Suche Frieden“: Das Leitwort des Katholikentages in Münster klingt nach überraschungsfreier Gesinnungsethik. Wer sucht schon den Krieg? Sicherlich nicht die Teilnehmer des Treffens, die – so das Klischee – gerne Hand in Hand vom kleinen Senfkorn Hoffnung singen. Ist also zu erwarten, dass vom 101. Katholikentag nur der Eindruck bleibt: Frieden suchen, Eierkuchen?
Die 170-jährige Geschichte der Veranstaltung macht in dieser Hinsicht Hoffnung, denn sie ermuntert zum Streit. Heftige Diskussionen über den richtigen Weg zum Frieden zählten zu ihren spannendsten Momenten. Dabei gab es nicht nur neue Impulse zu Fragen, die bis heute aktuell sind; oft wurden auch Strömungen des Katholizismus sichtbar, die bis dahin an den Rand gedrängt und unterdrückt worden waren.
Katholikentage solidarisierten sich mit den Krieg führenden Päpsten
Debatten über Krieg und Frieden markieren daher entscheidende Schritte auf dem Weg zur Vielfalt des Katholischen, wie sie heute auf den Laientreffen zu erleben ist. Oft suchten die Katholikentage den Frieden und hinterfragten gegen den herrschenden Zeitgeist Militarismus und Nationalismus. In entscheidenden Momenten verloren sie ihr Ziel aber auch aus den Augen. Das hatte weitreichende Folgen, denn der Katholizismus, wie er sich auf den Laientreffen präsentierte, besaß einen großen Einfluss auf Entscheidungen in Politik und Gesellschaft.
Geboren wurden die Katholikentage bezeichnenderweise in Unfrieden, als uneheliches Kind der Kirche mit der Revolution von 1848. Die katholischen Laien nutzten die neuen Freiheitsrechte, um vereint gegen die staatliche Gängelung der Kirche zu kämpfen. Es störte sie wenig, dass die Päpste ebendiese Freiheitsrechte, als Ideen der kirchenfeindlichen Französischen Revolution, immer wieder verteufelt hatten. Einige der 83 Vereinsvertreter, die sich zum ersten Katholikentag in Mainz trafen, sympathisierten sogar mit den radikalen Demokraten. Um unnötigen Streit zu vermeiden, wurden politische Themen aus den Beratungen ausgeklammert. Als das Scheitern der Revolution abzusehen war und die Regierungen den Kirchen zugleich mehr Freiheiten in Aussicht stellten, machten die meisten Katholiken ihren Frieden mit den alten Monarchien.
Der zweite Katholikentag fand im Frühjahr 1849 in Breslau statt, wo nach blutigen Barrikadenkämpfen immer noch Unruhe herrschte. An den Katholiken lag das nicht. „Wäre ganz Breslau ein katholischer Verein, so gäbe es keinen Belagerungszustand“, lobte sie die preußische Militär- und Polizeibehörde.
Der Krieg wurde in dieser Zeit als letztes Mittel der Politik nur selten hinterfragt. Die traditionelle Lehre der katholischen Kirche umfasste zwar etliche Kriterien für einen „Gerechten Krieg“, taugte aber kaum als Basis für einen gerechten Frieden: Die Päpste lehnten Demokratie und Menschenrechte vehement ab, Religions- und Gewissensfreiheit galten ihnen als „pesthafter Irrtum“, Protestanten wurden als Ketzer diffamiert. Die Sklaverei verdammte Papst Leo XIII. erst nachdrücklich, nachdem auch das katholisch geprägte Brasilien sie 1888 endlich abgeschafft hatte.
Darüber hinaus führten Päpste als weltliche Herrscher des Kirchenstaates sogar selbst Kriege – und die Katholikentage solidarisierten sich mit ihnen, etwa 1860 in Prag, als Truppen des Königreichs Sardinien gegen den Kirchenstaat vorrückten. Ein Antrag, dem Papst Asyl in Deutschland anzubieten, wurde fallen gelassen, weil Pius IX. erklärt hatte, unter allen Umständen in Rom bleiben zu wollen. Der Theologe Friedrich Michelis versicherte aber den päpstlichen Soldaten, die in der Festung Ancona ausharrten: „Ihr werdet es sein, von denen man sagen wird, dass ihr alles beigetragen habet, um diesen Sieg der Kirche auf Erden zu erkämpfen.“ Der folgende Redner, der für die finanzielle Unterstützung des Papstes warb, fühlte sich dabei „mit einem empfindlichen Schmerze durchzuckt“, denn zwei seiner Söhne kämpften gerade aufseiten des Kirchenstaates.
