründe. Zweitens müssten die Texte die Erschließung einer Sinneinheit ermöglichen, um an Bedeutungsursprünge im Moment ihrer Stiftungen herantreten zu können (Winter, 83). Diese zwei Bedingungen scheinen durch die penible muslimische Überlieferungspraxis zumindest theoretisch erfüllbar zu sein. Die Kontinuität, mit der muslimische Gelehrte über Jahrhunderte hinweg Texte und deren Auslegungen bewahrt haben – man denke nur an die Textkontinuität des Korans –, ist überaus eindrucksvoll und vielleicht als eine der größten Kulturleistungen des Menschen zu betrachten. Die zwei Voraussetzungen, die Heidegger als Bedingungen für eine freilegende Erschließung von Tradition benennt, liegen im Hinblick auf die muslimische Überlieferungskultur weitestgehend vor.

Im Sinne Heideggers wie auch al-Jabris, Tradition als einen Prozess der Aneignung durch Dekonstruktion zu verstehen – daraus ergeben sich für das islamische Religionsbewusstsein der Gegenwart neue Chancen, einen solchen Prozess der selbstvollzogenen, das heißt kritischen Aneignung von Tradition auf breiter Gemeinde- und Gesellschaftsebene einzuleiten. Al-Jabri hat dafür einen ersten Grundstein gelegt, weitere Anstrengungen müssen folgen.

Anzeige: Geschichte der Päpste seit 1800. Von Jörg Ernesti

Die Herder Korrespondenz im Abo

Die Herder Korrespondenz berichtet über aktuelle Themen aus Kirche, Theologie und Religion sowie ihrem jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld. 

Zum Kennenlernen: 2 Ausgaben gratis

Jetzt testen