In den Fünfziger- und Sechzigerjahren ging es den meisten Menschen darum, Geld zu verdienen, Kinder zu bekommen und ein Eigenheim zu finanzieren. Heute geht es um die „Kunst des guten Lebens“, wie ein Bestseller verheißt. Was hat sich da verschoben?
Andreas Reckwitz: Seit den Siebziger- und Achtzigerjahren haben sich zentrale Parameter des Lebensstils und der Lebensführung verändert. Vor allem die heutige neue Mittelklasse unterscheidet sich deutlich von der Mittelschicht der Fünfziger- und Sechzigerjahre. Der amerikanische Soziologe David Riesman hat das Lebensgefühl der Fünfziger deutlich dargestellt: Damals war für viele Menschen maßgebend, wie die anderen handeln. Bei der Berufswahl, beim Freizeitverhalten, bei der Familiengründung und beim Konsum war es wichtig, möglichst die anderen zu kopieren und nicht aufzufallen. Es gab klare Normen und klare Kriterien des sozialen Erfolgs. Individualität stand eher unter Verdacht. Aus heutiger Sicht ging es damals sehr konformistisch zu. Seit den Siebzigerjahren und besonders in den vergangenen zwanzig Jahren hat es einen fundamentalen Wertewandel gegeben: weg von den Pflicht- und Akzeptanzwerten und hin zu den Selbstverwirklichungswerten. Jetzt ist es wichtig, dass man seine Besonderheit als Individuum entfaltet.
Aber sind heute wirklich alle Menschen so individuell, wie sie vorgeben?
Reckwitz: Paradoxerweise ist das Modell der erfolgreichen Selbstverwirklichung auch wieder zur sozialen Norm geworden. Sie heißt: Lebe dein Leben möglichst befriedigend! Darin besteht der Lebenserfolg im heutigen Sinne. Deshalb fragen sich nun viele immerzu, ob der Beruf, die Partnerschaft, die Freizeitgestaltung erfüllend sind oder eine Lebensveränderung nötig ist. Das Ideal der Selbstentfaltung ist ja sehr stark mit dem Ideal verbunden, das Leben in der Fülle aller seiner Möglichkeiten zu leben.
Sie schreiben in Ihrem Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“, dass die „soziale Logik des Allgemeinen“ von der „sozialen Logik des Besonderen“ abgelöst worden sei. Was verstehen Sie unter „sozialer Logik“?
Reckwitz: Ich unterscheide zwei Typen von moderner Gesellschaft. Die industrielle Moderne dominierte bis in die Sechzigerjahre. Sie wurde von einem zweiten Typus abgelöst, den man behelfsweise Spätmoderne nennen kann. In der Industriegesellschaft dominierten Kriterien des Allgemeingültigen, ausgehend von der industriellen Produktion, die darauf abzielte, Güter in großen Massen zu produzieren, und zwar für alle die gleichen. Dieses Muster galt aber nicht nur in der Wirtschaft, sondern in allen möglichen Bereichen: Auch in der Politik ging es darum, mittels eines steuernden Wohlfahrtsstaates gleiche Lebensbedingungen für alle zu schaffen. Der Lebensstil richtete sich danach, möglichst das Gleiche zu haben und zu sein wie die Nachbarn, Stichwort Massenkonsum. Alle lasen die gleichen Zeitungen und schauten dieselben Fernsehsendung. Daneben gab es auch damals schon die soziale Logik des Besonderen. Aber sie war begrenzt auf gesellschaftliche Nischen, etwa auf die Künste, wo es erlaubt war, besonders, anders, originell zu sein. Ausgehend von der Counter Culture in den Siebzigern drehte sich das Verhältnis um: Jetzt dominiert die Logik des Besonderen. Aber dieses kulturelle Muster von Selbstentfaltung und Individualität hat in der Moderne eine lange Tradition und geht bis zur Romantik zurück. Die Kultur der Einzigartigkeiten sucht diese überall: in den Dingen und Objekten, in den Ereignissen und Orten, auch in den Gemeinschaften, schließlich in sich selbst und dem Anderen als Individuum. Dies ist eine Kultur, in der den Emotionen, der Suche nach den Gefühlen der Befriedigung eine wichtige Rolle zukommt.
