Sie sind Mitglied der SPD und der katholischen Kirche. Was betrübt Sie gerade mehr?
Heinz Bude: Eigentlich bin ich von beiden einst so prägenden Körperschaften unseres Gemeinwesens ähnlich enttäuscht, da sie deutlich hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben. Beiden fehlt ein Verständnis für den sozialen Wandel, in dem wir uns befinden.
Was bedeutet das für die Sozialdemokraten?
Bude: Die SPD muss sich mit ihren veränderten Grundanliegen beschäftigen: Sie muss ein neues Verständnis für eine Kultur öffentlicher Güter entwickeln, sie muss ihre Definition eines investiven Staates formulieren und sie muss sich auf den Spuren von John Maynard Keynes überlegen, wie man die Nutznießer des Finanzmarkts entmachten und den Unternehmer, der sich zum Schuldner macht, wieder in sein Recht setzen kann.
Und für die Kirche?
Bude: Die Kirche wiederum steht in der westlichen Welt vor der großen Frage, wen sie ansprechen und auf wen sie sich beziehen will. Will sie sich einem christlich aufgeklärten Bürgertum zuwenden, will sie diese durchaus ambivalente und inhomogene Mitte der Gesellschaft erreichen und binden? Oder bedeutet für sie die Option für die Armen, dass sie sich vor allem dem globalen Subproletariat der Ausgeschlossenen, Überzähligen und Flüchtenden verpflichtet fühlt, wie es vielleicht der Ansatz von Papst Franziskus ist?
Solidarität ist ein die Identität bestimmendes Kernanliegen. In Ihrem neuen Buch stellen Sie den Solidaritätsbegriff überraschend neu vor: Solidarität sei mehr eine Anforderung an den Einzelnen als an die Gemeinschaft. Was bedeutet das?
Bude: Solidarität kann heute nicht mehr von einem vorfindbaren Kollektiv her gedacht werden: die Mehrheit der Ausgebeuteten und Unterdrückten bei Karl Marx. Solidarität wird nur dann wieder zu einem starken Begriff, der die Leute bewegt, wenn der Grund der Solidarität im Ich gefunden wird. Die Angst öffnet das Ich für die Solidarität. Man kann noch so stark, so reich und so schlau sein, Schutz findet man nur mit und durch und bei den anderen.
Sie haben einmal gesagt, dass auch die Politik eine „metaphysische Dosis“ brauche. Liegt darin das Geheimnis der AfD?
Bude: Das politische Engagement braucht „starke Begriffe“, die den Einzelnen herausfordern. Hier hat die Rechte der Linken tatsächlich etwas voraus. Das hängt mit dem metaphysischen Grundproblem unserer Zeit zusammen, das auf das neoliberale Menschenbild zurückgeht. Die Welt ist aber eben nicht nur das Ergebnis meiner subjektiven Wahlen und meiner individuellen Präferenzen. Die Welt ist da und stellt mich mit meiner Selbstbezogenheit. Der Klimawandel findet statt. Wir haben die Freiheit, Trittbrettfahrer zu sein und die anderen auszutricksen. Wir können uns aber auch mit anderen zusammenschließen und beginnen, in dieser Welt zu sein.
Sie lehren an der Universität. Ist bei den Studenten wirklich eine metaphysische Sehnsucht wahrnehmbar?
Bude: Sie ist mit Händen zu greifen. Ich erkenne eine Suchbewegung bei den jungen Leuten, die den großen Fragen nicht ausweichen wollen. Man will nicht immerzu in der Deckung bleiben, Optionen vorhalten und auf keinen Fall peinlich wirken. Die von einem trivialisierten Kantianismus gepflegte Angst vor der Wahrheit spielt keine Rolle mehr. Das Problem ist nur, dass die jetzt Anfang- bis Mitte-Zwanzigjährigen mit ihrem metaphysischen Verlangen alleine gelassen werden. Das erklärt meiner Ansicht nach auch das Phänomen Greta Thunberg.