Zwei Tage später fiel die Festung Ancona. Der Papst verlor einen Großteil seines Herrschaftsgebietes, zum Entsetzen vieler deutscher Katholiken – aber nicht aller: Der Kirchenhistoriker IgnazDöllinger wagte zu behaupten, das Ende des Kirchenstaats sei vielleicht gar kein schlimmer Verlust. Auf dem folgenden Katholikentag 1861 in München musste er einen Rückzieher machen, indem er das als Missverständnis hinstellte.
Zum Nationalismus, mit dem ihre Zeitgenossen zahlreiche Kriege rechtfertigten, wahrten die meisten Katholiken Distanz. Schließlich drohten nationalistische Bewegungen den Kirchenstaat zu vernichten und das Vielvölkerreich der katholischen Habsburger zu zerreißen. Die Katholikentage hielten dagegen engen Kontakt zu Gläubigen anderer Länder, die auch als Redner willkommen waren.
1860 fand das Treffen nicht zufällig in Prag statt, das damals sowohl zum Deutschen Bund als auch zu Österreich gehörte. Die Versammlung werde „an einem erhebenden Beispiele zeigen, wie das Christentum die Nationen vereinigen soll“, hieß es in der Einladung. Öffentliche Versammlungen fanden sowohl in deutscher als auch in tschechischer Sprache statt. Präsident der Versammlung wurde Graf Heinrich O’Donell, dessen Vorfahren aus Irland geflohen waren. Er erinnerte an das Pfingstereignis: Christen „aus allen Stämmen“ seien „wie ein Herz und ein Sinn“ gewesen. „Wohl muss man zugeben, dass diese idealen Zustände in weite Ferne gerückt sind, aber sie sind ein Vorbild, ein Ziel, nach welchem wir zu streben haben.“
Zu den Katholikentagen kamen in dieser Zeit nur einige hundert Vereinsvertreter zusammen. Sie repräsentierten nicht das gesamte Spektrum des Katholizismus in Deutschland, sondern die ultramontane, am Papst orientierte Strömung. Gestritten wurde trotzdem. Michelis’ Antrag, eine Denkschrift „über das Verhältnis der germanischen Völker zu den romanischen und slawischen vom katholischkirchlichen Standpunkte aus zu veranlassen“, wurde zum Beispiel mit deutlichen Worten abgelehnt.
Die Reichseinigung 1871 war kaum ein Thema
Die Einigung Deutschlands unter Führung des protestantischen Preußen beobachteten die Katholikentagsteilnehmer überwiegend mit Sorge, wünschten sie sich doch eine „großdeutsche“ Lösung mit einem starken Österreich. 1864 eroberten Preußen und Österreich gemeinsam Schleswig und Holstein von den Dänen; der folgende Katholikentag begrüßte „mit innigstem Dank gegen Gott die Siege der deutschen Waffen, welche einen bedrängten Stamm dem gemeinsamen Vaterlande wieder gewonnen haben“. Als zwei Jahre später aber Preußen gegen Österreich siegte, reagierten viele Katholiken entsetzt. Zum nächsten Katholikentag trafen sie sich 1867 demonstrativ im österreichischen Innsbruck. Schon in der Einladung war von „erschütternden“ und „schmerzlichen“ Ereignissen die Rede.
1871 ging dann der Katholikentag in Mainz auf die Reichsgründung nach dem Deutsch-Französischen Krieg in seinen Resolutionen überhaupt nicht ein, er konzentrierte sich auf die Forderung, den endgültig von Italien eroberten Kirchenstaat wiederherzustellen. Erst beim abschließenden Festmahl erklärte der gastgebende Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler: „Wir verhehlen nicht, dass wir mit der Art und Weise nicht einverstanden sind, wie das Deutsche Reich zustande gekommen ist.“ Er verwahrte sich aber gegen den Vorwurf, die Katholiken seien Reichsfeinde ohne Vaterlandsliebe, und brachte ein Hoch auf den Kaiser aus.
