Bei Recherchen über die buddhistische Friedensbewegung im Vietnamkrieg stieß ich am 16. Mai 2017 auf den Namen einer mir unbekannten Frau: Nhat Chi Mai. Sie hatte sich auf den Tag genau vor 50 Jahren mitten in Saigon verbrannt. Die 33-jährige Aktivistin zündete sich selbst an, um als eine „Fackel“ die Finsternis des Krieges aufzulösen und „Frieden nach Vietnam zu bringen“, wie sie schrieb. Sie brannte buchstäblich für den Frieden. Auf dem Boden vor sich hatte sie zwei Statuen aufgestellt. Die eine stellte Quan The Am dar, die weibliche Bodhisattva des universellen Mitgefühls, die in Vietnam seit langem wie eine Göttin verehrt wird. Die andere Statue war die Jungfrau Maria.
Vor ihrem Tod hatte Nhat Chi Mai Briefe verfasst, in denen sie die Präsidenten von Nord- und von Südvietnam, die beide im Gegensatz zu den meisten Vietnamesen keine Buddhisten waren, anflehte, die Kämpfe endlich zu beenden. Trotz der herrschenden Repressionen gegenüber der Friedensbewegung waren 50 000 Menschen zu Nhat Chi Mais Trauerfeier gekommen. Sie war Schülerin des Mönches und Friedensaktivisten Thich Nhat Hanh gewesen und eine der drei ersten Nonnen seines mitten im Krieg gegründeten Intersein-Ordens.
Gut zwei Jahrzehnte später begann Thich Nhat Hanh, Retreats für traumatisierte US-Veteranen abzuhalten, die in der amerikanischen Gesellschaft überwiegend wie Outcasts behandelt werden. Wie wichtig diese therapeutische Form der Friedensarbeit ist, kann man daran ermessen, dass sich seit dem Kriegsende 1975 bis heute mehr als 100 000 Vietnam-Veteranen das Leben genommen haben. Das sind knapp doppelt so viele wie die in Vietnam gefallenen US-Soldaten. Thich Nhat Hanh konnte diese Retreats ausgerechnet für die ehemaligen Todfeinde seines Volkes abhalten, weil er den Krieg selbst miterlebt und weil er gelernt hat, die gängigen Täter-Opfer-Konzepte hinter sich zu lassen.
Friedensstifter ohne Lobby
Der Veteran Claude Thomas, der an einem dieser Retreats teilnahm, schreibt in seinem Buch „Am Tor zur Hölle: Der Weg eines Soldaten zum Zen-Mönch (Bielefeld 2013, 52) über Thich Nhat Hanh: „Er sagte, wir stellten ein enormes Potenzial dar, Heilung in die Welt zu tragen. Er erzählte uns auch, dass die Nicht-Veteranen größere Verantwortung für den Krieg trügen als die Veteranen. Dass es wegen der wechselseitigen Verbundenheit aller Dinge keine Möglichkeit gebe, der Verantwortung zu entfliehen. Dass diejenigen, die glaubten, nicht verantwortlich zu sein, die größte Verantwortung trügen. Dass der Lebensstil der Nicht-Veteranen die Institution Krieg unterstütze. Die Nicht-Veteranen, sagte er, müssten sich mit den Veteranen zusammensetzen und zuhören, müssten uns wirklich zuhören, müssten unsere Erfahrungen wirklich anhören.“
Die Begegnung mit Thich Nhat Hanh war für Claude Thomas unfassbar, und sie war folgenreich. Durch das Retreat kam ein heilender Prozess in Claude Thomas in Gang, an dessen Ende der hochdekorierte Ex-Soldat, der unzählige Buddhisten und Vietnamesen getötet hatte, selber zum Buddhisten wurde und 1995 in New York von Bernie Glassman zum Mönch ordiniert und in den Zen-Peacemaker-Orden aufgenommen wurde.
