Demnächst beschäftigt sich eine römische Bischofssynode mit dem Thema „Jugend, Glaube und Berufungsentscheidung“. Wie ist es zu Ihrer eigenen Berufungsentscheidung gekommen?
Seán Patrick O’Malley: Als ich etwa 10 Jahre alt war, nahm mein älterer Bruder an Exerzitien in einem Exerzitienhaus der Kapuziner teil. Mein Vater fuhr ihn mit dem Auto dorthin und ich durfte mitfahren. Als wir dort ankamen, trafen wir diesen alten, bayrischen Bruder, der im Garten arbeitete, und wir sprachen lange mit ihm, während mein Bruder in das Exerzitienhaus ging. Als wir nach Hause fuhren, sagte mein Vater: Weißt Du was? Das ist der glücklichste Mann der Welt.
Was meinte er damit?
O’Malley: Er strahlte Frieden und Freude aus. Und selbst als Kind dachte ich: Er hat keine schöne Kleidung, er macht eine dumme Arbeit im Garten, er hat keine schöne Ehefrau, kein schönes Haus, und doch: Er ist ein Mann des Friedens und der Freude. Und ich sagte mir: Ich würde gerne auch so glücklich sein.
Im Alter von 13 Jahren sind Sie auf das Kleine Seminar gekommen. Wollten Sie da schon Kapuziner werden?
O’Malley: Oh ja! Mich haben besonders die Missionen begeistert. Ich dachte, ich würde einmal Missionar werden. Am nächsten bin ich diesem Plan gekommen, als ich 1984 Bischof auf den amerikanischen Jungferninseln wurde. In unserer Provinz war es damals üblich, dass ungefähr ein Drittel der Männer in die Missionen ging. Ein Drittel ging in die Pfarreien und ein Drittel machte Seelsorge in Gefängnissen, Krankenhäusern und so weiter.
Wie denken Sie heute an Ihre Zeit in einer katholischen Schule in den Fünfziger- und Sechzigerjahren zurück?
O’Malley: Es war in gewisser Weise eine Art Schock. Unsere Kapuzinerprovinz in den Vereinigten Staaten war damals noch sehr stark von Deutschen geprägt, vor allem von Brüdern aus Bayern. So war in der Schule alles noch sehr deutsch. Ich wiederum kam aus einer irischen Pfarrei: Es forderte mich kulturell heraus. Aber das hat mir gutgetan. Denn später habe ich viel mit Migranten gearbeitet, und so half mir meine Schulzeit, kulturelle Unterschiede zu erkennen und schätzen zu lernen. Insgesamt war es aber eine wundervolle Erfahrung. Im Seminar waren wir Selbstversorger. Wir hatten einen Bauernhof, wir hatten Tiere, ich kümmerte mich um die Bienenkörbe. Es war ein gutes Leben, ein gesundes Leben. Das Seminar wurde von guten Brüdern geleitet, es gab keine Ablenkungen. Es war wirklich ein Leben nach dem Prinzip ora et labora. Wir erhielten eine klassische Ausbildung, lernten viel Latein und Griechisch.
Heutzutage charakterisieren viele diese Zeit, vor allem die katholischen Schulen damals, als autoritär und gewalttätig.
O’Malley: Oh nein, nein. So war es ganz und gar nicht. Es gab natürlich viel Disziplin, deutsche Ordnung, aber es war eine sehr glückliche Zeit. Es war sehr freudvoll, und wie gesagt: Auf dem Hof arbeiten, mit den Tieren, das war für mich als Stadtkind alles neu, und ich liebte es.
Viele Jahre später haben Sie in Ihrer Arbeit mit sexuellem Missbrauch zu tun bekommen. Sie leiten heute die päpstliche Kinderschutzkommission.
O’Malley: Während meiner Zeit in der katholischen Schule und auch als Priester habe ich nichts von diesen Dingen mitbekommen. Erst als ich Bischof wurde, habe ich zum ersten Mal davon gehört. Und ich glaube, das ging vielen Menschen so. Und dann zu entdecken, dass diese Jahre möglicherweise die schlimmsten waren, war wirklich ein Schock.
