Sufismus im IslamDer poetische Pfad zu Gott

Im Mittelpunkt der islamischen Mystik steht die erwartungslose Liebe zu Gott. Musik, Tanz und Poesie sind neben weiteren Wegen Hilfsmittel, um ihm in der Ekstase nahe zu kommen. Ein Überblick.

Derwisch beim Flöte spielen
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Die Mystik hat in der islamischen Geistesgeschichte seit jeher eine besondere Bedeutung. Die neuzeitliche mystische Lehre findet ihren Ursprung in der Antike und im Mittelalter. Dabei kann man bei der Mystik drei Epochen unterscheiden: Die ersten drei Jahrhunderte nach dem Tod des Propheten Muhammad werden als die Zeit des Kampfes um die Existenzberechtigung der mystischen Lehre betrachtet. Es folgt die Blütezeit der islamischen Renaissance; hier kommt es zur Versöhnung zwischen Mystik und Orthodoxie. Es handelt sich um die Triumph-Phase des Sufismus, der entscheidend von Abū Hāmid al-Ghazālī geprägt wurde. Die dritte Epoche ist gekennzeichnet durch die Ausbreitung der mystischen Lehre – zahlreiche mystische Schriften finden Verbreitung.

Das mystische Denken im Islam und seine vielfältigen geistigen Strömungen werden allgemein als tasawwuf bezeichnet. Diese Denkweise beinhaltet eine Reihe griechischer, christlicher, indischer und vorislamischer Einflüsse. Obwohl die islamische Mystik ihre Erkenntnisse stets mit der Offenbarung und dem Weg des Propheten zu verbinden sucht, betont sie, dass das Streben nach Wahrheit eine Einkehr in die Unendlichkeit des Inneren verlangt.

Innerlichkeit und Unendlichkeit sind in der Natur des Menschen veranlagt. Die Quelle der mystischen Erkenntnis ist die („Selbst“)-Erfahrung. Diese hat eine besondere Qualität. Es handelt sich hierbei um eine innere Erfahrung, durch die dem Mystiker die Erlangung der wahren Erkenntnisse von den Dingen, vom Sein, ermöglicht wird; es ist ein Zustand, der über die Sinneserfahrungen und Vernunfterkenntnisse hinausgeht.

Es existieren jedoch verschiedene Formen mystischer Lehren. Hannā al-Fākhūrī und Khalīl al-Ğarr teilen in ihrem Werk „Die Geschichte der arabischen Philosophie“ unter dem Kapitel „tasawwuf die islamische Mystik in drei Bereiche: traditionelle Mystik, philosophische Mystik und Inkarnationsmystik. Diese drei Formen sind eher als drei Arten der Auslegung der Glaubensinhalte beziehungsweise als drei Wege zu verstehen, die zu demselben Ziel führen sollen. Sie können somit auch als drei weltanschauliche Orientierungskonzepte angesehen werden.

Im traditionellen Sufismus geht es um die grundsätzliche Haltung und die Lehrgebäude jener Mystiker, die aufbauend auf die orthodoxe Lehre der islamischen Theologie und der Scharia Gottesnähe und spirituelle Vereinigung mit Gott zu erlangen suchen. Diese Mystiker sind um die Annäherung von Glaubensinhalten an die sufische Lehre bemüht. Gerade al-Gazālī ist ein wichtiger Repräsentant dieser Form der Mystik.

Die philosophische Mystik ist eine theoretische Bemühung, die sufische Lehre mit einer philosophischen Methode in Einklang zu bringen. In diesem Sinne kann man die Vertreter einer solchen Mystik ebenso als Philosophenmystiker bezeichnen. Ein Philosophenmystiker geht auf die Grundfragen des spirituellen Daseins mit Bezug auf die Gesamtexistenz ein und behandelt Themen wie Gotteseinheit, Kosmologie, Existenz, die göttliche Natur der menschlichen Seele, und zwar in Anknüpfung an Disziplinen wie Metaphysik, Ethik und Ästhetik. Ibn Arabī verkörpert einen der wichtigsten Philosophenmystiker.

