Deutsche Muslime zwischen Säkularisierung und RadikalisierungDie Mär vom starken Islam

Die Deutsche Islamkonferenz sollte mit einer Bestandsaufnahme starten: Wie viel Islam gibt es wirklich in Deutschland?

Der Pharao im biblischen Buch Exodus bot seinem Volk den bis heute wirksamen Urmythos des Antisemitismus: Ägypten schaffe sich demografisch ab – und diese Semiten seien mit ihrem Zusammenhalt und Kinderreichtum schuld daran! Der „innere Feind“ war damit definiert, ihm wurde auch die Verschwörung mit externen Feinden vorgeworfen – und das Allzeit-Rezept zur Ausgrenzung, Entrechtung und schließlich Verfolgung religiöser Minderheiten war fertig. Auch an dieser Stelle bewiesen die Autoren der Bibel erstaunlich tiefe Einblicke in die menschliche Psychologie.

Man kann religionskundigen Teilen der deutschen Politik gar nicht vorwerfen, dass sie die Gefahren antimuslimischer und antisemitischer Rhetorik nicht gesehen hätten. Der damalige Bundesinnenminister – und heutige Bundestagspräsident – Wolfgang Schäuble (CDU) überraschte Parlament und Öffentlichkeit 2006 nicht nur mit der Eröffnung einer Deutschen Islamkonferenz, sondern auch mit der Aussage: „Der Islam ist Teil Deutschlands und Europas. Der Islam ist Teil unserer Gegenwart und unserer Zukunft“. Die islamische Religion sollte nicht mehr länger als Fremdkörper definiert, sondern in das gewachsene Miteinander aus Staat und Kirchen, jüdischen Gemeinden und zunehmend auch humanistischen Verbänden einbezogen werden. So weit der gut christdemokratische und verfassungspatriotische Plan. Doch gute zwölf Jahre später muss konstatiert werden, dass dieses friedensstiftende Ziel bislang nicht erreicht wurde. Schon die verdienstvolle DIK-Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“ (2009) zeigte die Organisationsschwäche der Verbände auf, die kaum in der Lage waren, die Mindestanforderungen an kirchliche Organisationen zu erfüllen.

Antisemitismus und Islamkritik

Beginnend mit den antifeministischen und verschwörungsmythischen Äußerungen der früheren Nachrichtensprecherin Eva Herman und spätestens mit dem Bestseller von Thilo Sarrazin (SPD) „Deutschland schafft sich ab“ (2010) – heftig beworben und vorabgedruckt von vielen deutschen Leitmedien, die heute selbst lauthals „Populismus“ und „Verschwörungsvorwürfe“ beklagen – haben sich die alten antisemitischen Mythen längst wieder tief im politischen Denken und Reden etabliert. Dazu trägt bei, dass sie durch Scharen von selbst ernannten, vor allem digitalen „Islamkritikern“ verbreitet und ausgebaut wurden.

Die Versicherungen aus über Facebookorganisierten Bewegungen wie Pegida und der neurechten „Alternative für Deutschland“ (AfD), dass sich ihre Abneigung diesmal „nur“ gegen Muslime richten würde, haben sich dabei längst als Farce erwiesen: Die Wiedernominierung und Wiederwahl des von der CDU nach einer zutiefst antijüdischen Rede ausgeschlossenen Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann und der verfehlte Fraktions- und Parteiausschluss des baden-württembergischen Landtagsabgeordneten Wolfgang Gedeon, der die antisemitische Fälschung der „Protokolle der Weisen von Zion“ als echte Produkte einer jüdischen Weltverschwörung bezeichnete, wiesen bereits ab 2016 die Richtung.