Langsam lernt die Kirche, damit umzugehen…
O’Malley: So schmerzhaft unser Weg gewesen ist, hat uns doch die Presse letztlich einen großen Dienst erwiesen, indem sie uns gezwungen hat, uns mit der Sache auseinanderzusetzen. Es war ein Segen, dass die Kirche unter dem Druck der Umstände anfangen musste, sich mit dem Thema Missbrauch zu beschäftigen.
Wie konnte es dazu kommen?
O’Malley: Nun, das Böse existiert. In jeder Generation, in jeder Zivilisation. Denken wir an die schrecklichen Kriege, den Holocaust, die Atombombe, die Abtreibung. Wir brauchen Gottes Gnade, um Zeugnis geben zu können. Das Böse ist dort draußen. Und manchmal ist es sogar in unserer Mitte.
Was kann die päpstliche Kinderschutzkommission tun, um Kinder zu schützen?
O’Malley: Das Wichtigste ist eigentlich, den Opfern einen Ort zu geben, wo sie eine Stimme haben. Wir wollen nicht zuletzt diejenigen, die in der Kirche Verantwortung tragen, auf das Thema aufmerksam machen. Das geht am besten, indem man ihnen die Gelegenheit gibt, Opfern zuzuhören. In Rom treffen sich jedes Jahr die neu geweihten Bischöfe. Zu diesem Termin nehme ich jedes Mal Missbrauchsopfer mit, normalerweise Mary Collins aus Irland. Oft kommen die jungen Bischöfe danach zu mir und sagen: Wissen Sie was, Herr Kardinal? Das Referat von Mary Collins war das Wichtigste, das ich die ganze Woche über gehört habe. Darüber freue mich.
Ist Mary Collins nicht aus der Kommission ausgetreten?
O’Malley: Ja, aber sie arbeitet immer noch mit mir in den Ausbildungsprogrammen.
Die Kommission hat neulich neue Mitglieder bekommen.
O’Malley: Im Vatikan werden solche Kommissionen normalerweise nach drei Jahren komplett ausgetauscht. Unsere Kommission hat darum gebeten, dass die Hälfte der Mitglieder bleiben kann, um für Kontinuität zu sorgen. Wir haben beim Heiligen Vater eine Liste mit Empfehlungen für die andere Hälfte eingereicht. Und der Papst hat dann aus dieser Liste die neuen Mitglieder ausgewählt und die neue Kommission eingerichtet. Unsere Ad-Experimentum-Phase ist jetzt beendet, und die Kommission besteht in Zukunft als dauerhafte Einrichtung.
Ihre Arbeit heute ist sehr weit weg von der geradezu kontemplativen Zeit im Seminar. Wie bleibt man dem kontemplativen Ideal treu, wenn man als Diözesanbischof und Kardinal wirkt?
O’Malley: Es ist eine Herausforderung. Wir haben unsere Regel und das Beispiel unserer Brüder. Ich versuche, in engem Kontakt mit unseren Leuten zu bleiben. In Boston haben wir zwei Gemeinschaften, die ich oft besuche. Und immer wenn ich in Washington bin, wo unsere Bischofskonferenz ihren Sitz hat und wo ich auch im Board unserer katholischen Universität bin, wohne ich im Capuchin College. Das ist unser Kloster in Washington, in dem ich zwanzig Jahre lang zuhause war. Ich war als Bischof den Kapuzinern eigentlich immer sehr nahe und wurde stets von ihnen unterstützt.
Aber in Boston wohnen Sie allein, oder?
O’Malley: Nein, ich lebe mit Diözesanpriestern zusammen. Ich habe den erzbischöflichen Palast verkauft und wohne zusammen mit einigen anderen Priestern im Rektorat der Kathedrale.
Eines der größten Probleme des Klerus ist die Einsamkeit. Wie sollte die Kirche damit umgehen?
O’Malley: Priestergemeinschaften sind wichtig. Ich bitte meine Diözesanpriester immer, sich einer solchen Gemeinschaft anzuschließen. Außerdem ermutige ich sie dazu, einer Lebensregel zu folgen, einen Plan für das eigene Leben zu haben. Und die jährlichen Exerzitien spielen eine wichtige Rolle. Wir sind in Amerika sehr aktivistisch veranlagt, da ist es wichtig für Priester, das innere Leben zu stärken.
