Das Verhältnis von Bund und Ländern zu den traditionellen Islamverbänden in Deutschland ist sehr schwierig geworden. Staatsverträge und andere Kooperationsvereinbarungen mit den Verbänden liegen in vielen Bundesländern auf Eis. Auf staatlicher Seite haben viele resigniert, weil sich die Verbände in den zurückliegenden zehn Jahren strukturell nicht so entwickelt haben, wie es nötig gewesen wäre, um sie ins deutsche Religionsverfassungsrecht zu integrieren. Auch beobachten die Behördenmitarbeiter eine inhaltliche Verengung vieler Moscheen auf die religiöse Unterweisung und kritisieren, dass sich die Verbände nicht im erhofften Maße in die Mehrheitsgesellschaft hinein geöffnet hätten. Viele Verbandsfunktionäre sind enttäuscht, dass ihnen der Staat nicht weiter entgegengekommen ist bei der Frage nach rechtlicher Anerkennung und finanzieller Unterstützung. Viel Vertrauen ging zudem verloren, als Anfang 2017 bekannt wurde, dass Imame des traditionell an die Regierung in Ankara gebundenen Moschee-Dachverbands Ditib in Deutschland als Spitzel für die Türkei tätig waren.
Dass sich Staat und Islamverbände entfremdet haben, sieht man im Bundesinnenministerium (BMI) aber gar nicht so negativ, sondern als Chance, um das Verhältnis zum Islam in Deutschland grundsätzlich neu aufzustellen. Im neuen Ressort „Heimat“ und dort in der Fachabteilung „Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ wird deshalb mit Hochdruck an einer Neuauflage der Deutschen Islamkonferenz (DIK) gearbeitet. Im Herbst könnte es so weit sein.
CDU und SPD haben sich im Koalitionsvertrag auf die Fortsetzung der Konferenz geeinigt, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bekräftigte die Absicht in ihrer Regierungserklärung am 21. März und forderte, dass die DIK eine „zentrale Rolle spielen“ und darüber nachdenken solle, wie „Religionsfreiheit und Staatskirchenverträge“, wie sie für Kirchen und Judentum selbstverständlich seien, auch für den Islam in „zukunftsfähige Strukturen“ münden könnten. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) schrieb Ende April in einem Beitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, die DIK werde sich der „Frage nach der Entwicklung eines nach den Gepflogenheiten des deutschen Religionsverfassungsrechts verfassten deutschen Islams für die in Deutschland lebenden und sich hier zugehörig fühlenden Menschen muslimischen Glaubens und muslimischer Abstammung widmen“.
Die kulturelle Zugehörigkeit zum Islam soll in den Mittelpunkt rücken
Zur Erinnerung: Die DIK wurde 2006 vom damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) ins Leben gerufen, um auf höchster staatlicher Ebene mit Vertretern des Islam ins Gespräch zu kommen. Seitdem wurden alle wichtigen religionspolitischen Themen besprochen: Es ging um Religionsunterricht und islamische Theologie an staatlichen Schulen und Hochschulen, um religiösen Fundamentalismus und die Treue zum Grundgesetz, um Werte und Sicherheit, es wurde über den Bau von Moscheen diskutiert und zuletzt über die Seelsorge und die Möglichkeiten, einen islamischen Wohlfahrtsverband zu gründen. Während das Gremium vor zwölf Jahren öffentlichkeitswirksam mit einer sehr breiten Teilnehmerrunde aus Verbandsfunktionären, unabhängigen Wissenschaftlern und auch islamkritischen Einzelpersönlichkeiten gestartet war, verhandelte man in der vergangenen Legislaturperiode mehr oder weniger hinter verschlossenen Türen und fast nur noch mit Vertretern der mehrheitlich konservativen Moscheeverbände.