Reichskanzler Otto von Bismarck bezweifelte die „nationale Zuverlässigkeit“ der Katholiken trotzdem, zumal sich die neu gegründete katholische Zentrumspartei im Reichstag mit Polen, Elsässern und Hannoveranern verbündete. In den folgenden Jahren führte sie einen innenpolitischen Verteidigungskrieg gegen immer neue Sondergesetze, mit denen Bismarck und die mit ihm verbündeten Nationalliberalen die Kirche zu kontrollieren versuchten. Wegen dieses sogenannten Kulturkampfes verübte der katholische Böttchergeselle Eduard Kullmann 1874 ein Pistolenattentat auf den Reichskanzler und verletzte ihn leicht an der Hand.
Die Teilnehmer der Katholikentage lehnten Gewalt dagegen unmissverständlich ab; sie übten sich im zivilen Ungehorsam sowie im passiven Widerstand. Die Kirche werde sich „niemals einer Gesetzgebung fügen, welche ihrer von Gott gegründeten Verfassung widerspricht“, hieß es in einer Resolution, ihr Weg sei jedoch „allein der Kreuzweg“. Unter dem Druck von außen formte sich der Katholizismus endgültig zu einer mächtigen politischen und sozialen Kraft, und die Katholikentage entwickelten sich zu Massenveranstaltungen. Andere Strömungen, die etwa den Ausgleich mit dem preußisch dominierten Staat suchten, wurden allerdings rigoros ausgegrenzt.
Bismarck schürte unterdessen die Angst, Frankreich könne einen Revanchekrieg anzetteln. 1887 verlangte er vom Reichstag, erneut ein Septennat zu bewilligen, also den Militärhaushalt auf sieben Jahre. Hinter dem Rücken der Zentrumspartei verhandelte der Reichskanzler mit dem Papst, der die katholischen Abgeordneten schließlich aufforderte, dem Septennat zuzustimmen. Leo XIII. hoffte im Gegenzug auf ein Ende des Kulturkampfes. Doch die Zentrumspartei unter ihrem Führer Ludwig Windthorst demonstrierte ihre Unabhängigkeit. Das Septennat hätte eine Schwächung des Parlaments und unkontrollierbare Ausgaben für die Rüstung bedeutet. Das konnte Windthorst weder seinen katholischen Wählern verkaufen noch den Linksliberalen, mit denen er häufig zusammenarbeitete. Weil es ohne die katholische Partei keine Mehrheit für das Septennat gab, löste der Kaiser den Reichstag auf; erst die Neuwahl brachte eine Mehrheit für die Regierungsvorlage.
Trotz der Renitenz der Zentrumspartei wurde der Kulturkampf noch 1887 weitgehend beigelegt. In der Folge schwanden die Vorbehalte der deutschen Katholiken gegenüber dem Militarismus und Nationalismus des Kaiserreichs nach und nach. Schon 1890 stimmte die Zentrumspartei neuen Aufrüstungsplänen zu, nicht zuletzt, um sich beim neuen Reichskanzler Leo von Caprivi beliebt zu machen. Windthorst rechtfertigt die Wende auf dem Katholikentag in Koblenz: „Wenn es gilt, den Boden des Vaterlandes zu verteidigen und unsern schönen Rhein, so gibt es keine Parteien in Deutschland.“ Jede Rüstungsausgabe sei ein Malheur – aber dennoch oft notwendig. Zugleich forderte Windthorst, den Papst als Friedensvermittler in internationalen Konflikten anzuerkennen – eine Kompensation für die Zustimmung zur Rüstungspolitik, die in der katholischen Wählerschaft offenbar nicht populär war.
Auch mit dem Kolonialismus, den Ludwig Windthorst zunächst abgelehnt hatte, machte der Katholizismus seinen Frieden. Missionsvereine berücksichtigten zunehmend nationale Interessen. So sprach ein Vertreter des neuen „Palästina-Vereins“ 1885 von einem „Kreuzzug im friedlichen Sinne, um das zu vollenden, was im Mittelalter begonnen hat“. 1905 berichtete ein Missionar aus Deutsch-Südwestafrika, ohne den Völkermord an den Herero anzuklagen. Führende Katholiken, vor allem der württembergische Zentrumsabgeordnete Matthias Erzberger, enthüllten zwar einzelne Verbrechen der deutschen Beamten und Militärs in den Kolonien, und 1906 verweigerte die Reichstagsmehrheit aus Zentrum und SPD einen Nachtragshaushalt zur Finanzierung des Krieges im heutigen Namibia. Die Katholikentage verabschiedeten aber keine Beschlüsse oder Resolutionen gegen die Kolonialkriege.