Sie haben Ihre Ordensgelübde im Alter von 21 Jahren abgelegt. Als so junger Mann, der so eine Entscheidung für sein ganzes Leben trifft, hatten Sie da irgendwelche Zweifel?
O’Malley: Mein Bruder hat in diesem Alter geheiratet. Es war eine andere Welt. Wenn man damals zu mir gesagt hätte: Du darfst schon mit 15 ins Noviziat gehen, denn wäre ich mit 15 gegangen.
Warum ist das heute anders?
O’Malley: Die Menschen haben Lebensentscheidungen damals viel früher getroffen. Die Leute haben geheiratet, wenn sie die Universität verließen oder wenn sie aus der Armee kamen. Das war ganz normal. Es ist besorgniserregend, dass die Menschen heute Entscheidungen so lange aufschieben. Ist es aus Angst, Verpflichtungen einzugehen? Teilweise mag es auch damit zu tun haben, dass unser Bildungsystem in den USA so verrückt geworden ist. Menschen kommen heute aus den Hochschulen mit riesigen Schulden. Das gab es bei uns nicht. Als ich im College war, sagten die Leute: Ich habe mich durchs College gearbeitet. Das bedeutete: Du hattest in den Sommerferien und an den Wochenenden einen Job – und damit hast du die Studiengebühren bezahlt. Heute haben manche Absolventen einer guten Universität hunderttausend Dollar Schulden. Da wird man sich nicht beeilen, zu heiraten und Kinder zu kriegen.
Hatten Sie später Zweifel an Ihrer Berufung?
O’Malley: Nein. Ich bedaure es nicht. Ich würde es wieder tun.
Als junger Mensch, wer war Gott für Sie?
O’Malley: Gott … Die große Einsicht des Heiligen Franziskus war, dass Gott wirklich der Vater ist. Ich hatte einen wundervollen Vater. Das war sicher von großer Bedeutung. Es ist interessant. All die soziologischen Studien, die heute gemacht werden, zeigen: Den größten Einfluss darauf, ob jemand seinen Glauben praktizieren wird, hat das Beispiel des Vaters. Natürlich war auch meine Mutter sehr katholisch. Aber die Frömmigkeit meines Vaters, sein Glaube, stellte einen großen Einfluss auf unser Leben dar.
Was hat Sie Ihr Vater über Gott gelehrt?
O’Malley: Er lehrte uns durch sein Beispiel, durch seine Gebete, durch seine Treue. Er ging fast jeden Tag zur Messe, wir beteten in der Familie, wir beteten beim Essen, wir beteten den Rosenkranz zusammen.
Das ist 60 Jahre her. Wie haben sich Kirche und Welt verändert?
O’Malley: Vieles hat sich verändert. Als ich aufwuchs, ging zum Beispiel jeder Katholik in den USA auf eine katholische Schule. Wir hatten Nonnen, die uns unterrichteten. Ich habe den ersten Laien als Dozenten erlebt, als ich auf der Graduate School war. Ansonsten wurde ich nur von Schwestern und Priestern unterrichtet. Das hatte einen großen Einfluss auf das Leben der Kirche. Es hielt uns nahe an der Kirche. Die katholische Kultur wurde weitergegeben. Heute sind die meisten unserer Kinder auf öffentlichen Schulen. Das ist für uns eine Herausforderung. Und unsere katholischen Schulen bekommen keine Unterstützung vom Staat. Katholische Schulen gibt es, weil die Eltern sie unterhalten. Das ist ein großes Opfer. Als wir die Schwestern hatten, mussten wir keine Gehälter bezahlen. Heute müssen wir Laien als Lehrer anstellen. Soziologische Untersuchungen zeigen aber, dass in den Vereinigten Staaten Menschen, die katholische Bildungseinrichtungen besucht haben, mit höherer Wahrscheinlichkeit Ordensleute werden, ihren Glauben praktizieren, ihre Kinder taufen lassen.
In der jüngeren Generation gibt es viele Menschen, die Gott nicht sehen und die auch nichts vermissen. Sie leben ihr Leben, sie sind mit dem Alltag zufrieden und sie haben keine Perspektive darüber hinaus. Was hat die Kirche diesen Menschen zu sagen?