Die Inkarnationsmystik ist ein unklarer Begriff. Er bezeichnet bestimmte Typen von Mystikern, die in der sufischen Geschichte im Islam als abgesondert und radikal angesehen werden. Diese Art der Mystik verbindet die göttliche Natur mit dem menschlichen Wesen. Al-Hallāg ist der bekannteste Vertreter dieser Mystik-Auslegung.

Wörtlich stammt der Begriff Mystik von dem griechischen Wort myein (mit der Bedeutung „die Augen oder Lippen schließen“) beziehungsweise myeín (in einem Mysterium [lateinisch mysticus], einem Geheimwissen) ab. Es handelt sich hierbei um eine rationale Tätigkeit, sie enthält jedoch eine Lehre der inneren Erfahrung und Umwandlung. In diesem Sinne ist sie eine Art spirituelle Erkenntnis, die zu einer wahren Selbsterkenntnis und Selbstvervollkommnung führt.

Im Islam verwendet man für Mystik zwei Begriffe: tasawwuf und ‘irfān. Mit tasawwuf beschreibt man eine spirituelle islamische Gesinnung, die sich vor allem auf die innere und asketische Haltung konzentriert. In diesem Sinne bezeichnet tasawwuf den asketischen Pfad (tarīqa) zur Seelenreinigung und spirituellen Selbstveredelung. Der Begriff tasawwuf wird häufig als islamische Mystik übersetzt, jedoch herrscht auch an dieser Stelle keine Übereinstimmung darüber, woher die Begriffe tasawwuf beziehungsweise Sufi stammen. Im Koran findet man jedoch weder den Begriff tasawwuf noch das verwandte Wort sufiyya. Abūlqāsim Qušairī, ein renommierter Sufi-Gelehrter, ist der Meinung, dass, rein sprachlich gesehen, „weder eine Analogie noch eine Etymologie einen Beleg für diesen Namen liefern kann“.

Dennoch gibt es Versuche, diesen Begriff aus dem Koran abzuleiten. Diejenigen, die diesen Versuch unternehmen, sind der Meinung, dass die Begriffe tasawwuf oder sufiyya auf den koranischen Begriff saff (Reihe) zurückgehen (Koran, Sure 61: Vers 4), wofür allerdings kein eindeutiger Beweis vorliegt. Um ihre Meinung zu belegen, verweisen sie oft auf die koranische Sure 37:1, in der von den Gottesfürchtigen die Rede ist, jene, die in der ersten Reihe stehen (saff as-sāfāt saffan). Dennoch meint Qušairī, dass die erwähnte Ableitung nicht der Herkunftsbezeichnung entspricht.

Die wohl bekannteste Interpretation ist der Bezug der Begriffe tasawwuf und sufi auf die äußerliche Bekleidung. Es handelt sich um jene Art des Überwurfs, die aus Wolle besteht. Dieses Wollkleid soll angeblich das Kleid der Armen darstellen. Da ein Sufi sich in Askese übt, ist dieses Wollkleid ein Symbol seiner inneren Haltung. Man geht sogar so weit, anzunehmen, dass der Prophet selbst sich in Askese übte und ein Wollkleid getragen habe.

Ebenso streitet man über den Begriff ‘irfān. Irfān wird im Westen oft mit dem Begriff Gnosis übersetzt. Diese Übersetzung ruft das Missverständnis hervor, dass ‘irfān wie im Christentum als eine Häresie beziehungsweise Irrlehre des Islam angesehen werde und möglicherweise von der gnostischen Lehre des Manichäismus, die von dem persischen Religionsstifter Mani verbreitet wurde, geprägt sei. Gnosis stammt aus dem Griechischen und bezeichnet das „Licht der Kenntnis“.

Im Islam bezeichnet ‘irfān jedoch einen Zustand der Erkenntnis, der dem „Licht der Kenntnis“ im gnostischen Sinne gleichkommt. Damit ist eine Erkenntnissuche gemeint, jedoch ist ‘irfān im islamischen Kontext eine Stufe, auf der der Mystiker die Wahrheit erkennt und unmittelbar erfährt. Das Ziel des arifs, des islamischen Gnostikers, ist nicht Erlösung, wonach ein christlicher Gnostiker strebt, sondern die Erlangung einer Stufe der Erkenntnis, in der ihm eine unmittelbare Schau des wahren Wesens der Dinge und der göttlichen Welt offenbart wird. Im Gegensatz zu tasawwuf, ein Weg in dem der Novize seine Reise durch die Anweisung und Begleitung eines Meisters bestreiten muss, ist ‘irfān die höchste Stufe, die jeder Mystiker alleine erreichen muss.

