Ein Gespräch mit der Berliner SPD-Politikerin Sawsan Chebli„Junge Muslime sollen sich einmischen“

Das Ehrenamt ist ein hartes politisches Thema geworden. Denn es stärkt die Demokratie und die Identifikation mit Deutschland, wenn sich Bürger engagieren. Deshalb ist es wichtig, dass sich viele unterschiedliche Gruppen einbringen und auch Migranten mehr einbezogen werden, sagt Sawsan Chebli, Staatssekretärin für bürgerschaftliches Engagement in Berlin. Die Fragen stellte Claudia Keller.

Muslima mit Kopftuch kümmert sich um alte Frau
© KNA

Frau Chebli, Sie sind Staatssekretärin für bürgerschaftliches Engagement in Berlin. Was ist das eigentlich, bürgerschaftliches Engagement?

Sawsan Chebli: Es ist die Arbeit, die Menschen investieren, um anderen zu helfen, freiwillig und aus Überzeugung, ohne Geld dafür zu bekommen. Engagierte Bürgerinnen und Bürger sind die entscheidende Stütze einer demokratischen Gesellschaft. Vor allem begeistert mich die Vielfalt des Engagements. Sei es die Arbeit mit Jugendlichen oder das Engagement von Kindern und Jugendlichen. Denken Sie aber auch an das Ehrenamt in der Freiwilligen Feuerwehr oder im Sportverein. Menschen engagieren sich für Ältere oder in der Pflege. Ich habe Senioren kennengelernt, die Nachhilfe anbieten und benachteiligten Kindern Perspektiven vermitteln. Das hat mich sehr bewegt. Es gibt mir Hoffnung und Zuversicht, dass wir als Gesellschaft unseren Kompass nicht verloren haben.

Die Flüchtlingskrise 2015/2016 wäre ohne das Engagement tausender Menschen gar nicht zu bewältigen gewesen. Wurden auf die Ehrenamtlichen Aufgaben abgewälzt, die eigentlich staatliche Aufgaben sind?

Chebli: Das Ehrenamt ist nicht dazu da, staatliche Aufgaben zu übernehmen. Es sollte aus freien Stücken ausgeübt werden. Aber machen wir uns nichts vor: In der Situation, als innerhalb kürzester Zeit sehr viele Flüchtlinge kamen, hätte es der Staat alleine nicht geschafft. Es war großartig, dass so viele tausend Menschen sofort da waren und schnell mit angepackt haben, um das absolut Notwendigste bereitstellen zu können. Das zu erkennen, gehört zur Wahrheit dazu. Gemeinsam ist es uns trotz aller Schwierigkeiten gelungen, Schlafplätze für alle neu angekommenen Flüchtlinge zu organisieren. Ein Riesenkraftakt!

Engagieren sich immer noch so viele Menschen für die Geflüchteten?

Chebli: Das Engagement ist heute ein anderes. Es geht nicht mehr darum, Socken, Decken und Lebensmittel vor den Unterkünften bereitzustellen. Heute leben die meisten, die zu uns gekommen sind, in Wohnungen. Es geht um das Erlernen der deutschen Sprache, es geht um Arbeit, um Integration. Noch immer gibt es viele Menschen, die ihre Hilfe anbieten und den Geflüchteten helfen, heimisch zu werden. Für dieses Engagement im Alltag ohne große Publicity bin ich äußerst dankbar. Denn Integration ist ein langer Prozess, der sich über Generationen hinziehen kann.

Setzen Sie sich selbst auch ehrenamtlich ein in Ihrer Freizeit?

Chebli: Das lässt sich häufig nicht trennen. Das, was mich als Staatssekretärin für bürgerschaftliches Engagement und Internationales bewegt, bewegt mich auch als Privatperson. Zum Beispiel jungen Menschen eine Perspektive vermitteln, bedürftigen Menschen im Alltag helfen, Kinder in Armut empowern, Menschenrechte schützen, den Diskurs über Deutschlands Rolle in der Welt begleiten. Bei all diesen Themen engagiere ich mich auch privat.