Sind wir seitdem alle so viel kreativer geworden?
Reckwitz: Aus soziologischer Perspektive zeigt sich, dass Einzigartigkeit und Individualität nicht einfach natürlicherweise da sind, sondern sozial fabriziert werden. Das heißt, es hängt von Bewertungskriterien ab, was als einzigartig gilt. Der Lebensstil wird von anderen beobachtet und gilt ausgehend von diesen Kriterien als besonders oder eben „nur“ als durchschnittlich. Auch ein Kunstwerk ist ja nicht von sich aus einzigartig, sondern muss von bestimmten Bewertungsinstanzen als einzigartig zertifiziert werden. Daher herrscht auch hier eine soziale Logik, eine Logik des Besonderen. In der heutigen Spätmoderne geht es mehr und mehr darum, das Einzigartige gezielt hervorzubringen, das heißt regelrecht daran zu arbeiten, ob nun in der Kreativagentur oder im eigenen Lebensstil. Man will einen Lebensstil haben, in dem man sich mit einzigartigen Dingen umgibt, außergewöhnliche Ereignisse erlebt, besondere Orte aufsucht, mit besonderen Menschen zusammen ist. Entsprechend gestaltet man dann das Leben.
Ich muss also nicht mit fünf Jahren eine Beethoven-Sonate spielen können, um besonders zu sein. Es reicht, wenn ich mich mit Produkten umgebe, die von anderen als besonders eingestuft werden?
Reckwitz: Genau. Die neue Einzigartigkeit ist eben etwas anderes als Einmaligkeit. Ich habe kürzlich eine Marokko-Reise gemacht. Das war eine Studienreise, wir sind mit dem Kamel durch die Wüste geritten, und viele hatten den Eindruck, etwas Authentisches erlebt und auch hinter die Kulissen des Landes geschaut zu haben. So ein besonderes Erlebnis spielt dann für die eigene Reisebiografie eine Rolle. Dass das tausende andere Reisende im Jahr auch machen, muss dies nicht unbedingt entwerten. Das Besondere liegt im Auge des Betrachters, und dabei sind die Emotionen zentral.
Wer bestimmt, was im großen Stil als besonders gilt?
Reckwitz: Dabei spielen diverse Bewertungsinstanzen eine Rolle. Klassischerweise war das zum Beispiel bei Kunstwerken die Kunstkritik, die Rezension, die Preisjury. Heute spielen in anderen Bereichen die Bewertungsportale im Internet eine wichtige Rolle. Sie sollen Hilfestellungen liefern, um etwa herauszufiltern, welche Bücher und welche Filme wirklich originell sind und den Kauf lohnen. Da findet ein unerbittlicher Wettbewerb statt – und zwar in sehr vielen, ganz unterschiedlichen Bereichen. In der Warenproduktion geht es um Güter, die den Anspruch haben, etwas Besonderes, Authentisches zu sein, ob das Bio-Produkte sind, touristische Ziele oder Wohnungseinrichtungen. Aber auch Schulen und Universitäten konkurrieren miteinander um das Etikett des Besonderen, auch Städte und Stadtviertel. Deshalb spielen Rankings eine so wichtige Rolle. Es werden auch viele Güter mit Besonderheitsanspruch auf den Markt gebracht und können diesen Anspruch nicht einlösen, weil sie nicht genügend Aufmerksamkeit erzeugen und sich bei den Bewertungen nicht durchsetzen. Auch der eigene Lebensstil muss permanent ausgestellt und zur Bewertung freigegeben werden. Viele Menschen führen auf Instagram vor, wohin sie gerade reisen, was sie Besonderes gekocht haben. Auch die eigenen Kinder müssen besonders sein, und natürlich der Beruf. Aus all diesen Elementen setzt sich dann idealerweise dieses besondere Leben zusammen, für das ich dann Anerkennung bekomme.