Im Jahr 1900 bezeichnete der Präsident des Treffens die Zentrumspartei als „stehendes Heer“, das katholische Volk als „Reserve“ und die Katholikentage als alljährliche „Heerschau“, auf der auch über eine „etwa notwendige Mobilmachung“ beraten werde. Die meisten Katholiken bemühten sich jetzt, ihren Patriotismus zu beweisen. Jugendverbände, die zunehmend präsent waren, verschrieben sich nicht nur der religiösen Bildung, sondern auch der körperlichen Ertüchtigung, um sich auf den Wehrdienst vorzubereiten. Die Zentrumspartei trug das Wettrüsten und insbesondere den kostspieligen Flottenbau mit, die einen großen Krieg bald unausweichlich erscheinen ließen.
1913 versammelte sich der Katholikentag ausgerechnet im lothringischen Metz. Noch einmal blitzte das völkerversöhnende Potenzial der weltumspannenden Kirche auf. Veranstaltungen fanden in beiden Sprachen statt, die Verantwortlichen zeigten sich in demonstrativer Eintracht. Der ehemalige Reichskanzler Bernhard von Bülow nörgelte daher anschließend, der Katholikentagspräsident Alois zu Löwenstein habe zu wenig patriotischen Geist gezeigt. Dieser erklärte, er habe während der Balkankriege 1912 und 1913 befürchtet, dass ganz Europa in Brand gerate. „Und dann hätte die Friedensarbeit unserer Tagung dem blutigen Ernst des Krieges weichen müssen.“
Ein Jahr später war es so weit. Der für 1914 in Münster geplante Katholikentag fiel wegen des Weltkriegs aus. Viele Katholiken gaben sich dem nationalistischen Taumel der ersten Kriegswochen hin, dem sogenannten „Augusterlebnis“. Er kenne keine Parteien und auch keine Konfessionen mehr, erklärte jetzt Kaiser Wilhelm II. Wie die SPD bewilligte auch das Zentrum im Reichstag die notwendigen Kriegskredite, führende katholische Politiker forderten die Annexion eroberter Gebiete. Erst 1917 schwenkte das Zentrum um. Insbesondere Erzberger wandelte sich, nicht zuletzt unter dem Eindruck einer päpstlichen Friedensinitiative, zum Befürworter eines baldigen Friedensschlusses.
Doch die Kämpfe gingen weiter, bis das Kaiserreich zusammenbrach. Erzberger übernahm Verantwortung und leitete die Waffenstillstandsverhandlungen. Rechtsradikale ermordeten ihn deswegen, einen Tag, bevor 1921 in Frankfurt der erste Katholikentag nach dem Weltkrieg begann. Heinrich Held, Präsident des Treffens, sprach mit „Entsetzen“ und „Abscheu“ über das Verbrechen. Der spätere bayerische Ministerpräsident wandte sich zwar gegen den „unchristlichen nationalistischen Geist“, verweigerte aber den „Glaubensbrüdern in Frankreich, Belgien und den Ententestaaten“ die bis dato üblichen „warmen Grüße“ wegen des harten Friedens von Versailles, den inzwischen auch der Papst deutlich kritisiert hatte.
Dem Nationalsozialismus hatte man wenig entgegenzusetzen
Die Redner der folgenden Jahre riefen den Krieg ganz überwiegend als Unheil in Erinnerung, dessen Wiederholung es zu vermeiden gelte. Völkerfriede und sogar Feindesliebe blieben als Ideale erkennbar. Aber nur wenige gelangten wie der Arbeitervertreter Joseph Joos zu einer aktiven Versöhnungspolitik. Viele träumten stattdessen, dem Wahlspruch Pius’ XI. entsprechend, von einer Pax Christi in regno Christi, von einem Frieden im weltumfassenden Reich einer erneuerten Christenheit, nach dem Vorbild des mittelalterlichen Abendlandes. So hielt Alois zu Löwenstein 1924 in Hannover die Völkerbundidee nur dann für akzeptabel, wenn dem Papst eine Führungsrolle als Schiedsrichter zukäme. Nichtkatholiken war das kaum zu vermitteln.