So eindrucksvoll viele Geschichten über zeitgenössische religiöse Friedensaktivisten in Asien auch sein mögen, es ist schwierig, ihr Engagement zu erforschen und bekannt zu machen. Es hat in der Tat damit zu tun, dass es an der Bereitschaft fehlt zuzuhören. Friedensstifter haben kaum eine Lobby. In unserer von den Massenmedien geprägten Gesellschaft werden Religionen lieber mit Gewalt, Fanatismus und (angeblich heiligen) Kriegen assoziiert. Ähnliches ist im Bereich der Wissenschaft festzustellen. Im Vergleich zur Fundamentalismus- und Konfliktforschung fristet die religiöse Friedensforschung ein kümmerliches Dasein. Und wo es doch eine solche gibt, sind die empirischen Fallbeispiele überwiegend auf Friedensstifter aus den abrahamitischen Religionen fokussiert.
Gandhi und den Dalai Lama – ja, die kennt man. Sie sind die prominenten Ausnahmen. Doch schon vom Wirken der „Gandhianer“ nach der Ermordung Gandhis vor 70 Jahren hat man hierzulande keine Ahnung.
Kaum anders ist es, wenn es um die Rolle friedensengagierter Buddhisten in Japan, Vietnam, Kambodscha oder Sri Lanka geht. Ihr mutiges Handeln zu erforschen, bringt zudem das zum Teil desaströse Vermächtnis imperialer westlicher (christlicher) Mächte im 20. Jahrhundert von Indien bis Japan an den Tag. Ein Grund dafür, dass von Gandhi bis zu Thich Nhat Hanh sogar große hinduistische und buddhistische Friedensstifter nie den Friedensnobelpreis erhalten haben. Die im Folgenden präsentierten Gestalten aus dem friedensengagierten Buddhismus und Hinduismus stehen exemplarisch für viele weitere Friedensstifter aus diesen Religionen.
Der 1929 geborene kambodschanische Mönch Maha Ghosananda hatte Glück, dass er infolge seiner Auslandsreisen der Eliminierung der Mönche durch das Pol Pot-Regime in seiner Heimat entgangen war. Nach der Entmachtung der Roten Khmer besuchte er die entkräfteten und verzweifelten Menschen in den Flüchtlingslagern Südostasiens. Er setzte sich für den Wiederaufbau der Tempel und die Ausbildung eines neuen buddhistischen Klerus in Kambodscha ein. 1992 organisierte er gemeinsam mit überlebenden Mönchen und Nonnen aus den Flüchtlingslagern einen einmonatigen Friedensmarsch von der Grenze zu Thailand durch die verminten Schlachtfelder bis nach Pnom Penh.
Damit durchbrach er bewusst das traditionelle Rollenbild, das Asiaten den Mönchen und Nonnen zuschreiben: dass sie in Klöster gehörten, dass ihre Arbeit sich auf Textstudium, Meditation und gewisse rituelle Handlungen beschränke. Dagegen erklärte Maha Ghosananda den Teilnehmern zu Beginn dieses ersten Marsches: „Wir Buddhisten müssen den Mut aufbringen, unsere eigenen Tempel zu verlassen und uns in die Tempel der menschlichen Erfahrung zu begeben, Tempel, die erfüllt sind von Leiden. Wenn wir auf den Buddha, auf Christus oder auf Gandhi hören, bleibt uns gar nichts anderes zu tun. Dann werden die Flüchtlingslager, die Gefängnisse, die Ghettos und Schlachtfelder unsere Tempel sein. (...) Jetzt ist es Zeit für den Frieden, und buddhistische Mönche werden eine fünfte Armee nach Kambodscha bringen – die Armee des Buddha. Wir werden die Waffen der liebevollen Güte auf die Menschen abfeuern. Die Armee des Buddha wird strikte Neutralität wahren. Achtsamkeit wird unsere Rüstung sein. Wir werden eine so mutige Streitmacht sein, dass wir uns von der Gewalt abwenden werden“ (Wenn der Buddha lächelt: Frieden finden – Schritt für Schritt, Freiburg 1997, 80–81, 96).