Ist es schlicht ein Individualismus und Egoismus, den Sie beklagen und den die Jugend überwinden will oder soll?
Bude: Ich beklage nichts, schon gar nicht den Individualismus. Ich stelle nur fest, dass vielen Einzelnen aus der jungen Generation das Ich fraglich geworden ist. Welche Welt gehört zu dem Ich, das sich als Zentrum der Welt begreift? Zwei ältere Herren aus der US-amerikanischen Philosophie haben jüngst darüber nachgedacht, wie man dem Bild vom Ich, das sich seine Welt konstruiert, entkommen kann. Hubert Dreyfus und Charles Taylor nennen ihr Buch zum metaphysischen Problem des Augenblicks „Die Wiedergewinnung des Realismus“.
Aber gerade die Klimabewegung appelliert doch an jeden Einzelnen, dass jeder mit seinem Handeln einen Beitrag leisten kann zur Rettung des Planeten.
Bude: Das ist schon in Ordnung. Man darf nur nicht glauben, dass man durch die Veränderung seines individuellen Verhaltens den Klimawandel stoppen kann. Der Klimawandel findet statt und vieles davon lässt sich gar nicht mehr rückgängig machen. Die Gefahr der apokalyptischen Panik besteht darin, dass am Ende nichts passiert. Wenn alles dem Klimawandel untergeordnet wird, muss einen der Pflegenotstand in deutschen Krankenhäusern nicht mehr so richtig interessieren. Das Ich triumphiert und der Zustand der Welt im Einzelnen wird uns egal.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Bude: Noch 2007 waren in den USA 70 Prozent der Menschen der Meinung, dass der Klimawandel menschengemacht ist. 2011 stimmten nur noch 44 Prozent der Befragten der Auffassung zu, dass der anhaltende Einsatz fossiler Brennstoffe das Klima verändere. Noch merkwürdiger ist die Tatsache, dass es über die Frage des Klimawandels zu einer scharfen Lagerbildung gekommen ist. 2008 war in beiden politischen Lagern die Akzeptanz der Tatsache des menschengemachten Klimawandels hoch. Heute glauben zwar immer noch 70 Prozent derjenigen, die sich als Demokraten oder Liberale verstehen, dass der Mensch das Klima nachhaltig verändert. Aber auf der Seite der Republikaner, insbesondere bei den Anhängern der Tea-Party, glauben in manchen Gegenden heute nur noch 20 Prozent an die Ergebnisse der Klimaforschung. Das kann man auf gezielte Indoktrinierung durch die Klimaleugner zurückführen. Das erklärt aber nicht, warum die einen dagegen immun waren und die anderen auf die Propaganda hereingefallen sind. Ich vermute, das hängt mit der apokalyptischen Engführung der Debatte zusammen. Wenn sich eine Gruppe die Rettung der Welt auf die Fahnen schreibt und von jeder einzelnen Person eine Umkehr verlangt, können sich die weniger Erregten und ruhiger Veranlagten schnell in die Ecke gedrängt fühlen und trotzig reagieren. Dann wird die Frage von beiden Seiten politisiert und der vorher herrschende Mehrheitskonsens ist dahin.
Was ist die Alternative?
Bude: Die eigentliche Alternative in der Frage des Klimawandels ist das franziskanische Modell, so wie es der New Yorker Schriftsteller Jonathan Franzen in seinem Essayband mit dem Titel „Das Ende vom Ende der Welt“ vertritt. Der franziskanische Imperativ lautet: Kümmere Dich um das, was Dir wichtig und lieb ist, so klein oder aussichtslos es auch sein mag. Aber rette nicht die ganze Welt auf einmal. Franzen geht das metaphysische Problem an und bietet eine alternative Praktik an: Das Individuum, das sich selber entscheiden kann, steht in seiner realen Welt, man kann auch sagen, in seiner kleinteiligen Welt, und trägt für etwas ihm Nahes Sorge.
Lässt sich das auch auf die kirchliche Situation übertragen?