Im Rahmen der „Katholischen Aktion“ sollten die Laien unter Führung des Klerus geeint werden. Doch in Deutschland verteidigten die Verbände und Parteien selbstbewusst ihre Unabhängigkeit, und die politischen Gegensätze waren kaum zu überwinden. Während das Zentrum eine pragmatische Außenpolitik vertrat und mit der SPD und den Linksliberalen koalierte, wandten sich rechtsgerichtete Katholiken der Deutschnationalen Volkspartei zu. Sie forderten ein Ende der Zentrumsdominanz auf den Katholikentagen, kritisierten außenpolitische Zugeständnisse und schwächten die Abwehrfront gegen den Nationalsozialismus.
Als sich 1932 Mitglieder des 1919 gegründeten Friedensbundes Deutscher Katholiken am Rande des Katholikentags in Essen trafen, erklärte der Dominikanerpater Franziskus Stratmann: „Katholiken scheuen sich nicht selten, für den übernationalen Gedanken einzutreten, weil sie den Vorwurf minderen Nationalgefühls fürchten.“ Das bezeichnete er als „katholische Würdelosigkeit“.
Die katholischen Friedensaktivisten meldeten sich auch in den Arbeitsgruppen zu Wort, blieben jedoch ohne großen Einfluss. In einer Diskussion klagte 1932 eine Frau über den Wehrsport: „Nur wir Frauen dürfen es uns noch erlauben, die Wehrhaftigkeit nicht als das höchste Ideal anzusehen.“ Die Katholikentage wandten sich zwar in deutlichen Worten gegen den Nationalsozialismus, ihre Wachsamkeit galt aber weiterhin vor allem dem Kommunismus. Am Ende hatte der politische Katholizismus dem Nationalsozialismus wenig entgegenzusetzen. Das Treffen in Essen war vorerst das letzte.
Erst 1948 gab es wieder einen Katholikentag, und zwar in Mainz. Anders als 1921 waren Gäste aus Frankreich jetzt gern gesehen. In einer Botschaft an „die Brüder in aller Welt“ schwankten die deutschen Katholiken zwischen Schuldbewusstsein und Selbstrechtfertigung: „Wir beklagen aufrichtig das Unrecht, das im Namen Deutschlands und von Deutschen geschehen ist, (…)wie auch unsere christlichen Mitbrüder außerhalb der deutschen Grenzen alles Unrecht bedauern, das von Angehörigen ihrer Völker verübt wird. Wenn der Nationalsozialismus auch Frucht eines Geistes war, der nicht bloß das deutsche Volk ergriffen hat, so wollen wir uns doch nicht entschuldigen mit den Fehlern und Sünden anderer. Unser katholisches Volk hat die Gewalttaten und Verfolgungen, den entsetzlichen Krieg und seine Gräuel nicht gewollt. Aber alle die starken, vielfach bis zum Martyrium gehenden Widerstandskräfte konnten sich nicht durchsetzen, das schmerzt uns tief.“
Die Delegierten der Verbände mahnten eindringlich, den „bereits wieder aufflammenden“ Antisemitismus zu bekämpfen, und forderten „Wiedergutmachung im Rahmen des Möglichen“. Mit Blick auf Palästina, wo gerade der israelische Unabhängigkeitskrieg tobte, sorgten sie sich aber vor allem um den Schutz der heiligen Stätten und die „Neutralisierung“ Jerusalems.
Dass ein neuer Krieg unbedingt zu vermeiden war, stand außer Frage, schließlich wurde bald deutlich, dass der Einsatz von Atomwaffen das Ende der Menschheit bedeutet hätte. Aber wie war ein dauerhafter Frieden zu erreichen? Die westdeutschen Katholiken folgten überwiegend Konrad Adenauers Strategie der Westbindung und der europäischen Einigung. Für letztere warb der „Linkskatholik“ Eugen Kogon schon 1949 auf dem Katholikentag in Bochum. Die Bewegung „Pax Christi“ startete außerdem einen „Gebetskreuzzug“ für die deutsch-französische Versöhnung. Die Gründung der Bundeswehr und die Stationierung von Atomwaffen in Deutschland wurden dagegen auf den Katholikentagen kaum diskutiert, auch Papst Pius XII. betonte ja in der Tradition der Lehre vom „Gerechten Krieg“ das Recht der Staaten auf Selbstverteidigung. Eine Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen war für die meisten Katholiken noch undenkbar, gerade gegenüber einer „legitimen Autorität“ wie der gewählten Bundesregierung. Aber auch Deserteure der Wehrmacht hatten keine Unterstützung zu erwarten.