Mit einer einmaligen Aktion war es für Maha Ghosananda nicht getan, denn Frieden zu verwirklichen, ist ein langsamer Prozess „Schritt für Schritt“, wie er sagte. Die seit 1992 alljährlich durchgeführten Friedensmärsche, die normalerweise etliche Wochen dauerten und gezielt durch die Krisenregionen Kambodschas führten, an Minenfeldern entlang und mitten durch umkämpfte Gebiete, leiteten den ersehnten, doch langwierigen und leidvollen Prozess der nationalen Versöhnung ein. Von Jahr zu Jahr wurden die Märsche größer, mitunter waren es bis zu 100 000 Teilnehmer – trotz der Tatsache, dass hin und wieder einzelne Teilnehmer sogar ihr Leben verloren.
Zum Ritual der Märsche gehörten von Anfang an die Wassersegnungen, die Maha Ghosananda und die teilnehmenden Mönche und Nonnen millionenfach spendeten. Vom frühen Morgen bis zum Abend warteten die Menschen am Straßenrand. In Händen hielten sie Kerzen, Räucherstäbchen und Wasserbehälter, in denen Blumenblüten schwammen. Die Ordinierten besprenkelten die Menschen mit dem Wasser aus den Behältern, ob die Sonne schien oder ob es regnete, und wünschten ihnen Frieden und Glück. Sie machten keinen Unterschied: Alle Wartenden wurden gesegnet, unabhängig davon, ob es sich um Bauern oder Regierungssoldaten, um Rote Khmer-Anhänger, Vietnamesen oder um Flüchtlinge handelte. Dieser betont schlichte Reinigungsgestus symbolisierte das Wegwaschen der Kriegsleiden. Umgekehrt wurden die Marschierenden von den Bewohnern der Dörfer, von denen viele noch nie in ihrem Leben einen Mönch oder eine Nonne gesehen hatten, mit Nahrung und Obdach für die Nacht versorgt.
Maha Ghosananda lehnte die Kämpfe und die Gewalt als solche zwar ab, doch verurteilte er niemals die Menschen selbst. Oft geschah es, dass auch Kämpfer beiderseits der Straße – hier die Roten Khmer-Anhänger, dort die Regierungssoldaten – die Waffen niederlegten, ihre Schuhe auszogen, sich am Straßenrand niederließen und die vorbeiziehenden Mönche und Nonnen um den Wassersegen baten. Es kam auch vor, dass die Kämpfer nach der Segnung das Gewehr nicht mehr in die Hand nahmen, so „entwaffnend“ war dieser Gestus, war die unbekümmerte Gewaltlosigkeit der Marschierenden, so groß war ihre Sehnsucht nach Frieden.
Buddha der Schlachtfelder
1995 thematisierte der Friedensmarsch das enorme Problem der Landminen. 1996 galt die Aufmerksamkeit der Umweltzerstörung Kambodschas, insbesondere der massiven Baumrodung. So führte dieser Marsch durch die von der Abholzung am meisten betroffenen Provinzen. Tausende Bäume wurden unterwegs gepflanzt. Maha Ghosananda, für den Frieden auch die Versöhnung mit der Natur umfasst, erklärte unterwegs in seinen Ansprachen, dass der Wald und der Buddhismus von Anfang an unmittelbar miteinander verbunden seien. Er selbst hatte lange in Thailands Waldklöstern gelebt. So führte er aus, dass Mönche seit zweieinhalb Jahrtausenden unter Bäumen lebten, durch die Wälder zögen wie einst Buddha. Der Wald sei der ursprüngliche Lebensraum, der große Lehrer herangezogen habe. So sei auch Buddha unter einem Baum geboren, unter einem Baum erleuchtet und unter einem Baum aus dem Leben geschieden.
