Der Weg der Kirche in der DDRGärtnerei im Norden

Der katholischen Kirche in Ostdeutschland ist es in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zunehmend gelungen, sich selbst realistisch zu deuten. Das verweist für den emeritierten Kirchenhistoriker Josef Pilvousek darauf, dass es ihr glückte, sich in extremer Diaspora zu inkulturieren.

Berlin-Schöneberger Bürgermeister Ernst Reuter, Bundepräsident Theodor Heuss und Bischof Wilhelm Weskamm 1953
Besuchvon Bischof Wilhelm Weskamm bei Bundespräsident Theodor Heuss im April 1953 in SChöneberger Rathaus. Bild v.l.: Bürgermeister Ernst Reuter, Bundepräsident Theodor Heuss und Bischof Wilhelm Weskamm.© KNA

Die ganze Atmosphäre um die Kirche herum ist areligiös und antireligiös. Es ist so, wie wenn man eine Gärtnerei im Norden betreiben will“. Es war der diasporaerprobte Wilhelm Weskamm, der kurz nach der Errichtung einer eigenständigen „Ostdeutschen Bischofskonferenz“ (1950), später „Berliner Bischofskonferenz“ (1976–1990), mit einem Vortrag für Aufsehen sorgte, indem er damit begann, Katholischsein in der jungen DDR nicht mehr als vorübergehende Episode zu beschreiben, sondern als bleibende gesellschaftspolitische Herausforderung.

Durch Flüchtlinge und Vertriebene stieg die Katholikenzahl in der sowjetischen Besatzungszone nach 1945 zeitweise auf 12 Prozent, verminderte sich allerdings schon bald wieder, weil der Weg vieler Migranten weiter gen Westen führte. Dennoch bildete die Diasporakirche, der im Jahr der Wiedervereinigung 5 bis 7 Prozent der Bevölkerung angehörten – wie der emeritierte Erfurter Kirchenhistoriker Josef Pilvousek in seinem grundlegenden Band „Die katholische Kirche in der DDR. Beiträge zur Kirchengeschichte Mitteldeutschlands“ (Münster 2014) aufzuzeigen vermag –, für den SED-Staat fast ein halbes Jahrhundert lang einen ideologischen Hauptgegner.

Die Darstellung zum „DDR-Katholizismus“ versammelt unter sechs thematischen Schwerpunkten – „Heimatvertriebene und Flüchtlinge“, „Biografien“, „Wallfahrten“, „Kirchliches Leben im totalitären Staat“, „Konzil und Konzilsrezeption/Synode“, „Politischer und gesellschaftlicher Umbruch und die Folgen“ – insgesamt 27 chronologisch geordnete Beiträge, die bisher wenig bekannte Einblicke in den Weg der Diasporakirche zwischen Werra und Oder eröffnen.

„Erst mit der Amtsübernahme des früheren Magdeburger Weihbischofs Weskamm“ als Berliner Bischof (1951–1956), kommentiert Pilvousek dessen Positionierung, erfolgte eine Veränderung im kirchlichen Selbstverständnis: „Sein Vorgänger Kardinal Preysing, westlich eingestellt und von der Vorstellung getragen, dass Kirche in einem kommunistischen System auf Dauer nicht denkbar sei, und so vor allem an der Beseitigung des Systems interessiert und dessen Diskreditierung betreibend, hatte (…) keine Wege beschreiten können, die zu einer kirchlichen Stabilisierung hätten beitragen können“ (17).

Raues Klima innerhalb des Weltanschauungsstaats

Weskamm erkannte dagegen trotz zugespitzter ideologischer Rahmenbedingungen erstmals Spielräume, die „Gärtnerei im Norden“ nach allen Regeln der Kunst zu betreiben und sich damit angesichts des rauen Klimas innerhalb des Weltanschauungsstaats zu behaupten. Das war der Beginn einer Entwicklung, die nach Einschätzung Pilvouseks langfristig in Richtung einer eigenständig agierenden Kirche in Mitteldeutschland führte. Damit verbunden war zunächst eine veränderte Bewertung der permanenten Abwanderung von katholischen Flüchtlingen und Vertriebenen in die Bundesrepublik. Ihren Ausdruck fand diese Kritik an kaum gebremster Migration auf dem Kölner Katholikentag 1956 bei einer Predigt des Meißner Bischofs Otto Spülbeck (1958–1970), die unter dem Schlagwort vom „Fremden Haus“ in die Zeitgeschichte eingegangen ist.

„Aber wir leben in einem Haus, dessen Grundfeste wir nicht gebaut haben“, hieß es dort. „Wir tragen gerne dazu bei, dass wir selbst in diesem Haus noch menschenwürdig und als Christen leben können, aber wir können kein neues Stockwerk draufsetzen, da wir das Fundament für fehlerhaft halten“. Was zunächst wie eine Kampfansage des ostdeutschen Katholizismus wirkte, urteilt Josef Pilvousek, erwies sich jedoch als Neuformulierung von Grundsätzen zu „Möglichkeiten und Grenzen des Engagements der Katholiken im Gemeinwesen“.

Im Kontext der damaligen kirchenpolitischen Lage wurde deutlich, „dass Spülbeck, der sich bewusst für einen Dienst in der mitteldeutschen Diaspora entschieden hatte, eine Weichenstellung vornehmen wollte. Diese Predigt setzt eine neue Mentalität innerhalb der katholischen Kirche in der DDR voraus, wie sie auch Bischof Wilhelm Weskamm (…) anfanghaft beschrieb“ (108).