Hinzu traten die Auslassungen von AfD-Spitzenpolitikern wie des thüringischen Lehrers Björn Höcke („Wir brauchen nichts anderes als eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“) sowie des einstigen Konservativen Alexander Gauland (das NS-Regime als „Vogelschiss“ der deutschen Geschichte). Ganz aktuell vollendete der stellvertretende AfD-Fraktionsvorsitzende im baden-württembergischen Landtag, Emil Sänze, den Schulterschluss aus antimuslimischem Rassismus und Antisemitismus, indem er der deutsch-kurdischen Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne) eine Reise zu NS-Gedenkstätten im Land vorwarf. Sänze wörtlich: „Es fällt schon auf und wirkt peinlich, mit welcher geschmacklosen Verve unsere Landtagspräsidentin den deutschen NS-Schuldkomplex wieder für ihre politische Migrantengesellschaft-Agenda instrumentalisiert“.

All dies klingt nur so lange wirr, bis man den antisemitischen Grundmythos entziffert, der sich im Netz unter Codebegriffen wie „Hooton-Plan“, „UN-Migrationsplan“ und vor allem „Soros-Plan“ auf fast allen rechtsgerichteten Seiten und erst recht in geschlossenen Gruppen und Foren findet: Demnach hätten Juden zuerst die „stabilen“ Diktaturen des Orients zerstört, um nun durch den Massenzustrom vor allem muslimischer Flüchtlinge auch die germanische Mitte Europas zu fluten und zu zerstören.

Jeder Versuch, die Integration der Muslime oder gar des Islam in die bundesdeutsche Verfassungsordnung zu integrieren, sei daher bestenfalls naiv, stelle einen „Kniefall“ oder gleich einen Akt der antideutschen Mitverschwörung dar. Der frühere US-Präsident Barack Obama, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Justizminister Heiko Maas (SPD) werden daher nicht zufällig mit besonderem, rechtsesoterischem Hass verfolgt.

Zur Wahrheit gehört freilich auch, dass die islamischen Verbände sehr viel weniger als gedacht zur Integration in die deutsche Rechtsordnung beigetragen haben. Mit dem Abbau jeder Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit nach dem obskuren Putschversuch im Juli 2015 sowie der massiven Wiederbelebung eines nationalreligiösen Osmanismus enttäuschte die Türkei zudem gerade jene Kräfte, die auf ein Modell der Versöhnung von Islam und Demokratie gesetzt hatten. Die schiitisch-sunnitischen Stellvertreterkriege vom Jemen bis Syrien sowie der damit verbundene Aufmarsch des selbst ernannten „Islamischen Staates“ weit über den Irak hinaus befeuerten auch unter Muslimen wiederum die antisemitischen Mythen à la „Der IS – das ist der Mossad“.

Mit wachsender Verzweiflung wandten sich bundesdeutsche Demokraten also an theologisch und lebensweltlich „liberale Muslime“, die Vorwürfe gegen die Verbände, fromme Muslime und gegen die Türkei auch medial gerne bestätigten, ohne jedoch ihrerseits nennenswerte Anhängerschaft gewinnen zu können. Letztlich fordern einige von ihnen nicht weniger als einen deutschen Staatsislam, der an Stelle der türkischen Religionsbehörde Diyanet bestimmte Auslegungen des Islam per Gesetz und aus allgemeinen Steuermitteln durchsetzen soll. Anstatt also Muslime in die deutsche Verfassungsordnung zu integrieren, sollte die Bundesrepublik selbst die Religion alla turca verstaatlichen.

Angesichts dieser Gemengelage steht jede Neukonzeption der Deutschen Islamkonferenz vor der unmittelbaren Gefahr, nur zu einer weiteren Bühne der dramatischen Selbstdarstellung zu werden: Rechtsextreme Kreise werden sie als weiteren Beleg für die „Islamisierung“ beschimpfen, islamische Verbände und der türkische Staat die fortgesetzte „Diskriminierung der Muslime“ durch die deutsche Politik beklagen und liberale Muslime wiederum die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker medial dafür beschimpfen, dass nicht ausschließlich sie, sondern „konservative Verbände“ hofiert würden.

Stiller Rückzug aus der Praxis

Der Schlüssel der entgleisenden „Islamdebatten“ liegt dabei in einem Wahrnehmungsfehler, der von rechtsextremen sowie islamischen Kreisen bewusst weiterbetrieben und von Demokratinnen und Demokraten bislang nicht korrigiert wurde: der unwidersprochenen Annahme, „der Islam“ in Deutschland sei „stark“.