Im selben Jahr begannen im benachbarten Thailand nach dem Vorbild Maha Ghosanandas die dortigen „Umwelt-Mönche“ mit ihren alljährlichen Dharmaprozessionen und symbolischen Baumordinationen. Frieden im politischen Sinne und Frieden im ökologischen Sinne sind für engagierte Buddhisten in Asien untrennbar miteinander verbunden. So wurde Maha Ghosananda in den Neunzigerjahren als „der Buddha der Schlachtfelder“ berühmt. Häufiger noch nennen ihn die Menschen den „Gandhi Kambodschas“. Gemeinsam mit dem Dalai Lama gehörte er zu dem Kreis buddhistischer Persönlichkeiten, die 1986 von Papst Johannes Paul II. zum ersten interreligiösen Gebetstreffen für den Frieden in Assisi eingeladen worden waren. Seit 1994 wurde er mehrmals für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. 2007 starb er, ohne ihn erhalten zu haben.
Der Säulenheilige
Standbilder Gandhis sind im heutigen Indien allgegenwärtig. Siebzig Jahre nach seiner Ermordung wird er verehrt wie selten zuvor, zugleich wird er ignoriert wie nie. Vom 2. Oktober 2018 an wird in Indien und weltweit ein Jahr lang sein 150. Geburtstag gefeiert werden. Vielleicht werden diese Feierlichkeiten dazu beitragen, den erstarrten „Säulenheiligen“ in Indien wieder zum Leben zu erwecken. Dass ein Prophet beziehungsweise ein Heiliger im eigenen Land eher wenig gilt, wird man jedenfalls von Gandhi mit Bezug auf Indien durchaus sagen können. Nicht nur Gandhi persönlich war am Ende mit seiner gewaltfreien Strategie gescheitert, auch die Bewegung seiner anfänglich sehr zahlreichen Anhänger hat trotz zeitweiliger Teilerfolge bis heute kaum nachhaltig positive Ergebnisse in Richtung von mehr sozialer Gerechtigkeit und weniger Hunger, Armut und Ausbeutung – und damit: mehr gesellschaftlichen und interreligiösen Frieden im Lande – erzielen können.
Exemplarisch für die Bewegung der Gandhianer im heutigen Indien sei ein Mann erwähnt, der aktuell wohl der einflussreichste, von Gandhi geprägte Friedensaktivist in Indien ist: der aus Kerala stammende Rajagopal Puthan Veetil, der 1948 geboren wurde. Gemeinsam mit anderen Aktivisten war es ihm Anfang der Siebzigerjahre gelungen, eine Region in Zentralindien zu befrieden, das sogenannte „Tal der Banditen“. Dieses riesige Tal hatte bereits eine lange Geschichte gewalttätiger Gesetzlosigkeit hinter sich.
Es bildete das Operations- und Rückzugsgebiet für bewaffnete Räuberbanden, die über mehrere hundert Mitglieder verfügten und von den Regierungssoldaten kaum kontrolliert, geschweige denn besiegt werden konnten. Die Söhne vieler verarmter Familien ohne Bildung und berufliche Perspektiven schlossen sich den Banden an, sodass die Bewohner der Dörfer dieser Gegend mehr oder minder gezwungen waren, mit den Banden zu kooperieren. Die Dacoits, wie man die Banditen in Indien nennt, raubten Durchreisende aus oder entführten Menschen, um Lösegelder zu erpressen. Mehrfach überfielen sie auch Rajagopal und die anderen Gandhianer nachts in ihrem neu erbauten Ashram inmitten dieses Tals, schlugen sie blutig und forderten sie auf zu verschwinden, wenn sie nicht sterben wollten.
Doch die Sozial- und Friedensarbeiter ließen sich nicht einschüchtern, sie ließen sich lieber zusammenschlagen als aufzugeben. Ihre furchtlose „Seelenkraft“ machte Eindruck auf die Dacoits. Den Gandhianern gelang es, in Kontakt mit den Jugendlichen in diesen Banden zu kommen und über diese dann auch das Vertrauen ihrer älteren Anführer zu gewinnen. Im April 1972 legten schließlich im Ashram vor einem Standbild Gandhis und im Beisein zahlreicher Menschen rund 500 Dacoits freiwillig ihre Waffen nieder.