Unterstützung für Adenauers Kurs
Politische Aussagen waren auf den Treffen der Fünfzigerjahre grundsätzlich heikel, weil noch viele Katholiken aus der DDR teilnahmen. Wer in Westdeutschland nicht mit Adenauers Kurs einverstanden war, hatte einen schweren Stand. Klara Marie Faßbinder, Mitbegründerin der „Westdeutschen Frauenfriedensbewegung“, warb beispielsweise 1954 in Fulda für mehr Toleranz gegenüber dem Kommunismus. Die Europapolitik Konrad Adenauers führte ihrer Ansicht nach zur „Verewigung“ der deutschen Spaltung. Sie wurde als „Friedensklärchen“ belächelt, als Professorin suspendiert und als Stasi-Agentin verleumdet. Beim vorerst letzten gesamtdeutschen Katholikentag 1958 gerieten sogar die 60 000 Teilnehmerinnen der Frauen-Friedensmesse in Ostberlin in den Geruch, sich vom DDR-Regime instrumentalisieren zu lassen. Das konservative evangelische Wochenblatt „Christ und Welt“ witterte die „kommunistische Taktik, (…) dem wehrlosen, gefühlsinnigen Geschlecht die Sache des Friedens anzuvertrauen“.
Mit dem turbulentesten aller Katholikentage, 1968 in Essen, änderte sich alles. In der Kritik stand vor allem die „Pillenenzyklika“ Pauls VI. „Humanae vitae“. Für Unruhe sorgte, vor dem Hintergrund der Kriege in Vietnam und Biafra und dem Ende des „Prager Frühlings“, aber auch die Frage: „Haben die Katholiken, hat die Kirche genug für den Frieden getan?“ Als „übereinstimmende Meinung einer großen Mehrheit“ hielt der Bericht über ein Forumsgespräch fest: „Die Kirche habe sich zu sehr mit der Macht, mit dem Staat und der Bundeswehr arrangiert. (…) Das bisherige Übersehen der Kriegsdienstverweigerer durch die Kirche sei ein Skandal. Es gebe keine einzige Katechese, die Fragen des Friedens behandele, wohl aber hunderte über den Krieg. Die Katholiken hätten den Papst mit seinen Friedensappellen im Stich gelassen und sich bisher kaum für Friedensdienste interessiert.“
Johannes XXIII. und Paul VI. hatten zuvor auf die enge Verbindung von Frieden und Gerechtigkeit hingewiesen, was unter anderem das Selbstverständnis der katholischen Hilfswerke und „Dritte-Welt“-Gruppen prägte. Kardinal Julius Döpfner, Vorsitzender der Bischofskonferenz, zeigte sich vor den 700 Teilnehmern des Gesprächs reumütig: „Dass viele Einsichten, die den Frieden betreffen, zu spät gekommen sind, nehme ich ganz schlicht an.“
Mitglieder des linkskatholischen Bensberger Kreises forderten unterdessen die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie. Als jemand sie als Landesverräter beschimpfte, reagierte das Plenum mit Buhrufen. Zur Sache ging es auch im Forumsgespräch „Ratlose Eltern – rebellische Jugend“. Studierende, teilweise organisiert in einer „Katholischen Außerparlamentarischen Opposition“ (KAPO), kritisierten hier unter anderem den Krieg in Vietnam. Dem Appell „Seid nett zueinander“ begegneten sie, so vermerkte der Bericht, mit Provokationen im Rahmen eines „begrenzten Konflikts“. Gewalt lehnten sie aber ausdrücklich ab.
Die zum Teil tumultartige Kritik an Kirche und Klerus sorgte für Entsetzen – und fast für das Ende der Katholikentage, die nach einer tiefen Krise als eher unpolitische Jugendtreffen wiederauferstanden. „Pax Christi“ setzte aber weiterhin die Versöhnung mit Polen auf die Tagesordnung, etwa mit einem Gottesdienst zu diesem Thema 1974 in Mönchengladbach. Kritik an der Linie des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, in dem nach wie vor die Unionsparteien dominierten, wurde zunehmend außerhalb des offiziellen Programms vertreten, seit 1980 vor allem auf den „Katholikentagen von unten“, deren Veranstalter sich auch in der Tradition der katholischen Friedensbewegung der Zwischenkriegszeit sahen.