Immer mehr Menschen vereinsamen oder ziehen sich in die Filterblasen des Internets zurück. Großbritannien hat mittlerweile ein Einsamkeitsministerium geschaffen. Lässt das Engagement für andere nach?

Chebli: Das kann man so nicht sagen. Gerade in den vergangenen Jahren, als so viele Menschen bei uns Zuflucht gesucht haben, konnten wir ja erleben, wie viele Menschen sich zum Engagement animieren lassen, wenn sie zum Beispiel täglich Bilder von Menschen in Not sehen. Aber richtig ist auch: Das Engagement verändert sich. Die Menschen wollen selbst bestimmen, wie und wo sie sich engagieren – weniger in klassischen Vereinsstrukturen, mehr in Projekten mit klaren Zielen, flexibler und thematisch fokussiert. Insgesamt gibt es sehr viel Bereitschaft zum Engagement. Und das macht unsere Gesellschaft stark.

Was wollen Sie als Staatssekretärin für bürgerschaftliches Engagement erreichen?

Chebli: Ich möchte dazu beitragen, dass die Gesellschaft nicht weiter auseinanderdriftet. Mir geht es darum, dass wir die Angriffe auf die Demokratie, die es in allen Teilen der Welt gibt, nicht auf die leichte Schulter nehmen. Wir müssen in die Zukunft unserer Demokratie und in den Zusammenhalt der Gesellschaft investieren. Ganz konkret heißt das: Ich möchte zum Beispiel mit den Freiwilligenagenturen in den Berliner Bezirken Strukturen schaffen, wo Menschen, die sich engagieren wollen, andocken können, um sich einzubringen. Ich habe einen Arbeitskreis gegen Antisemitismus ins Leben gerufen. Wir wollen weitere Maßnahmen gegen Antisemitismus entwickeln und diesem Gift für die Gesellschaft den Kampf ansagen. Ich möchte zudem Begegnungen zwischen Migranten und Mehrheitsbevölkerung fördern und Menschen für ein Engagement gewinnen, die sich bisher nicht oder nur in geringem Maße beteiligt haben. Denn eines ist für mich ganz klar: Die größte Gefahr für unsere Demokratie ist, wenn es sich zu viele auf der Zuschauerbank bequem machen. Wir sehen heute mehr denn je: Bürgerschaftliches Engagement ist längst kein weiches Thema mehr.

Woran machen Sie das fest?

Chebli: Unsere Gesellschaft ist zunehmend polarisiert. Wir haben eine Partei im Parlament, die die Gesellschaft bewusst auseinandertreibt und spaltet, die auf dem Rücken von Muslimen Wahlkampf gemacht hat, die das Menschheitsverbrechen an den europäischen Juden verharmlost und drittstärkste Partei im Bundestag ist. In den sozialen Medien erleben wir viel Hass und Hetze. Ich denke, viele Menschen spüren, dass sich etwas verändert hat, dass Einmischung gefragt ist und es sich verbietet, nur an der Seitenlinie zu stehen und die Entwicklungen zu kommentieren. Als die AfD zuletzt in Berlin demonstriert hat, haben nach Schätzungen der Polizei mehr als zehntausend Menschen dagegen demonstriert und ein Zeichen gegen Hass gesetzt. Das war ein wichtiges Zeichen. Eine starke Zivilgesellschaft ist der beste Schutz, der beste Impfstoff gegen Hass und Hetze. Dass sich Bürger engagieren, ist entscheidend für die Frage, in welchem Land wir in Zukunft leben werden.

Lässt sich über das bürgerschaftliche Engagement Heimat schaffen?

Chebli: Es kann zumindest identitätsstiftend wirken.

Wer identifiziert sich da mit wem oder was?

Chebli: Wenn ich mich für ein besseres und gerechteres Land starkmache, drücke ich meine Zugehörigkeit zu diesem Land aus. Deshalb freue ich mich, wenn sich zum Beispiel junge Muslime engagieren und sich als Bürgerinnen und Bürger unseres Landes einmischen.