Um den Sufismus im Islam zu beschreiben, kann man die zentralen Charakteristika in vier Aspekten zusammenfassen: asketische Weltabgewandtheit (zuhd), Liebe (mahabba/išq), Erkenntnis (ma‘rifa) und die Erlangung beziehungsweise Vereinigung mit Gott (wusūl).

Diese Charakteristika der mystischen Lehrinhalte lassen eine theologische Relevanz in Erscheinung treten, die auf eine Kontroverse zwischen islamischer Mystik und islamischer Theologie verweisen. Anhand dieser Themen lässt sich die Konfliktlinie zwischen der orthodoxen und mystischen Theologie bezüglich der Glaubensinhalte kennzeichnen, die als Grenzüberschreitung verstanden werden kann. Die mystische Theologie kann ferner als Sinnerweiterung der religiösen Frömmigkeit und der Gottesdienste im Islam verstanden werden.

In der islamischen Mystik ist oft von der Reinigung des Herzens die Rede, von der Suche nach Wahrheit und der Kontrolle über das weltliche Verlangen, wodurch der Mystiker auf seinem asketischen Weg alle Hindernisse, die die Nähe Gottes verhindern, zu beseitigen versucht, um sich mit Gott zu verbinden.

Jedoch ist der mystische Pfad selbst der Weg zur Erkenntnis. Mit der spirituellen Askese möchte man das unmittelbare Schauen erreichen, eine Erkenntnis intuitiver Art, ein Präsenzwissen, eine Erkenntnis durch Vereinigung und Harmonie mit dem höchsten Intellekt, eine Tatsache, die in der Sprache der Mystik mit ‘irfān bezeichnet wird. Sie ist eine Lehre der inneren Erfahrung und Umwandlung, und in diesem Sinne auch eine Selbsterkenntnis und Selbstvervollkommnung. ῾Irfān ist daher ein Erkenntniszustand, unter dem man sowohl einen Zustand der Weisheit und geistiger Erfahrung verstehen kann als auch einen Erlebenszustand, der sich über die bloße Erkenntnis hinaus auszeichnet. Des Weiteren unterscheidet sich die islamische Mystik von der Theologie dadurch, dass im Sufismus Poesie, Musik und Tanz als Ritualergänzung eine begleitende Rolle zur Erlangung der Wahrheit spielen.

Zuhd stellt einen zentralen Gesichtspunkt in der islamischen Mystik dar. Dabei geht es um den Verzicht auf die Habseligkeiten, weltlichen Genüsse und materielle Besessenheit. Dieser Aspekt der Frömmigkeit basiert darauf, dass die Weltabgewandtheit keineswegs den gewöhnlichen Gottesdiensten zu widersprechen beabsichtigte, vielmehr wird sie als Erweiterung und Vertiefung der Frömmigkeit verstanden, die darauf abzielt, Gott im alltäglichen Leben nicht zu vergessen. Des Weiteren soll zuhd auf die Begegnung mit Gott im Jenseits vorbereiten, da diese Begegnung Reinheit und Perfektion voraussetzt.

Der islamische Philosoph Ibn Sīnās definiert zuhd als einen Akt der Entsagung beziehungsweise des Verzichtes auf die Genüsse und Habseligkeiten und die Vergnügungen des diesseitigen Lebens. Er unterscheidet drei Begriffe für Frömmigkeit: die Askese (zuhd), das Beten (‘ibāda) und die Erkenntnis (ma‘rifa). An dieser Stelle beschreibt Ibn Sīnā drei Aspekte einer Frömmigkeit, die eher nach den Erwartungen und Zielen eines Gläubigen, der nach Gott strebt, definiert werden. Die Frömmigkeit eines Gottesdieners und eines Asketen sind an Erwartungen und eine jenseitige Belohnung geknüpft. Anders als die bereits Erwähnten erwartet der Erkenntnissucher (‘Ārif) keine jenseitige Belohnung. Der Mystiker möchte nur zu Gott, wünscht nur ihn und seine Nähe. In diesem Sinne versteht Ibn Sīnā unter zuhd und ‘ibāda für einen Nichtmystiker eine Art „Handeln“.