Aber gilt in unterschiedlichen Milieus nicht Unterschiedliches als cool oder besonders? Die Altbauwohnung in Prenzlauer Berg mit Vintage- Mobiliar ist nicht für jeden das Nonplusultra.
Reckwitz: In jedem Fall. Diese Kriterien des Individuellen können häufig auch sehr strittig sein. Soziologische Milieuanalysen zeigen ja eine Vielzahl unterschiedlicher Milieus auf, aus denen die Gesellschaft besteht, und darunter sind mehrere, die ausgesprochen individualistisch sind, aber in verschiedener Weise. Für die einen ist etwa die Bildungs-Hochkultur ganz wichtig, für die anderen gar nicht, die einen sind sehr ökologisch, andere eher technikaffin. Trotzdem haben alle diese Gruppen gemeinsam, dass sie persönliche Befriedigung, Erfolg und Prestige an die erfolgreiche Selbstverwirklichung koppeln.
Wäre diese Entwicklung ohne die Digitalisierung möglich?
Reckwitz: Mehrere gesellschaftliche Faktoren heizen diese soziale Logik des Besonderen an, ein kultureller, ein wirtschaftlicher, schließlich auch ein technologischer Faktor. Zum einen wirkt, wie gesagt, der kulturelle Wertewandel, der sich über einen langen historischen Bogen seit der Romantik allmählich durchgesetzt hat. Der Wert der Individualität und der Wert der Kreativitität wurden immer wichtiger. Eine Kultur der Pflichterfüllung ist hier immer mehr erodiert und durch Selbstentfaltungswerte ersetzt worden. Dazu kommt eine wirtschaftliche Entwicklung: Der sogenannte Kulturkapitalismus profitiert enorm von Besonderheits-Gütern. Die alte Industrieökonomie ist hier an ihre Grenzen des Wachstums gestoßen. In dem Moment aber, wo es nicht mehr um den konkreten Nutzen von Gütern geht, sondern um die symbolische und ästhetische Qualität, sind die Märkte unbegrenzt, weil die Konsumenten in dieser Hinsicht theoretisch unbegrenzt Bedürfnisse entfalten können. Man denke an solche neuen Wachstumsbranchen wie Tourismus oder Sport. Der dritte Faktor ist tatsächlich die Digitalisierung. Das Internet verstärkt die Aufmerksamkeitsökonomie gigantisch. Es reüssiert eben nur derjenige, der eine Differenz markiert, der interessant und anders ist und aus der Masse heraussticht, ob im Blog, im Youtube-Video oder mit Fotos auf Instagram.
Wer sind gesellschaftlich die Gewinner dieser Entwicklung?
Reckwitz: Diese Entwicklungstendenzen wirken zunächst sehr breit. Die Digitalisierung mit ihrer Aufmerksamkeitsökonomie und der Kulturkapitalismus sind etwas, das letztlich alle betrifft. Dennoch gibt es eine Gruppe, die diesen Lebensstil der Selbstverwirklichung besonders forciert und die auch die kulturellen und auch materiellen Mittel dazu hat: Es ist die neue Mittelklasse, die von der Bildungsexpansion in den Siebzigern profitiert hat und häufig über einen Hochschulabschluss verfügt. Soziologen sagen dazu: Ihr kulturelles Kapital ist hoch. Diese neue Mitttelklasse macht in den westlichen Gesellschaften etwa ein Drittel der Gesellschaften aus und lebt häufig in den Großstädten. Dieses Drittel ist aus der alten nivellierten Mittelstandsgesellschaft – um mit einem Begriff von Helmut Schelsky aus den Fünfzigern zu sprechen – nach oben herausgestiegen.
Wer sind die Verlierer?