Was ist Ihre Vision beim bürgerschaftlichen Engagement?

Chebli: Meine Leitfrage ist: Wie können wir die Gesellschaft zusammenhalten, und wie können wir unsere Demokratie schützen? Wichtig ist, dass wir nicht nur mit jenen sprechen, die schon überzeugt sind vom Mehrwert einer vielfältigen, offenen und toleranten Gesellschaft. Wir müssen raus aus unserer Blase. Ich würde mir wünschen, dass sich noch viel mehr unterschiedliche Menschen und Gruppen dazu motivieren ließen, sich zu engagieren. Ich möchte nicht, dass sich nur die bürgerlichen Schichten einbringen. Wir müssen auch jene Menschen ansprechen, die sich abgehängt fühlen, Vertrauen in uns verloren haben und heute vielleicht die AfD wählen. Und wir sollten auch viel stärker noch als bisher Migranten einbeziehen, vor allem diejenigen unter ihnen, die Hemmungen haben, aus sich und ihrem Umfeld herauszugehen.

Sie sind mit Anfang zwanzig in die SPD eingetreten. Warum haben Sie damals angefangen, sich politisch zu engagieren?

Chebli: Ich wollte nicht nur von der Seitenlinie aus beobachten, wie politische Entscheidungen getroffen werden, sondern selbst mitgestalten. Ich wollte meine Stimme hörbar machen, und ein Weg dafür war, einer Partei beizutreten und mich für die Themen einzusetzen, die ich gesellschaftspolitisch für relevant halte.

Andere treten heute in die AfD ein. Das Engagement geht nicht unbedingt einher mit dem Einsatz für die Demokratie.

Chebli: Auch unter AfD-Wählern gibt es viele, die sich für andere einsetzen, für junge Menschen zum Beispiel. Meine Hoffnung wäre es, sie zurückzugewinnen für die Demokratie und für die Gemeinschaft, dass sie merken, dass Offenheit und Pluralität nichts ist, wovor man sich fürchten muss. Dass sie toleranter werden. Vorurteile, Feindbilder hat jeder von uns. Der beste Weg, sie abzubauen, ist, den anderen kennenzulernen. Sei es, dass ein potenzielles AfD-Mitglied einen Muslim oder einen Flüchtling kennenlernt, aber auch, dass ein Muslim einen Juden kennenlernt oder ein Flüchtling einen AfD-Anhänger. Durch Begegnung kann man Hass abbauen. Vergangenes Jahr haben wir in Berlin die Kampagne „Farbe bekennen“ ins Leben gerufen, dieses Jahr wollen wir den „Farbe bekennen“-Award verleihen für das beste Begegnungsprojekt. Hier geht es darum, dass Geflüchtete auf Menschen treffen, die normalerweise nicht mit ihnen in Berührung kommen.

Viel Engagement geht in Deutschland von den Religionsgemeinschaften aus. In der Flüchtlingskrise haben auch Moscheegemeinden mit angepackt. Wünschen Sie sich noch mehr Engagement in der muslimischen Community?

Chebli: Kirchen, die jüdischen Gemeinden und muslimische Organisationen haben alle mit angepackt, um den Geflüchteten das Ankommen zu erleichtern. Begeistert hat mich auch, dass viele junge Muslime geholfen haben. Denn ich verstehe den Islam genau in diesem Sinne: dass man als Muslim Vorbild ist für andere, Vorbild in Nächstenliebe und Barmherzigkeit, dass man Menschen in Not hilft. Das sind für mich alles auch islamische Werte.

Etliche junge Leute haben sich von den großen Islamverbänden, etwa von dem türkischen Moscheeverband Ditib, abgewandt und ihre eigenen Organisationen gegründet. Entsteht da eine junge muslimische Zivilgesellschaft?