Ibn Sīnā liefert einen wichtigen Grund dafür, warum das Streben des Mystikers seinem Willen entstammt, denn er hegt keinen zusätzlichen Wunsch und erwartet keinen Gewinn. Er möchte nur zu Gott, was Gott auch immer anstrebt, und dies Gottes wegen. Die gesamte Askese dient dazu, den eigenen Willen zu stärken, indem der Mystiker nichts Anderes wünscht als die Nähe zu Gott.

Zuhd und ‘ibāda sind für Ibn Sīnā Werkzeuge, mit deren Hilfe der Mensch seinen eigenen Willen trainiert und stärkt. Dafür muss der Mystiker strenge Seelenaskese betreiben, um die Autonomie der Seele zu erlangen. Diese Seeelenaskese findet in drei Stufen statt: die Elimination von allem außer der Wahrheit; die Unterjochung der Triebseele (Sure 12, Vers 53) beziehungsweise der das Böse befehlenden Seele, was Seelenfrieden herbeiführt; und die Verfeinerung des Inneren für ein klares Bewusstsein.

Die Verbindung von Askese und Willen (irāda) ist eine Sinnerweiterung der Scharia. Während die Scharia an dem Konzept von „Vorbild und Nachahmung“ (Igtihād-taqlīd) festhält, ist die mystische Lehre darum bemüht, den Willen zu stärken, den Gläubigen von der Nachahmung loszulösen. So gesehen steht zuhd nicht im Widerspruch zu den formalen Gottesdiensten, sondern ist ein Akt der Steigerung und des Dauergedenkens Gottes, um Gott im Alltag nicht zu vergessen und sich in Gottes Lehren zu vertiefen. Hiermit wird der Grad der Erwartung der Mystiker an Religiosität und Glauben aufgezeigt. Während sich die Scharia auf die vorgegebenen Normen konzentriert, verlangt es der mystische Pfad, den eigentlichen und wahren Sinn zu begreifen.

Gottesliebe ist das Herzstück

Liebe ist das Herzstück der islamischen Mystik und somit die höchste Stufe, die direkt zu Gott führt. Durch Liebe kann der Mystiker alle anderen Stufe erklimmen, bis er schließlich Gott erreicht. Folglich sind alle asketischen Aktivitäten eines Mystikers, die mit Anstrengungen verbunden sind und zu festen Standpunkten (maqāmāt) führen, die Früchte der Gottesliebe. Liebe ist somit die Essenz der spirituellen Vereinigung mit Gott.

In der islamischen Mystik sind vor allem zwei Begriffe für den Zustand der Liebe gebräuchlich: mahabba, der koranische Begriff für Zuneigung und Mögen, und išq, ein Begriff, den man zwar nicht im Koran findet, der jedoch häufig in der mystischen Literatur und in den Überlieferungen vorkommt. Die orthodoxen Gelehrten lehnen dessen ungeachtet den Begriff išq für die Gottesliebe ab, und wenn überhaupt, so sprechen sie von mahabba als einem Attribut des Menschen und Gottes und verweisen auf einige Koranstellen, in denen der Begriff für Liebe verwendet wird (4:31 oder 5:54). Al-Ghazālī kritisiert die orthodoxen Gelehrten für ihr Unverständnis bezüglich der Verwendung des Begriffs für die Liebe. Sie seien der Meinung, dass die Gehorsamkeit, für die sich die orthodoxen Gelehrten aussprechen, die Frucht der Liebe darstelle (Lehre von den Stufen zur Gottesliebe. Die Bücher 31–36 seines Hauptwerkes, eingeleitet und kommentiert von Richard Gramlich, Wiesbaden 1984, 632).