Reckwitz: Es gibt eine Gruppe, die aus der alten Mittelschicht nach unten herausfällt und eine neue Unterschicht, eine neue prekäre Klasse, bildet. Mit der Entwicklung zur postindustriellen Gesellschaft sind viele alte industrielle Arbeitsplätze verschwunden, stattdessen sind sogenannte einfache Dienstleistungen entstanden, die prekäre Beschäftigungsverhältnisse bieten. Es bleibt natürlich drittens auch eine gewisse alte Mittelklasse, Menschen, die meist einen mittleren Bildungsabschluss haben und eher in den ländlichen Regionen leben und in Angestellten- und Handwerksberufen tätig sind. Diese drei Großgruppen – neue Mittelklasse, alte Mittelklasse, neue Unterklasse – stehen einander gegenüber, was bis hin zur Polarisierung führen kann.
Die Akademikerquote ist der Goldstandard?
Reckwitz: Zu diesem Urteil kann man in der Gegenwartsgesellschaft kommen, auch wenn man sich die politischen Diskussionen anschaut. Wenn irgendwo die Akademikerquote steigt, ist man glücklich. Daran wird vieles gemessen, auch zum Beispiel die Integration von Migranten. Das ist ja auch gut, weil es auch eine nachholende Entwicklung in Deutschland ist. Die Frage ist allerdings: Was bedeutet das für Menschen ohne Hochschulabschluss?
Und?
Reckwitz: Bis in die Siebzigerjahre hinein war es das Normale, dass man nicht studiert hat, sondern einen einfachen Schulabschluss hatte und eine Ausbildung machte. Damit konnte man gut ein Mittelstandsleben führen. Selbst der ungelernte Arbeiter konnte sich den Lebensstandard der Mittelschicht erarbeiten. Jetzt, in der Spätmoderne, erfahren die Nicht-Akademiker eine Entwertung. Extrem ist dies in den USA. Wenn es zur gesellschaftlichen Norm wird, dass man vom Beruf erwarten kann und soll, dass er einen erfüllt, dann erscheinen viele Arbeitsformen gerade außerhalb der Wissensökonomie als defizitär. Das ist der kulturelle Faktor. Dazu kommt der materielle: Nicht-Akademikern fällt es immer schwerer, den Mittelschichtsstandard aufrechtzuerhalten. Das liegt auch daran, dass immer mehr ehemalige Mittelstandsberufe, klassische, routinierte Arbeiter- und Angestelltenaufgaben durch den technischen Fortschritt seit den Siebzigerjahren verschwunden sind.
Andererseits kann heute jeder für 19,90 Euro übers Wochenende nach London fliegen und sich für wenig Geld stylish kleiden. Von der Entwicklung des globalisierten Kulturkapitalismus profitieren ja nicht nur die Akademiker.
Reckwitz: Einerseits stimmt das: Die Gesellschaft der Singularitäten wird nicht nur von der neuen Mittelklasse getragen, sondern letztlich von der gesamten Gesellschaft. Auch manche Akademiker haben übrigens wenig Geld – gerade wenn sie in der Ausbildung sind. Und sie wissen dies trotzdem geschickt für die Singularisierung einzusetzen: Sie tragen Second Hand-Mode, nutzen AirBnB, erkunden die Welt mit Work and Travel und Ähnliches. Trotzdem gibt es aber jenseits aller gesellschaftlichen Pluralisierung doch Normen der akzeptablen Individualität, die durch die Mittelklasse der Akademiker stark geprägt wird: Man denke etwa an den Maßstab des gesunden Essens oder der Erziehung der Kinder zur Entfaltung vielseitiger Begabung.
Wie gehen die vielen Einzigartigen mit tatsächlichen Abweichungen um? Mit Menschen, die anders sind, weil sie gar nicht anders können?
Reckwitz: Ich denke, es wird in der spätmodernen Kultur sehr genau unterschieden zwischen legitimen Besonderheiten, die eine Bereicherung bedeuten, und Abweichungen, die nicht als erstrebenswert gelten, etwa Idiosynkrasien von Persönlichkeiten, psychische Krankheiten, Bindungsunfähigkeit, Soziophobie. Was als legitim und was als illegitim gilt, kann sich aber auch verändern. Nehmen wir zum Beispiel die Homosexualität. Die war immer eine Besonderheit, lange Zeit eine illegitime. Mittlerweile ist sie zum Glück eine völlig legitime Besonderheit.