Chebli: Ja, es gibt inzwischen eine sehr lebendige muslimische Jugend. In Berlin hat sich die Deutsche Islamakademie gegründet, in Frankfurt die Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft, es gibt die Alhambra-Gesellschaft, I-Slam, die Comedians „Datteltäter“ und vieles mehr. Heute engagieren sich die Jugendlichen nicht nur für spezifisch muslimische Themen, sondern auch gegen Antisemitismus, für Geflüchtete, für die Umwelt.

Wie stark identifizieren sich junge Muslime mit Deutschland? Dass sich kürzlich die deutschen Fußball-Nationalspieler Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan haben fotografieren lassen, haben da Zweifel aufkommen lassen.

Chebli: Ich selbst finde die Fotos bedenklich. Die beiden Spieler sind nicht einfach nur zwei Jungs aus der Nachbarschaft, sondern für viele hierzulande Vorbilder. Ich habe aber mit einigen jungen Migranten und Muslimen über diese Fotos gesprochen. Es waren reflektierte, intelligente, junge Menschen. Die Mehrheit fand die Fotos in Ordnung, obwohl sie keine Erdoğan-Fans sind. Jetzt könnte man sagen: Diese Leute sind alle nicht integriert. Das ist mir zu einfach. Einer von ihnen sagte mir: Wenn ich jeden Tag höre, dass ich nicht dazugehöre, dann nehme ich das auch irgendwann ernst und versuche deshalb gar nicht erst, als Deutscher wahrgenommen zu werden. Das sind Entwicklungen, die mir Sorgen machen. Ich habe das Gefühl, dass wir bei der dritten Generation einen Rückwärtstrend in Sachen Zugehörigkeitsgefühl und Identifikation mit Deutschland erleben.

Wie geht das zusammen mit dem, was Sie zuvor gesagt haben? Dass sich diese junge Generation stark zivilgesellschaftlich engagiert?

Chebli: Ja, es gibt beides: frustrierten Rückzug und Radikalisierung auf der einen und eine empowerte und engagierte Jugend auf der anderen Seite. Wir müssen achtgeben, dass die erste Gruppe nicht größer wird. Die zweite Gruppe müssen wir dagegen stärken. Ihnen müssen wir als Gesellschaft Rückhalt geben. Gleichzeitig müssen wir auch denen die ausgestreckte Hand reichen, die sich abwenden. Unsere Gesellschaft darf niemanden aufgeben!

Sie haben sich mehrfach in den vergangenen Monaten zum Thema Antisemitismus geäußert. Unter anderem haben Sie Pflicht-Besuche in KZ-Gedenkstätten angeregt – für alle, die in diesem Land leben. Was ist aus Ihrer Forderung geworden?

Chebli: Mein Vorschlag hat eine Debatte angeregt, die auch international sehr beachtet wurde. Natürlich ist mir klar, dass ein Gedenkstätten-Besuch alleine nicht immunisiert gegen Antisemitismus. Aber er kann sensibilisieren und in Erinnerung halten, was in diesem Land vor nicht allzu langer Zeit an Verbrechen begangen wurde. Wir müssen diese Erinnerung aufrechterhalten, denn auch sie trägt zum Schutz unserer Demokratie und zum Schutz der Menschenrechte bei. Und deshalb fände ich es gut und richtig, dass jeder, der in diesem Land lebt, eine solche KZ-Gedenkstätte besuchen sollte. Etliche Kultusminister haben sich positiv geäußert, und auch der Verband der Gedenkstätten beschäftigt sich damit. Denn die Gedenkstätten-Besuche von Schülern gehen in einigen Bundesländern zurück, das alarmiert den Verband natürlich. Ich bin zuversichtlich, dass das Thema in der Bildungspolitik mehr Gewicht bekommt und dass in Zukunft wieder mehr Jugendliche an solchen Gedenkstättenbesuchen teilnehmen können.

Waren Sie als Schülerin in einer KZ-Gedenkstätte?

Chebli: Ich war in Sachsenhausen und Dachau. Man muss das gesehen haben, um nachvollziehen zu können, welche Verantwortung Deutschland aus der Geschichte trägt und heute jeder Einzelne von uns hat.

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