Die Liebe zu Gott ist für einen Mystiker ein Akt der Souveränität und freiwilligen Hingabe an Gott, da sie Unabhängigkeit von Gewinn und Belohnung verleiht. Somit strebt ein Mystiker weder nach paradiesischem Vergnügen noch lebt er in Angst vor der Hölle. Sein Ziel ist Gott allein beziehungsweise das Aufgehen in Gott und das Bestreben, sich mit ihm zu verewigen. Genau an dieser Stelle lässt sich der Unterschied zwischen einer mystischen und Scharia-orientierten orthodoxen Theologie erkennen. Ein Gläubiger, der sich an der Scharia orientiert, begnügt sich mit den rituellen Verpflichtungen und erfüllt die Gebote und Verbote, in der Hoffnung, durch Gehorsam eine Belohnung im Paradies zu erhalten und Strafen zu vermeiden.

Rābi‘a al-‘Adawiyya (gestorben 801), eine Frau aus Basra, gehört zu den ersten Mystikerinnen, die eine Liebesmystik im Islam verkörperten. Sie blieb unverheiratet und gab alles Weltliche auf aus Liebe zu Gott. Sie vertritt eine Haltung, die man durchaus als Zeichen für bedingungslose Liebe deuten kann. Dieses Zeichen stellt für sie die Essenz der religiösen Frömmigkeit dar. Rābi‘a al-‘Adawiyyas Botschaft der Gottesliebe ist: „dass diese Liebe, die unter Ausschließung alles anderen auf Gott gerichtet ist, uneigennützig sein muss, dass sie weder auf Hoffnung schauen darf, noch auf Befreiung von Strafe, sondern nicht nach anderem trachtete, als den Willen Gottes zu erfüllen, das heißt das, was Ihm wohlgefällt, auf dass er verherrlicht werde“ (Margaret Smith, Rabi’a von Basra „Oh, mein Herr, Du genügst mir“! Heilige Frauen im Islam, Cambridge 1997, 133).

Sehnsucht nach einer besseren Welt

Ähnliches verbindet Galāl ad-Dīn ar-Rūmī mit dem Begriff der Liebe. Im Mittelpunkt seiner Werke steht die Liebe als Essenz alles Existierenden. Auch in seiner Haltung zu seinem Meister und Freund Šams Šīrāzī entdeckt man die Kraft der Liebe, die oft missverstanden und als sexuelle Liebe deklariert wurde. Für Rūmī stellt die Liebe die Leiter zur göttlichen Welt dar, und wer die Gottesliebe in sich trägt, der steigt zu Gott empor und ist folglich ein vollkommener Mensch, da er Gott in seinen Attributen auf der Erde manifestiert. Das repräsentiere eine Bedeutung der Stellvertreterschaft des Menschen auf Erden. In diesem Sinne sind Musik und Tanz jene Hilfsmittel, mit denen der Mystiker um Gott kreist und sich mit ihm verbindet. Scheinbar führte das Verschwinden von Rūmīs Meister Rūmī auf die Suche nach göttlicher Liebe. Mit Musik und Tanz kam bei ihm eine starke Sehnsucht zum Ausdruck (vgl. Annemarie Schimmel, Rūmī. Ich bin Wind und Du bist Feuer. Leben und Werk des großen Mystikers, Düsseldorf 1978, 204).

Musik (samā‘) war für ihn die Sprache der Liebenden beziehungsweise die „Sprache der Liebe“, die mit dem „Hauch Gottes“ gleichzusetzen ist. Mit samā‘ beabsichtigt ein Mystiker, wie Rumi einen Zustand der Ekstase (wağd) zu erreichen. Mit Hilfe dieser Sprache trachtet er nach Nähe und Harmonie. Somit kann sie nicht übersetzt, sondern nur tatsächlich erlebt werden.

Zwar ist die Musik weiterhin unter den Theologen umstritten und wird im religiös-orthodoxen Kreis der Mystiker verurteilt, jedoch werden in zahlreichen Sufi-Orden Musik und Tanz praktiziert. Die samā‘-Praktiken symbolisieren für einen Mystiker, wie Fritz Meier es treffend formuliert, „das ‚Wasser der Beruhigung‘ auf das ‚Feuer des Nachdenkens‘, den Schritt der ‚Aufweitung‘ nach dem Schritt der ‚Zuschnürung‘“ (Vom Wesen der islamischen Mystik, Basel 1943, 18).