Ist die Gesellschaft heute insgesamt toleranter als früher?
Reckwitz: Ja, das ist sie, aber es gibt Grenzen. In der alten Industriegesellschaft war es schon sehr leicht, aus den Maßstäben des Allgemeingültigen und Normalen herauszufallen. Jetzt hat sich der Pool dessen erweitert, was als legitim besonders gilt. Er umfasst aber eben nicht alles.
Vieles scheint vom sozialen Status abzuhängen. Wer im Verdacht steht, arm zu sein, fällt auch heute aus dem gesellschaftlich Akzeptierten heraus, oder?
Reckwitz: Die Maßstäbe der Einzigartigkeiten sind ja zunächst kulturell und nicht materiell ausgerichtet. Es gibt auch Kreative mit wenig Geld, die trotzdem in ihrem Lebensstil Individualität pflegen und dabei ganz zufrieden und anerkannt sind. Hier ist aber das kulturelle Kapital hoch, auch das soziale Kapital, also die Beziehungen zu anderen. Arm ist in der Gegenwartsgesellschaft der, der nicht nur über wenig materielles, sondern auch über wenig kulturelles und wenig soziales Kapital verfügt, also über wenig Geld, wenig Bildung und wenig Kontakte zu anderen. Das sind häufig Menschen in der prekären Klasse.
Institutionen haben es in der Gesellschaft der Singularitäten schwer. Das merken Parteien, politische Institutionen, Vereine – und auch die Kirchen bekommen das zu spüren. Andererseits kann Religiosität auch ein Ausweis des Besonderen sein. Welche Rolle spielen die Religionen heute?
Reckwitz: Ich würde zwischen Religionen und Kirchen unterscheiden. Die Religionen, die Suche nach religiösen Gemeinschaften und spirituellen Erfahrungen erleben in der Gesellschaft der Singularitäten teilweise durchaus eine Renaissance. Die Suche nach dem Singulären lässt sich – um mit der Begrifflichkeit des Soziologen Emile Durkheim zu sprechen – auch als Suche nach dem Sakralen interpretieren: nach dem, was nicht profan und alltäglich ist, nach dem Außeralltäglichen, das über die Zweckrationalität des Alltags hinausgeht. Dieses im weitesten Sinne Sakrale suchen die Individuen nun nicht nur in Konsumgütern, im Beruf, im Partner, den Kindern und den Grenzerfahrungen der Freizeit, sondern teilweise auch im Religiösen. Das ist ja auch der Grund, warum sich selbst im Westen neue religiöse Gemeinschaften ausbilden.
Ist das eine Chance für die Kirchen?
Reckwitz: Für die beiden großen Kirchen ist das sicher schwieriger, weil sie ja eher das Allgemeine der Religionen repräsentieren, das, was früher selbstverständlich war und für alle galt, wo jeder hineingeboren wurden. Die beiden großen Kirchen haben es genauso schwer wie die Volksparteien, die ja auch nicht das Besondere, sondern das Allgemeine repräsentieren. Viele suchen heute aber auch in der Religion das Singuläre – auf der Gemeinschaftsebene, aber auch in der religiösen Zeremonie selbst oder in der individuellen, spirituellen Erfahrung. Sie soll den Charakter des Außeralltäglichen haben. Religionsgemeinschaften, die das bieten, sind attraktiv. Zen-Buddhisten im Westen etwa oder in Lateinamerika die Pfingstkirchen.
Von der Sehnsucht nach dem Besonderen und Außergewöhnlichen scheinen auch eher die Strömungen an den Rändern der Religionen zu profitieren, die konservative, reaktionäre bis fundamentalistische Positionen vertreten.