Tatsächlich befindet sich die islamische Welt jedoch in einer tiefen Krise, die selbst in der bereits erwähnten DIK-Studie 2009 bereits völlig sichtbar war: Erhebliche Anteile der Menschen aus muslimisch geprägten Herkunftsländern bezeichneten sich selbst schon damals überhaupt nicht mehr als muslimisch! Und selbst von jenen, die sich noch als solche bekannten, gehörten nach eigenen Angaben kaum noch 20 Prozent einem muslimischen Verband an, waren der Mitgliedsbeitrag und das regelmäßige Gebet zum Minderheitenphänomen geworden!

Die absurd hohe Zahl von bis zu „fünf Millionen Muslimen in Deutschland“ ergibt sich nur aus der Tatsache schlampiger Statistik: Während bei Christen und Juden zu Recht nur die beitragspflichtigen Mitglieder in Kirchen und jüdischen Gemeinden gezählt werden (obwohl auch die jüdische Religionszugehörigkeit per Geburt vererbt wird), wird die islamische Religionszugehörigkeit in Deutschland noch immer auf Basis der Herkunft ermittelt. Würden wir die Zahl der Christen so ermitteln wie jene der Muslime, wäre Sachsen auf einen Schlag wieder zu über 90 Prozent „christlich“! Denn die meisten Menschen in Sachsen hatten christliche Vorfahren und begehen auch noch Weihnachten.

Zu Recht zählen unsere Statistiken jedoch nur jene knapp über 20 Prozent der Sachsen als christlich, die tapfer noch oder wieder einer Kirche angehören. Bei den Muslimen zählen wir jedoch immer noch die Herkunft, beflügeln damit Vertretungsträume selbst ernannter Funktionäre und verschleiern die alltägliche Säkularisierung.

Tatsache ist, dass sich die allermeisten Menschen muslimischer Herkunft in einem „stillen Rückzug“ aus der religiösen Praxis befinden, sich keiner Moscheegemeinde anschließen und Religion zwar durchaus gerne auch entschieden „bekennen“, aber zugleich als ihre Privatangelegenheit betrachten und immer weniger praktizieren – wenn sie ihnen überhaupt noch etwas bedeutet. Genau deswegen verlieren die meisten islamischen Verbände überdurchschnittlich häufig erfolgreich integrierte, liberal gesinnte und zahlungsbereite Mitglieder. Aus den schwindenden Mitgliedsbeiträgen können sie in Deutschland ausgebildete Akademiker überhaupt nicht mehr bezahlen und greifen schon deswegen auf ausländische Hilfskräfte und türkische Religionsbeamte zurück.

Dies entfremdet die jüngeren und gebildeteren Muslime den Gemeinden jedoch noch mehr, die sich daher zunehmend in eigenen und oft digitalen Netzwerken sammeln. Die Ergebnisse sind längst zu besichtigen: Sich mit digitalen Verschwörungsmythen radikalisierende Minderheiten von 15 bis 20 Prozent „der Muslime“ bestimmen die mediale Wahrnehmung und Teile der Verbandslandschaft, während die große Mehrheit der Muslime in Deutschland sich längst still und leise aus der Religion zurückzieht und auch für „liberale Moscheen“ kein gesteigertes Interesse mehr entwickelt. Im Zerfall befindet sich damit genau die bürgerliche, islamische Mitte, die Vernunft und Glauben zusammendenken könnte.

Dass auch eine Mehrheit der Frauen im Iran das Kopftuch längst herunterreißen möchte und dass die Geburtenraten in so unterschiedlichen Ländern wie der Türkei, dem Iran, in Bosnien und den Vereinigten Arabischen Emiraten längst unter die sogenannte Bestandserhaltungsgrenze von 2,1 Geburten pro Frau gefallen sind, sei der Vollständigkeit halber ebenfalls erwähnt. Wo immer Alphabetisierung und wirtschaftliche Modernisierungsprozesse einsetzen, brechen die Geburtenraten in islamisch geprägten Ländern massiv ein und bleiben nur in unterentwickelten Regionen wie Afghanistan oder Mali noch hoch; ebenso wie bei ihren christlichen Nachbarn (Äthiopien, Uganda und andere).