Aussöhnung mit den Mördern der eigenen Angehörigen
Dies war eine Sensation in Indien und sorgte für Schlagzeilen. Was Polizei- und Militäreinheiten in Jahrzehnten nicht gelungen war, hatten wenige Gandhianer in relativ kurzer Zeit erreicht. Einige der Rebellenanführer mussten für lange Zeit ins Gefängnis, doch sie und ihre Familien wurden auch während dieser Jahre von den Gandhianern bei ihrer Rehabilitation und sozialen Wiedereingliederung unterstützt und konnten im Ashram wohnen.
Die Friedensmission Rajagopals und der anderen Aktivisten ging noch einen mutigen Schritt weiter, was jenseits der großen medialen Aufmerksamkeit blieb. Die Gandhianer ermutigten diejenigen Familien im Tal, deren Angehörigen durch die Banden umgebracht wurden, die jeweiligen Mörder im Gefängnis zu besuchen und sich mit ihnen auszusöhnen.
„Die Hinterbliebenen sollten in die Gesichter der Männer blicken und ihnen verzeihen. Dies war ein herausfordernder und sehr schmerzlicher Prozess für diese schwer geprüften Menschen. Dennoch fanden viele von ihnen den Mut, hinzugehen. Die Szenen der Versöhnung waren zutiefst berührend. Beide Parteien schauten sich zu Beginn der Begegnung mit ernsten Gesichtern in die Augen. Dann plötzlich kamen die Emotionen, und es flossen Tränen (...) Sie umarmten sich. Durch diese Begegnungen und die Zeit im Gefängnis änderten viele der ehemaligen Bandenmitglieder ihr Leben radikal“ (Carmen Zanella, Das Erbe von Gandhi. Rajagopal P.V. – Ein Leben für den gewaltlosen Widerstand, Bern 2012, 82–83).
Seitdem reist Rajagopal – er benutzt wie die meisten Gandhianer stets nur seinen Vornamen – viel in Indien herum, um in Konflikten mit militanten Untergrundgruppen oder Adivasis, den Ureinwohnern Indiens, zu vermitteln. Dadurch wurde der Sozial- und Friedensaktivist im ganzen Land bekannt. Er ist einer der letzten großen Gandhianer in Indien. Rajagopal wurde zunehmend klar, dass einzelne erfolgreiche Friedensmissionen wie die im Tal der Banditen so lange keine nachhaltigen Verbesserungen für die Bevölkerung vor Ort haben werden, bis nicht die wirklichen Ursachen beseitigt werden. Es ging für ihn darum, die Kräfte zu bündeln und größer angelegte Maßnahmen zu ergreifen gegen die zunehmenden Formen struktureller Gewalt wie Armut, Landgrabbing, Schuldknechtschaft, Korruption und Ungerechtigkeit vor allem gegenüber Frauen und Mädchen. Diese rufen zuallererst Gewaltkonflikte hervor oder begünstigen diese – ein Teufelskreis, den bereits Gandhi im Blick hatte.
Um seinen größeren Aktivitäten eine Basis zu geben, gründete Rajagopal 1991 Ekta Parishad, das „Solidarische Bündnis“. Die Vereinigung, in der nicht nur Hindus, sondern auch Menschen anderer Religionszugehörigkeit engagiert sind, wuchs rasch stark an und entwickelte sich zu einer Massenbewegung der Landlosen beziehungsweise der Landenteigneten – mithin der Ärmsten der Armen. Angesichts dessen, dass Indien noch immer überwiegend ländlich-bäuerlich strukturiert ist, ging es Rajagopal zunächst im Sinne Gandhis darum, dass landlose Bauern wieder Landbesitzer werden, damit sie sich selbst ernähren und ganze Dörfer sich unabhängig versorgen und entwickeln können.