Für die Neuauflage des Treffens will das Ministerium den Teilnehmerkreis wieder weiten und neue Zielgruppen in den Blick nehmen – ausgehend von einem viel breiteren Verständnis davon, was muslimisches Leben in Deutschland überhaupt ist. „Muslimische Identität hat nicht nur etwas mit religiöser Praxis zu tun, sondern auch mit der kulturellen Zugehörigkeit zum Islam. Diese Vielfalt islamischen Lebens muss die nächste DIK prägen, und wir müssen viel mehr als bisher auch die ‚Kulturmuslime‘ einbeziehen“, sagt Markus Kerber, der zuständige Staatssekretär im BMI.
Das ist ein völlig neuer Ansatz und spiegelt die aktuelle Diskussion in der Öffentlichkeit wider, wer überhaupt „die“ Muslime in Deutschland vertritt beziehungsweise vertreten sollte. Ende 2015 ging die Bundesregierung von 4,4 bis 4,7 Millionen Muslimen in Deutschland aus. In einer Studie des BMI von 2009 erklärte aber nur jeder fünfte Muslim, dass er sich zu einer der schätzungsweise 2350 Moscheegemeinden oder zu einem der vier großen Islamverbände Ditib, ZMD, Islamrat und VIKZ zugehörig fühlt.
Zur Vorbereitung der neuen DIK führen Staatssekretär Markus Kerber und seine Mitarbeiter seit Monaten viele Gespräche mit Muslimen, mit Vereinen und Organisationen auch auf kommunaler Ebene. Im März luden sie einige Dutzend Fachleute, Vertreter von islamischen Vereinen und Stiftungen, nicht organisierte muslimische Juristen und Islamwissenschaftler zu einem „Werkstattgespräch“ nach Berlin ein. Auch einige Verbandsfunktionäre waren dabei, aber deutlich in der Minderheit.
Die Behördenmitarbeiter stellten fest, dass sich seit zwei, drei Jahren eine junge, muslimische Zivilgesellschaft herausbildet, für die die Gründung einer Moschee und der regelmäßige Gottesdienstbesuch nicht mehr das Wichtigste ist. Sie treiben gesellschaftspolitische und integrationspolitische Themen um, sie gründen Akademien und Diskussionsforen, engagieren sich im Umweltschutz und in der politischen, religiösen und kulturellen Bildung, helfen Flüchtlingen und Kranken, geben Nachhilfe und schauen in Seniorenheimen vorbei – und alles mehr oder weniger ehrenamtlich. „Es gibt sehr viele junge, aufgeklärte deutsche Muslime, doch niemand kennt sie“, sagt Staatssekretär Kerber. „Für sie wollen wir ein Dialogforum schaffen und sie stärker in den Dialogprozess einbeziehen.“
Die Basis miteinbeziehen
Dieses zarte Pflänzchen einer neuen muslimischen Zivilgesellschaft will man mittels Projektförderung auch finanziell unterstützen und so auch die schweigende Mehrheit der Muslime, die sich bisher zu keiner Moschee zugehörig fühlte, motivieren, sich zu organisieren. Dahinter steht auch die Hoffnung, auf diesem Weg die Engagierten zu erreichen, die vor Ort in den Städten und Dörfern die Arbeit machen. In den vergangenen Legislaturperioden redeten am langen Tisch im Ministerium Spitzenbeamte mit Spitzenfunktionären und hofften darauf, dass die schon nach unten weitergeben, was oben besprochen wurde. Dieses starre Gerüst will man nun auch durch flexiblere Tagungsformate aufbrechen.