Die kinderreichsten Religionsgemeinschaften auf unserem Planeten entstammen heute ausschließlich dem christlichen Religionskreis, wie die „Old Order Amish“, die „Hutterer“, „Quiverfulls“ und „Mormonen“ oder den jüdischen Traditionen wie die sogenannten „ultraorthodoxen“ „Haredim“. Mangels Religionsfreiheit haben sich in der islamischen Welt nirgendwo vergleichbare Selbstorganisationen mit eigenen Bildungs- und Betreuungsangeboten entwickeln können – Ansätze wie die pakistanischen „Ahmaddiya“ oder die türkische „Gülen-Hizmet-Gruppe“ werden verfolgt und vertrieben und können fast nur im Schutz christlich geprägter Rechtsstaaten überleben.

Oder anders gesagt: Deutschland schafft sich überhaupt nicht ab und eine „Islamisierung“ Europas durch einen „Geburtendschihad“ und ähnliche Fiktionen findet faktisch nicht statt!

Empfehlungen für eine neue, deutsche Islamkonferenz

Wenn ich daher als Religionswissenschaftler den Verantwortlichen einen Rat zur Neukonzeption der Deutschen Islamkonferenz geben darf, wäre es dieser: Startet mit einer schonungslosen, ehrlichen und wissenschaftlich überprüften Bestandsaufnahme des Islam in Deutschland! Gebt neue Studien in Auftrag und befragt die Vertreter sowohl der etablierten wie der „liberalen“ Muslimverbände nach ihren realen Mitgliederzahlen, Finanzentwicklungen und Einflussmöglichkeiten. Lasst euch die reale religiöse Situation der Musliminnen und Muslime in Deutschland empirisch darlegen und überarbeitet endlich die Herkunft und Mitgliedschaft absurd vermischender Religionsstatistiken. Vor allem: Gebt den Erkenntnissen der internationalen Religionsdemografie endlich die Aufmerksamkeit, die sie verdienen, statt den Mythen von angeblich ewig kinderreichen Semiten weiterhin Raum zu geben.

Startet dann eine ehrliche Debatte auch in den Parlamenten darüber, inwiefern es die Aufgabe eines demokratischen Rechtsstaates sein kann, eine sich in der Krise befindende Religion aus Steuergeldern und über Behördenhandeln zu stabilisieren und zu reformieren. Dieser Auffassung kann man auch im Hinblick auf die Kirchen, die staatsfinanzierten christlichen und jüdischen Theologien sowie humanistischen Philosophien ja durchaus sein – nur sollte man dann wissen, worüber man redet und was man finanziert. Bindet in diese Debatten vor allem auch die religionspolitisch zuständigen Länder sowie erfahrene Kommunalpolitiker ein – und erkundigt euch, wo es vielversprechende Ansätze für eine islamisch-demokratische Zivilgesellschaft gibt. Meidet jene Talk-Shows, die mit dem Vorführen möglichst bizarrer Muslime Debatten nur simulieren und Vertrauen zerstören, statt die Öffentlichkeit ernsthaft zu informieren.

Der bisherige, anfangs ehrenwerte Ansatz der DIK ist nicht deswegen an seine Grenzen gekommen, weil der Islam in Deutschland „zu stark“ gewesen wäre – sondern weil er sich zwischen Säkularisierung, Privatisierung und Radikalisierung der Gläubigen in einer veritablen Krise befindet. Bibelleser wissen, dass es gerade auch in Religionsfragen nie klug war, den Verschwörungsmythen von Pharaonen und anderen Populisten zu folgen. Noch bleibt Zeit, es diesmal besser zu machen.

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