O’Malley: Ich glaube, es geht um etwas, das wir ihnen zeigen müssen. Es geht nicht darum, Leute zu überzeugen, dass unsere Ideen besser sind, sondern zu zeigen, dass ein Leben der Jüngerschaft einem Menschen Sinn und Glück vermittelt. Die große Krankheit unserer modernen Gesellschaft ist der übertriebene Individualismus. Und wenn diese Leute auch meinen, dass sie glücklich sind und ihnen nichts fehlt – spätestens wenn sie alt sind, werden sie denken: War das die richtige Wahl? Hätte ich der Welt vielleicht etwas mehr von mir selbst geben können? Paul VI. hat gesagt, die Kirche braucht Zeugen mehr als Lehrer. Die Glaubensweitergabe spielt sich nicht nur im Reich der Ideen ab. Wenn wir uns bemühen, unseren Glauben kohärent zu leben, dann können wir ein Zeichen sein, dass eine andere Art zu leben existiert, und dass diese Lebensweise Freude und auch Erfolgsgefühl mit sich bringt. Ein Leben des Dienstes, ein Leben nach den Idealen Jesu, humanisiert eine Gesellschaft.
Sie sind kürzlich für die Priesterweihe eines Kapuzinerbruders nach Deutschland gekommen. Die Zahl der Priesterberufungen ist in vielen westlichen Ländern drastisch zurückgegangen. Wie sollte die Kirche darauf reagieren?
O’Malley: Wir sind eine eucharistische Kirche. Das Priestertum ist ein Teil des Weges, mit dem Jesus seinen Dienst immer und überall präsent macht. Es ist etwas, für das die ganze Gemeinschaft Verantwortung übernehmen muss und für das sie auch beten muss. Ich bin immer traurig, wenn ich höre, dass jemand sagt: Ich habe darüber nachgedacht, Priester zu werden, aber alle meine Freunde und meine Familie haben mir davon abgeraten. Wir müssen als Katholiken unser Gewissen erforschen und begreifen, wie zentral die Eucharistie und damit das Priestertum im Leben der Kirche ist. Wir sollten für Priesterberufungen beten und zu einer sehr gegenkulturellen Entscheidung ermutigen – Priester zu werden.
In Deutschland und anderen europäischen Ländern werden angesichts des Priestermangels viele Aufgaben mittlerweile von anderen übernommen. Funktioniert die Kirche letztlich nicht auch ganz gut ohne Priester?
O’Malley: Die Kirche ist ein Volk, das sich um die Eucharistie versammelt. Das ist das Zentrum unseres Lebens. Und die göttliche Vorsehung hat es so gefügt, dass es der Priester ist, der uns die Eucharistie zugänglich macht.
In diesem Jahr hatte die Erzdiözese Boston den größten Weihejahrgang seit 1995. Wie kommt das?
O’Malley: In den letzten fünfzehn Jahren haben wir versucht, das Thema zu unserem Schwerpunkt zu machen. Drei Priester arbeiten in unserem Büro für Berufungen. Wir haben 65 Universitäten in der Erzdiözese, davon acht katholische. Jedes Jahr mache ich Exerzitien mit Universitätsstudenten, die sich für das Priestertum interessieren. Vor kurzem waren über 60 Studenten dabei. Wir haben zahlreiche Aktivitäten, um Berufungen zu fördern und für Berufungen zu beten, auch in den Familien. Das hat uns geholfen. Als ich in Boston ankam, war das Seminar leer und sollte verkauft werden. Und ich habe gesagt: Oh nein, wir müssen es füllen, nicht verkaufen.
Nebem dem Priestermangel gibt es ein zweites Problem. Eine Menge junger Priester hört nach wenigen Jahren wieder auf.
O’Malley: Die ersten fünf Jahre sind die schwierigsten.
Was kann man da tun?
O’Malley: Ich versuche, mich mit den jungen Priestern einmal im Monat zu treffen. Wir haben verschiedene Aktivitäten mit ihnen, wir bringen sie zusammen, wir sorgen für kontinuierliche Weiterbildung. Das ist ein sehr wichtiges Thema, das wir in der Vergangenheit vernachlässigt haben: die spirituelle und intellektuelle Aus- und Weiterbildung der Priester, sodass das Priestertum nicht fad wird, sondern seine Frische behält.