„Die Verbände haben nichts nach unten weitergegeben“, sagt Murat Kayman, „die Basis kennt die DIK überhaupt nicht“. Der 45-jährige Rechtsanwalt und Blogger muss es wissen. Er war selbst Funktionär bei Ditib und koordinierte bis 2017 die Arbeit der Landesverbände. Dann stieg er aus, weil ihm der Kurs des Verbands in die falsche Richtung ging. Auch der gesamte Vorstand des Bundesjugendverbands von Ditib ist zurückgetreten. Mittlerweile hat Kayman zusammen mit Freunden, allesamt Wissenschaftler, Juristen, Journalisten und Politiker, den Verein „Alhambra“ gegründet. Sie verstehen sich als „originärer Teil der europäischen Geschichte und ihrer jeweiligen europäischen Heimatgesellschaft“ und wollen besonders jungen Muslimen mit „Debattierclubs“, „muslimischen Quartetts“, Lesungen und Konzerten ein „breites Angebot im Bereich der politischen Bildung und der Kunst und Kultur machen, um so eine positive Selbstwahrnehmung auf der Grundlage des Völkerverständigungsgedankens zu stiften“. Sie haben auch die „Freitagsworte“ im Angebot, Interpretationen von Koranversen, aber eben in deutscher Sprache und auf die Bedürfnisse von deutschen Muslimen ausgerichtet. Die Veranstaltungen sind nicht an einen festen Ort gebunden, sondern finden flexibel mal hier, mal dort statt.
„Junge Muslime sollen lernen, wie Demokratie funktioniert, wie man Diskussionen konstruktiv führt und dass Debatten nicht über einen hinweggehen müssen, sondern dass man sich aktiv beteiligen kann“, sagt Murat Kayman. Er wünscht sich, dass es bei der neuen DIK um Inhalte und Visionen geht und nicht nur um die alten Strukturdebatten und die vielfach durchgekaute Frage, wie die Verbände verfassungsrechtlich als Religionsgemeinschaften anerkannt werden können. Vor allem anderen aber wünscht er sich „mehr Dynamik in der Diskussion um ein neues Wir in Deutschland. Ein Wir, das eben auch Muslime umfasst.“ Es müsse Aufgabe der DIK sein, diesen Gedanken und diese Diskussion in die Gesellschaft zu tragen. Das Werkstattgespräch im März stimmte ihn „zuversichtlich“, dass die Planungen in eine gute Richtung gehen.
Einfluss der Verbände neutralisieren
Für die Göttinger Islamwissenschaftlerin Riem Spielhaus ist die entscheidende Frage, „ob es der Staat hinbekommt, diesen zivilgesellschaftlichen Drive, den es an der Basis gibt, zu nutzen, zu unterstützen und nicht abzuwürgen.“ Auch sie hat an dem Workshop im März teilgenommen und war zunächst skeptisch, denn kurz zuvor hatte Bundesinnenminister Seehofer seine Meinung kundgetan, dass „der Islam nicht zu Deutschland“ gehöre. Doch die Behördenmitarbeiter seien so gut vorbereitet und interessiert gewesen und hätten partizipative Tagungsformate ausprobiert, so dass die Skepsis schnell verflogen sei. Auch der neue Ansatz, die DIK breit aufzustellen, stärker nach den Bedürfnissen in den Kommunen vor Ort zu fragen und danach, wie das Erarbeitete in die Breite wirkt, findet ihre Zustimmung.
Auch viele andere engagierte Muslime begrüßen den neuen Ansatz im BMI, die Islamkonferenz breiter, zivilgesellschaftlicher aufzustellen und so mehr von der Vielfalt muslimischen Lebens abzubilden. Viele Islamkritiker werden sich darüber freuen, dass dadurch auch der Einfluss der traditionellen Islamverbände neutralisiert wird. Doch ob die Grundannahme von Staatssekretär Kerber richtig ist, dass es eine große, bisher schweigende Mehrheit von „Kulturmuslimen“ gibt, so wie es Millionen von „Kulturprotestanten“ gibt, ist bislang nicht erforscht. Verstehen sich wirklich so viele türkisch- und arabischstämmige Deutsche als Muslime? War es nicht vor allem die öffentliche Debatte nach dem 11. September 2001, die aus allen Türkisch- und Arabischstämmigen kurzerhand Muslime machte? Es könnte eine nicht ganz leichte Gratwanderung werden, auch religionsverfassungsrechtlich, was sich das BMI hier vorgenommen hat. Wie es scheint, ist man sich dessen bewusst.