Die Treffen verdeutlichen, wie breit das Spektrum der Meinungen ist
1982 in Düsseldorf prallten schließlich die unterschiedlichen Meinungen hart aufeinander. Das Thema „Frieden“ war allgegenwärtig, schon wegen der Kämpfe in Afghanistan und im Libanon und wegen des Kriegsrechts in Polen, vor allem aber wegen des umstrittenen Nato-Doppelbeschlusses. „Leider entsteht häufig gerade dann Streit, wenn um den Frieden gerungen wird“, klagte Kardinal Joseph Höffner.
Während des Katholikentags gab es am Ende gleich drei verschiedene Großveranstaltungen im Zeichen des Friedens: Das Zentralkomitee organisierte eine Kundgebung, auf der Bundeskanzler Helmut Schmidt und Oppositionsführer Helmut Kohl vor 35 000 Menschen die Aufstellung neuer Atomraketen rechtfertigten – begleitet von Pfiffen, Protestplakaten und Roten Karten. Kohl witterte „elitäre und intellektuelle Arroganz“ und erklärte: „Als Christen wissen wir jedoch, dass die Friedenshoffnungen sich erst mit der Wiederkunft des Erlösers erfüllen werden.“
Außerhalb des offiziellen Programms plante die Initiative „Kirche von unten“ eine Protestkundgebung unter dem Motto „Entrüstet euch“, zu der allerdings nur 40 000 statt der erwarteten 100 000 Teilnehmer kamen. Der „Bund der Deutschen Katholischen Jugend“ organisierte ein Friedenscamp mit 1200 und einen Schweigemarsch mit 7000 Teilnehmern in eigener Regie.
Zum Ärger des Zentralkomitees widmeten sich die Medien vor allem den alternativen Veranstaltungen. Von einer einheitlichen Botschaft konnte keine Rede sein. Aber war der Katholikentag deswegen ein Misserfolg? Wohl kaum, denn das „bisschen Krieg um den Frieden“, an dessen Ende auch versöhnliche Botschaften standen, befeuerte notwendige Diskussionen und lenkte den Blick der Öffentlichkeit auf das breite Spektrum der Meinungen im Katholizismus.
Die Katholikentage öffneten sich seitdem mehr und mehr für kritische Gruppen und unterschiedliche politische Meinungen. Vertreter anderer Religionen wurden ebenfalls in die Gespräche und vor allem auch in die Gebete eingebunden. Kriege und Völkermorde – in Somalia, im zerfallenden Jugoslawien, im Irak, im Kongo, in Ruanda, Darfur, Afghanistan oder Syrien – sorgten immer wieder für Debatten: Kann einem Terrorregime wie dem sogenannten Islamischen Staat friedlich begegnet werden? Ist militärische Unterstützung bei „humanitären Interventionen“ abzulehnen? Welche Rolle kommt den Vereinten Nationen zu? Und neuerdings ist auch zu fragen: Hat der Papst recht, wenn er die jahrhundertealte Lehre vom „Gerechten Krieg“, wie sie im Katechismus steht, infrage stellt? „Kein Krieg ist gerecht. Das Einzige, was gerecht ist, ist der Frieden“, erklärte Franziskus jüngst in einem Interviewband.
Zu all diesen Themen dürfte es auch im Jahr 2018 unterschiedliche Meinungen geben. Wer in Münster den Frieden sucht, wird daher nicht unbedingt Langeweile finden. Schließlich kommen hier wieder die unterschiedlichsten Gruppen zusammen, Politiker und Theologen, Soldaten, Militärseelsorger und Friedensbewegte, Vertreter der Hilfsverbände und viele andere. Fast alle verbindet, unabhängig von parteipolitischen Vorlieben, aber auch ein Grundkonsens, der auf den Lehren aus der Geschichte aufbaut: Es geht ihnen um ein friedlich geeintes Europa, eine friedenssichernde Außen- und Entwicklungspolitik und den respektvollen Dialog der Religionen. Auf dieser Basis spricht nichts dagegen, auch in Münster ein bisschen Streit um den Frieden zu riskieren.