Reckwitz: Sicherlich nicht nur, aber auch. Es haben Strömungen Zulauf, die stark mit dem Singularitätsnimbus arbeiten, eine gewissermaßen auserwählte Gruppe zu sein, die sich vom Gros der angeblich unmoralischen Gesamtgesellschaft abgrenzt, gegen die Moderne und gegen das Establishment. Das sind ja genau Kennzeichen des religiösen Fundamentalismus. Auch das Konversionserlebnis ist etwas sehr Charakteristisches für die spätmoderne Religiosität: Man wird nicht mehr automatisch in eine Religion hineingeboren, sondern bekennt sich aktiv, individuell dazu, vielleicht sogar als Ergebnis einer inneren Umkehr, die sich in eine dramatische oder berührende Geschichte packen lässt. Jenseits des Fundamentalismus können dann jedoch auch Amtskirchen wieder eine paradoxe neue Chance erhalten: Wenn sie infolge von Säkularisierung ohnehin nur noch eine engagierte Minderheit adressieren, werden sie in ihrer Besonderheit möglicherweise wieder anziehend, weil sie eine dichte Gemeinschaft bieten. Man denke etwa an die christlichen Kirchen in Ostdeutschland, die solche Minderheiten darstellen.
Aber ein paar Vintage-Lampen ins Gemeindehaus zu hängen, reicht wohl nicht?
Reckwitz: Nein, sicher nicht. Das wäre ein sehr oberflächliches Verständnis der Singularisierung. Aber die Religionen haben noch etwas anderes zu bieten, was sie gerade im Rahmen der spätmodernen Kultur anziehend machen könnte. Das Lebensmodell der erfolgreichen Selbstverwirklichung ist ja äußerst ambitioniert und produziert systematisch eine Menge Enttäuschungen. Das Leben bringt weiterhin viele Erfahrungen mit sich, die sich der Steuerung entziehen. Dafür stellt die Kultur des Singularismus aber keine Ressourcen zur sinnvollen Verarbeitung zur Verfügung. Menschen werden krank, Angehörige sterben, Menschen scheitern im Beruf, in der Partnerschaft. Ganze Gruppen erfahren Entwertung etwa durch die Unberechenbarkeit ökonomischer Märkte. Gegen diese Erfahrungen ist der neue Lebensstil schlecht gewappnet, er will ja Perfektionierung ins Leben bringen. Die psychologische Beratung reagiert darauf, aber häufig in einer für die Spätmoderne typischen Art: Sie versucht, aus etwas Negativem wieder etwas Positives zu machen. Die Religionen haben andere Sinnressourcen, um gewissermaßen mit dem Unverfügbarem im eigenen Leben umzugehen, mit dem, was sich trotz aller Bemühungen nicht fügt. Rein funktionalistisch gesehen, haben Religionen in dieser Hinsicht einen wichtigen Ort.
Sind Religionen wichtig, weil sie den Einzigartigen Gemeinschaft bieten, ohne die eben doch nur wenige Menschen auskommen?
Reckwitz: Man würde die Gesellschaft der Singularitäten missverstehen, wenn man sie allein als individuenzentriert wahrnehmen würde. Die Orientierung am Besonderen bezieht sich zum Teil auch auf Kollektive. Die Partikularbewegungen, die wir in Katalonien oder in Schottland beobachten, sind Beispiele dafür. Da geht es um die eigene Region mit ihrer eigenen Geschichte, ihrer eigenen Kultur, die etwas Besonderes ist, und das ist offenbar sehr identitätsstiftend. Auch bei Stadtkulturen oder eben in fundamentalistischen Religionsgemeinschaften speist sich die kollektive Identität aus dem vermeintlich Besonderen. Das ist übrigens gar kein so neuer Gedanke. Schon Georg Simmel hatte diese Beobachtung im 19. Jahrhundert gemacht. Er beobachtete, dass es eben nicht nur den Individualismus der Individuen gibt, sondern auch den Individualismus der Gemeinschaften, die ihre Besonderheit und ihre Differenz zu anderen Gemeinschaften pflegen und kultivieren. Auch der Nationalismus, den wir als globales Phänomen sehr stark wieder beobachten, folgt diesem Muster, ob wir nun nach Russland schauen oder nach Indien.
Müssen wir in den nächsten Jahrzehnten weltweit mit einer erheblichen Zunahme von fundamentalistischen Gruppen rechnen?