Protestmärsche nach dem Vorbild Gandhis
Zugleich setzt sich Rajagopal, über Gandhi hinaus, im Sinne des indischen Sozialreformers, Anwalts und Politikers Bhimrao Ambedkar (1891–1956) für die Überwindung des Kastensystems und für die Gleichberechtigung der Dalits mit den Kastenhindus ein. Je länger, je mehr bezog Rajagopal, noch über Gandhis und Ambedkars Anliegen hinaus, die unter- und außerhalb der hinduistischen Kastengesellschaft stehenden 100 Millionen Adivasis in seine Arbeit mit ein. Auch diesen vielfach zwangsenteigneten und -umgesiedelten Ureinwohnern, die fast neun Prozent der Bevölkerung Indiens ausmachen, solle der Staat endlich Gerechtigkeit widerfahren lassen, fordert er.
Immer wieder organisiert Ekta Parishad riesige Protestmärsche nach dem Vorbild Gandhis und der buddhistischen Friedensaktivisten. Beim bislang größten Marsch 2012, der Jan Satyagraha („Satyagraha des Volkes“) genannt wurde, marschierten rund 100 000 Adivasis und andere landlose Kleinbauern aus ganz Indien – unter ihnen sehr viele Frauen – die Strecke von Gwalior im Bundesstaat Madhya Pradesh nach Neu Delhi, um die Regierung zur Erfüllung ihrer Versprechungen aus früheren Jahren zu zwingen. Dieser Marsch, begleitet von mehr als 12 000 in Gewaltlosigkeit geschulten jungen Leuten, war die spektakulärste gewaltfreie Kampagne für eine Landreform in der Geschichte des unabhängigen Indien. Das Foto auf dem Cover dieser Ausgabe der Herder Korrespondenz zeigt eine Aufnahme aus dem Film „Millions can walk“ von Christoph Schaub und Kamal Musale über den Marsch.
Der Marsch begann an Gandhis Geburtstag. Auf halber Strecke in Agra unterzeichneten am 17. Oktober der damalige Minister für ländliche Entwicklung und Rajagopal eine Vereinbarung für eine umfassende Landrechtsreform, verbunden mit einem konkreten Fahrplan zur Umsetzung: Die Landlosen erhalten eigenes Bau- und Ackerland, ausdrücklich auch Frauen. Das Gesetz von 2006 für die Waldnutzungsrechte der Adivasis soll endlich umgesetzt werden. Auf Gesetzesebene waren ein Jahr später die meisten Forderungen bereits verabschiedet worden. Um die Erfolge von 2012 zu sichern und den Druck für die Phase der konkreten Durchsetzung vor Ort in den einzelnen Gemeinden aufrechtzuerhalten, aber auch, um die bisherigen Ziele global auszudehnen, plant Ekta Parishad seit 2015 eine globale Friedensoffensive.
Diese soll 2020 in einem Millionenmarsch für Frieden und Fortschritt für alle gipfeln. Ab 2019 ist ein 10 000 Kilometer langer Fußmarsch geplant. Eine internationale, interreligiöse Friedenskarawane bricht von Raj Ghat auf, dem Gandhi-Denkmal in Delhi, genau am 150. Geburtstag Gandhis (2. Oktober 2019). Der Fußmarsch führt ein Jahr lang durch 17 Länder bis nach Genf zum Sitz der Vereinten Nationen, wo die Karawane am 21. September 2020, dem „Internationalen Tag des Friedens“, ankommen soll.
Vom inneren Frieden zum universellen Frieden
Buddhistische wie hinduistische Aktivisten betonen zum einen, dass der Friede im eigenen Inneren beginnen muss, ehe er äußerlich in Gesellschaft und Politik sichtbar und wirksam werden kann. Zum anderen, dass dieser Friede holistischen Charakter hat. Daher hat ihre Friedensarbeit in der Regel nicht allein den Frieden zwischen Menschen, Nationen oder Religionen im Blick, sondern beinhaltet auch soziales, gesellschaftliches, ökologisches oder seelsorgerliches Engagement. Friedensarbeit zielt also nicht nur auf den Frieden unter Menschen (übrigens auch den Toten), sondern bezieht auch den Frieden mit den Tieren und der Natur mit ein.