Sie sind ein Minderbruder mit sehr viel Macht. Sie wirken als Erzbischof einer wichtigen Diözese, Sie sind Kardinal der römischen Kirche. Macht birgt die Gefahr, dass sie diejenigen korrumpiert, die sie besitzen. Wie gehen Sie mit dieser Versuchung um?
O’Malley: Es kommt mir gar nicht so vor, als hätte ich viel Macht. Es ist wichtig, in seiner eigenen Gemeinschaft verwurzelt zu bleiben, sich der eigenen Grenzen bewusst zu sein. Ich verstehe den Unterschied zwischen dem Amt und der Realität der Person. All diese Menschen, die ein Foto mit mir machen wollen ... Sie tun das nicht, weil ich so hübsch bin, sondern wegen ihres Glaubens. Das beschämt mich.
Sie sind auch Mitglied im Kardinalsrat, der den Papst bei der Reform der Kurie berät. Warum ist die Kurienreform so wichtig?
O’Malley: Unsere Aufgabe ist nicht nur die Kurienreform. Wir beraten den Heiligen Vater in allen möglichen Angelegenheiten. Die Kurie muss modernisiert und den heutigen Bedürfnissen der Kirche angepasst werden, der Evangelisierung. Nehmen Sie das Beispiel Kommunikation, wo sich die Dinge so sehr verändert haben. Wir hatten einen großen Apparat, begründet von Marconi, das größte Radionetzwerk der Welt. Aber wer hört heute noch Radio über Kurzwelle?
Leute in Afrika?
O’Malley: Ja, aber man kann einen Radiosender in Afrika einrichten, der 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche sendet – für den gleichen Preis, den es kostet, eine halbe Stunde in der Woche von Rom aus zu senden. Wir wollen, dass es eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Dikasterien gibt, wir wollen den Umgang mit den Finanzen verbessern, damit es größere Transparenz und damit mehr Vertrauen gibt, und wir wollen allen Aktivitäten einen Impuls in Richtung Evangelisierung geben. Dafür existieren wir als Kirche: um zu evangelisieren. Auch möchten wir die Kurie sozusagen benutzerfreundlicher für die Bischofskonferenzen und die universale Kirche machen und den Dienst des Heiligen Vaters effektiver gestalten.
Wir haben in den letzten Jahren gesehen, dass der Papst sich auch viel Hilfe von außerhalb der Kurie holt. Warum ist das so?
O’Malley: Er legt Wert darauf, dass immer auch Stimmen von außen gehört werden. Auch unser Kardinalsrat steht sozusagen außerhalb der Kurie. Und ich glaube, wir können einen anderen Blick auf die Dinge einbringen. Das heißt nicht, dass der Papst sich nicht auch mit den Vertretern der Kurie berät.
Warum dauert der Reformprozess so lang? Er ist jetzt seit fünf Jahren im Gange.
O’Malley: Viele der Vorhaben sind aber auch schon umgesetzt. Es ist nicht so, dass wir bis zum Ende warten, bis wir mit der Implementierung der Reform beginnen. Es hat im Gegenteil eine kontinuierliche Umsetzung während des gesamten Prozesses gegeben.
Es ist nun über ein Jahr her, dass in den USA ein neuer Präsident gewählt wurde. Wie lässt sich das Verhältnis zwischen Präsident Donald Trump und der Bischofskonferenz am besten beschreiben?