Die bald darauf einsetzende Aufbruchstimmung durch das Zweite Vatikanische Konzil, dem entscheidenden Ereignis in der jüngeren Geschichte der katholischen Kirche, machte auch vor den Grenzen der DDR nicht Halt. In wichtigen Teilen des ostdeutschen Katholizismus, in Studentengemeinden und Akademikergruppen, entwickelten sich geistig-geistliche Suchbewegungen. Ihre Impulse führten zu der noch von Otto Spülbeck einberufenen „Meißner Synode“ (1969–1971) und mündeten ein in die gemeinsame „Pastoralsynode der Jurisdiktionsbezirke in der DDR“.

Ist die Kirche heute in der Lage, sich in einer Minderheitensituation zu behaupten?

„Hochgerechnet haben sich an der Vorbereitung 146 000 Katholiken mit 12 000 Vorschlägen beteiligt. 151 Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren delegiert worden. Am 22. März 1973 konstituierte sich die Pastoralsynode unter dem Vorsitz von Kardinal Alfred Bengsch in Dresden. Auf der ersten Vollversammlung kam es zur Errichtung von fünf Fachkommissionen. Diese erarbeiteten im Ganzen neun Vorlagen. Sieben Sitzungen fanden statt, die letzte endete am 30. November 1975. Über Inhalte und Beschlüsse war teilweise heftig gerungen und gestritten worden. Der Grunddissens bestand in den unterschiedlichen Ansichten über das Verhältnis der katholischen Kirche zur sozialistischen Gesellschaft“ (371f.).

Auf welche Weise aber wurde die akribisch vorbereitete Pastoralsynode rezipiert? Nach dem Urteil des Gründungsdirektors der „Forschungsstelle für kirchliche Zeitgeschichte“ in Erfurt erfolgte die Umsetzung von „Gaudium et spes“ (GS) in Ostdeutschland zunächst ausgesprochen zögerlich. Hauptverantwortlich dafür sei Alfred Bengsch gewesen, der die Geschicke des Berliner (Erz-)Bistums von 1961–1979 bestimmte. Bekanntlich hatte Kardinal Bengsch gegen die Pastoralkonstitution votiert, weil er befürchtete, die Konzilstexte zum „Weltdienst“ der Christen würden vor allem den SED-Machthabern in die Hände spielen. Deshalb versuchte er – zentralistisch agierend – eine weitgehende politische Abstinenz der katholischen Kirche in der DDR durchzusetzen.

Dennoch erwiesen sich die Auseinandersetzungen um die Rezeption von „Gaudium et spes“ auf längere Sicht als kirchenpolitisch keineswegs folgenlos. In der Spätzeit des vormundschaftlichen Staates nahm Bischof Joachim Wanke bereits kurz nach seinem Amtsantritt – seit 1981 Apostolischer Administrator in Erfurt-Meiningen, von 1994 bis 2012 Bischof des neugegründeten Bistums Erfurt – eine theologische Neubewertung vor: „Den durchgehenden Grundimpuls der Seelsorge definierte er mit dem Wort Solidarisierung. Die Grundbestimmung der Kirche sei kein Selbstzweck, auch nicht im Raum der DDR. ‚Die Kirche muß sich verstehen als Instrument, das die Menschen auf die kommende Solidarisierung im Reich Gottes vorbereiten will.‘ Das sind, nahezu wörtlich, Aussagen von ‚Gaudium et spes‘“ (374).

Bischof Wanke vor allem war es, der eine Wende hin zu einer realistischen gesellschaftspolitischen Option eröffnete: als Kirche in einer nicht nur konfessionellen, sondern auch säkular-weltanschaulichen Ausnahmesituation, einer „doppelten Diaspora“.

Gerade diese Ortsbestimmung habe sich als zukunftsweisend erwiesen, sagte der ehemalige Thüringer Ministerpräsident und CDU-Politiker Bernhard Vogel Ende Juni 2018 bei einem Festakt, der aus Anlass von Pilvouseks 70. Geburtstag im Erfurter Coelicum stattfand. Alles sei dann nämlich viel schneller als erwartet gegangen: „Weil Glaube und christliches Leben in einer materialistisch-atheistisch geprägten Umwelt bewahrt werden konnten, trugen sie maßgeblich zur Friedlichen Revolution von 1989 bei“.

In der anschließenden Diskussionsrunde fragte der Moderator, der Journalist Daniel Deckers von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, ob die Kirche und die katholische Theologie überhaupt in der Lage seien, „sich angesichts von starkem religiösem Pluralismus und einer wachsenden Minderheitensituation unter freiheitlichen politischen, wirtschaftlichen und medialen Bedingungen zu behaupten“?

2002 wurde das 1952 gegründete philosophisch-theologische Studium in die staatliche Universität Erfurt integriert. Dadurch seien dafür vor Ort gute Voraussetzungen geschaffen worden, erwiderte der Präsident der Universität Erfurt, der Medienwissenschaftler Walter Bauer-Wabnegg. „Die katholisch-theologische Fakultät der Universität ist heute ein kreativer und innovativer Teil der Hochschule. Sie ist durchaus fähig, Impulse auch für die Theologie im Kontext der ‚alten Länder‘ zu geben“. Schließlich meinte Altbischof Joachim Wanke: Es sei schwierig, dem Anspruch einer wirklich kontextuell verstandenen Theologie gerecht zu werden. „Das Projekt, eine neue Sprache auch für die Nichtglaubenden zu finden, ist eine Herausforderung für alle Theologen zwischen Werra und Oder – und demnächst wohl auch zwischen Rhein und Donau“.

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