Reckwitz: Ich tue mich schwer mit Prognosen. Aber der religiöse Fundamentalismus fußt auf vielen Faktoren, die nicht so einfach verschwinden werden. Ein Faktor sind soziale Deklassierungs- und kulturelle Entwertungsprozesse in den westlichen Gesellschaften, die sich aber auch global beobachten lassen. Untersuchungen zeigen zum Beispiel in den USA, dass es eher nicht die sozial Erfolgreichen sind, die sich fundamentalistischen Gruppen anschließen, sondern die, die sich an den Rand gedrängt fühlen. Der indische Schriftsteller Pankaj Mishra hat kürzlich sehr gut dargestellt, wie auf der globalen Ebene aus Entwertungserfahrungen eine Kultur des Ressentiments entstehen kann. Der Fundamentalismus stellt sich dann gewissermaßen als ein Ventil für diese Affekte dar. Die Unterprivilegierten können sich dann als auserwählt wahrnehmen.
Aber haben sich gesellschaftliche Klassen und Gruppierungen nicht schon immer gegeneinander abgegrenzt und einander abgewertet?
Reckwitz: Das ist richtig. Aber in der klassischen Moderne war die Politik dafür zuständig, benachteiligten Klassen die Hoffnung auf Transformation zu geben. Leitend war die Vorstellung eines gesellschaftlichen Fortschritts. Die sozialistische Bewegung etwa war seit dem 19. Jahrhundert mit der Hoffnung verbunden, dass unterprivilegierte Klassen über Reformen oder eine Revolution aufsteigen können. Das wurde in der Industriegesellschaft ja auch eine Zeit lang erreicht. In der Spätmoderne ist das utopische Potenzial der Politik aber erodiert. Für die Gruppen, die sich unterprivilegiert fühlen, die bei der Akademisierung, Urbanisierung und Modernisierung der Lebensstile nicht mithalten können, gibt es kaum eine politische Fortschrittshoffnung, um das zu ändern. Der Rückgriff auf Fundamentalismus, Nationalismus oder Rechtspopulismus sind erklärbare, aber hilflose Versuche, diese Unzufriedenheit zu artikulieren. Sie arbeiten am Ende massiv mit Feindbildern und mit einem reaktionären Zurück und bieten keine Fortschrittshoffnung.
Politiker fast aller Parteien bemühen jetzt häufig den Begriff der Heimat. Kann das helfen, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt wieder zu stärken?
Reckwitz: Der Begriff Heimat ist wohl eher ein Symptom für ein Problem als eine Lösung. Er suggeriert die Vertrautheit mit etwas Überkommenem, das stabil bleibt. Aber durch die massiven gesellschaftlichen Umstrukturierungen der Spätmoderne, durch das Ende der Industriegesellschaft, durch die Landflucht, die demografischen Veränderungen und die Migrationsbewegungen wird es sicher schwer, Heimat in einem solchen traditionellen Sinne zu bewahren. Das müsste schon ein abstrakteres Verständnis von Heimat sein, das dann aber auch nicht mehr umstandslos an einen Ort gebunden ist.
Trauen Sie der Gesellschaft der Singularitäten zu, dass sie sich aus sich selbst heraus verändert? Oder wird es einen radikalen Bruch mit der Logik des Singulären geben? Was, wenn auf einmal alle wieder stramm stehen wollen?
Reckwitz: Die allgemeine kulturelle, wirtschaftliche und technologische Entwicklung deutet nicht auf einen Bruch hin. Ich würde sogar eher vermuten, dass sich die Singularisierungstendenzen noch ausbreiten und verstärken, zumal auf globaler Ebene. Die Gesellschaft der Singularitäten ist sicher nicht das Ende der Geschichte, aber ein einfaches Zurück in die Vergangenheit wird es definitiv nicht geben. Das ist etwas für Nostalgiker. Aber wie gesagt: Hinsichtlich dessen, was sich Neues entwickeln wird, tue ich mich sehr schwer mit einer Prognose.