O’Malley: Das Verhältnis zwischen der Bischofskonferenz und Präsident Trump ist angespannt, vor allem wegen der Einwanderungspolitik. Es ist nicht so, dass die Bischofskonferenz der Regierung jemals besonders nahegestanden hätte. Wir haben keine katholische Partei in den Vereinigten Staaten. Bei beiden Parteien gibt es Elemente, die mit der katholischen Soziallehre übereinstimmen, und Elemente, die unserer Lehre widersprechen. Aber ich würde sagen, das Thema Migration ist eines, das den Bischöfen sehr wichtig ist. Wir sind sehr enttäuscht, dass die Regierung eine solch harte Linie einnimmt, die uns so unnötig erscheint. Denn wir sind ein Land, das von Migranten aufgebaut wurde und das eine große Kapazität hat, Einwanderer zu integrieren, mehr als jedes andere Land, das ich kenne. Die Kinder der jetzigen Einwanderer werden Amerikaner sein. Wir haben eine politische Krise in den Vereinigten Staaten, und die aktuelle Präsidentschaft ist ein Resultat dieser Krise. Denn die politische Führung hat keine wirkliche Antwort auf die Bedürfnisse und die Leiden der gewöhnlichen Menschen gefunden. Trump war ein Genie darin, auf diese Nöte einzugehen. Wir müssen sehen, ob er auch Lösungen anzubieten hat. Unglücklicherweise versuchen einige, eine Anti-Migranten-Stimmung aufzubauen, als ob das die Lösung wäre.
Ist die Bischofskonferenz in dieser Frage einig?
O’Malley: Sehr einig.
Aber gibt es nicht immer wieder große Meinungsverschiedenheiten innerhalb des amerikanischen Katholizismus, gerade in sozialen Fragen?
O’Malley: Wie überall gibt es Spaltungen über Fragen, die aufkommen. Aber rund um das Thema Migration ist die Bischofskonferenz sich sehr einig.
Wie nehmen Sie die Polarisierung zwischen Pro-Life und Pro-Social-Justice-Katholiken in den USA wahr?
O’Malley: Die Bischöfe haben kürzlich eine interessante Studie durchführen lassen. Es ging darum herauszufinden, ob es zutrifft, dass diese Spaltung zwischen Pro-Life und Pro-Social-Justice existiert. Doch die Polarisierung war unter den durchschnittlichen Katholiken gar nicht so stark ausgeprägt, wie man hätte erwarten können. Es mag Führungspersönlichkeiten geben, die sich sehr stark auf ihre jeweiligen Anliegen konzentrieren. Aber den gewöhnlichen Gläubigen ist laut der Befragung sehr klar, dass es sich immer um das gleiche Evangelium handelt: das Evangelium des Lebens und das Evangelium der Sorge für die Armen.
Würden Sie also sagen, dass es sich eher um ein Problem unter den Eliten handelt?
Ich denke ja.
Wir spüren auch in Europa eine Verschärfung des Tons. Ein Beispiel aus der innerkirchlichen Debatte: Es gibt Stimmen, die sich für die Weihe von Frauen aussprechen und sagen: Wenn nötig, müsse man eine konservative Abspaltung riskieren, um in dieser Frage weiterzukommen. Wenn es darüber zum Schisma kommt, dann müsse das eben in Kauf genommen werden. Wie sehen Sie das?
O’Malley: Für uns als Katholiken ging es immer darum, Gottes Willen für die Kirche zu erkennen. Das stimmt nicht immer mit kulturellen oder politischen Entwicklungen überein. Es schockiert mich, dass jemand bereit wäre, die Einheit der Kirche zu opfern, um seine Anliegen voranzutreiben. Wir sollten uns mehr um die Einheit sorgen. Und Einheit auch mit den Orthodoxen. Die Orthodoxen teilen unsere apostolische Tradition und auch den Glauben, dass es Gottes Wille für uns ist, Männer zu Priestern zu weihen. Das ist in der Lehre der Kirche eine klare Sache. Das bedeutet nicht, dass wir nicht viel mehr tun müssen, um Frauen in Führungsrollen zu bringen, ihre Talente einzubringen. Es war mir extrem wichtig, dass Frauen in unserer Kommission mitarbeiten. Gerade im Bereich des Kinderschutzes bringen Frauen eine Perspektive ein, die entscheidend ist. Die Kirche muss also viel mehr tun. Das heißt aber nicht, dass die Kirche das Recht hätte, sich in dieser Frage gegen den Willen Gottes zu stellen.
Was kann denn getan werden, um die Polarisierung, auch wenn sie Ihres Erachtens eher unter den Eliten existiert, zu überwinden?
O’Malley: Wie Papst Franziskus immer betont, ist es entscheidend, miteinander zu sprechen. Es braucht Dialog.