Samā‘ bedeutet eine Art Weltklang, und die Drehung durch Tanz spiegelt den Kreislauf des Werdens wider. Somit wird Musik als Sprache des Werdens verstanden, das heißt als Vereinigung der Bewegung mit der Musik. In diesem Sinne könnte man die Existenz als Akt der Liebe verstehen. Laut Schimmel entdeckte Rumi in der Schöpfung die Musik. Sie war das Erste, was aus der göttlichen Welt hervorgetreten ist, und alles Existierende verdankt seine Bewegung der göttlichen Musik.

Des Weiteren sieht Ināyat Khan die Schöpfung als Klang Gottes an. Das Erste, was Gott erschaffen habe, sei nicht das Wort gewesen, sondern der Klang. Ināyat Khan ist der Meinung, dass am Anfang der Klang existierte. Aus dem Urklang ist die Welt entstanden, und das Verhältnis von Leib und Seele wird in seiner Interpretation der persischen Poesie durch den Klang zum Ausdruck gebracht. Hafiz, ein persischer Sufi-Dichter, führt aus: „Viele sagen, dass das Leben in den menschlichen Körper einzog mit Hilfe von Musik, aber die Wahrheit ist, dass das Leben selbst Musik ist.“ Dieser Gedanke beruht auf der Schöpfungsvorstellung, und er spricht ferner: „Gott formte eine Figur aus Ton nach seinem Ebenbild, und daraufhin bat er die Seele dort einzuziehen. Aber die Seele weigerte sich, eingesperrt zu werden (...) Dann bat Gott die Engel, zu musizieren. Als sie spielten, wurde die Seele in Ekstase versetzt, welche dazu führte, in diesen Körper einzuziehen, um die Musik selbst klarer werden zu lassen“. Daraufhin sagt Hafiz: „Die Menschen sagen, dass die Seele in den Körper einzog, als sie dieses Lied hörte, aber in Wirklichkeit war die Seele selbst das Lied!“ (Inayat Khan, Musik. Aus Sufi Massage of Hazarat Inayat Khan, Genf 1996, 12).

Die Mystik ist eine asketische Bestrebung nach dem idealen Zustand, in dem der Mensch spirituell über sich hinauswächst, mit anderen Worten ist sie eine asketische Bemühung zu einem besseren Menschsein und Menschwerden. Der Weg zu diesem Zustand geht mit einer Bekämpfung aller „animalischen“ Begierden einher. Die Mystik ist zugleich eine ethische Gestaltbarkeit des Menschen, der in Bezug auf Gott und auf die Nähe zu ihm einen spirituellen Selbstentwurf vor Augen hat. Der Mystiker sieht das Verhältnis von Gott und Welt in einer Sein-Schein-Konstellation. Es geht einerseits um die Wahrheit und andererseits um die Erscheinung. Alles Sein ist göttliche Erscheinung. In diesem Sinne ist Monotheismus, der wahre Ein-Gott-Glaube, das Endziel der Mystiker.

Für einen Mystiker ist der Weg zu Gott ein praktischer Weg. Entsagung der Welt und der materiellen Abhängigkeit soll verdeutlichen, dass in der schwachen Haltung, die allein in der menschlichen Natur liegt, die Ursache der Gewalt, Habgier, Heuchelei und Doppelmoral zu finden ist. Der Mensch erkennt in der asketischen Haltung eine Zurückhaltung und somit einen Ort für das friedliche Zusammenleben. Dies ist ferner der Grund, dass der Mensch durch die Verbesserung und Vervollkommnung seines Selbst Gott ähnlich wird beziehungsweise über seinen natürlichen Mängeln steht. So formiert sich die Idee des perfekten Menschen und, ihr entgegengesetzt, die Idee des mangelhaften Menschen. Die Überwindung der eigenen Mängel beziehungsweise der materiellen Übermacht – und sich damit selbst als Herr über die materielle und geistige Existenz anzusehen – zeigt die Sehnsucht nach einer besseren Welt, der Welt des Absoluten, der Welt Gottes.

Anzeige: Geschichte der Päpste seit 1800. Von Jörg Ernesti

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