Bude: In Bezug auf die Kirche stellt sich die Frage der weltlichen Eingebettetheit bei der Debatte über das Gewissen des Einzelnen. Was sagt das Lehramt, was sagt mir mein Gewissen? Liberale Katholiken nehmen sich heraus, die Lehre der Kirche zur Kenntnis zu nehmen und sich trotzdem nach ihrem eigenen Gewissen zu verhalten – weil meine Situation in der Welt nicht nur nach kirchlichen Maßstäben zu ermessen ist. Was mir das Evangelium bedeutet, wird in Spannung zum Dogma der Kirche gesetzt und im Gewissen des Einzelnen zum Austrag gebracht.
Ist das nicht schlicht eine protestantische Lösung?\
Bude: Papst Franziskus bietet dafür eine katholische Lösung, insofern er das Gewissen vor allem als eine affektive und nicht allein als eine kognitive Angelegenheit versteht. Wer bin ich, dass ich über die Liebe zwischen Männern richte? Im Blick auf die Liebe zwischen zwei Menschen treten die Fragen der Normgerechtigkeit ihrer Sexualität in den Hintergrund. Da muss ich nicht dogmatisch korrekt, sondern ich kann affektiv berührt urteilen. Das Gewissen spricht nicht frei und losgelöst, sondern im Sinne des Evangeliums und eingebettet in eine konkrete Situation.
Vor Jahren haben Sie mal Treue zur Kirche und Papst eingefordert? Was meinen Sie damit?
Bude: Ich meine Treue im Sinne von Jaques Derrida. Wenn einem etwas wichtig ist, hat man eine Treue dazu, selbst in der Kritik muss man treu bleiben. Die Treue zur Kirche ist für mich als gläubigen Katholiken dann eine Treue zu mir selber.
Wie sehr ist das Katholische bei Ihnen biografisch verankert?
Bude: Ich stamme aus Wuppertal, einer Stadt, die eher freikirchlich-pietistisch geprägt ist. Ich bin in der Diaspora aufgewachsen mit der Idee, dass es noch eine andere Welt gibt, nämlich Köln mit dem Dom und dem Kardinal, aber auch mit der Popkultur und einer anderen Weltläufigkeit. Insofern bin ich mit einem offenen Katholizismus groß geworden. Anders als bei Freunden, die etwa auf katholischen Internaten waren, habe ich nie diese aus schlimmen Erfahrungen kommende Ablehnung gegen die Kirche gehabt, sondern immer eine freiere Sympathie.
Auch in Ihrer Jugend wurde doch um Sexualmoral und Zölibat gerungen. Kein Thema?
Bude: Der Komplex von Sitte und Moral war für mich völlig uninteressant. Ich habe mich ehrlich gesagt keinen Moment damit aufgehalten. Mich beschäftigte eher die Frage, wie Glauben überhaupt gehen kann.
Woher kommt in der Gesellschaft das vorherrschende Bild der katholischen Enge?
Bude: So schlecht ist der Ruf des Katholischen gar nicht, da muss man aufpassen und sich nicht so schnell irritieren lassen. Aber der Ruf hat natürlich in Deutschland mit der intellektuellen Dominanz des Protestantismus zu tun. Es gibt in diesem protestantischen Denken eben das Vorurteil gegenüber dem Katholischen, dass das Magische im Katholischen etwas für beschränkte Geister sei.
Wie erleben Sie heute die intellektuelle Debatte und die Rolle des katholischen Denkens?
Bude: Man muss da anders hinschauen. Bruno Latour zum Beispiel ist ein katholischer Denker. Seine Vorstellung, dass sich die kategorialen Trennungen in einer Forschung, die sich nicht dem erkenntnistheoretischen Diktat der Wissenschaft unterwirft, nicht aufrechterhalten lassen, ist durch und durch katholisch. Die Dinge, die in der Gesellschaft mitspielen, der Mensch, der nie mit sich allein ist, die Moderne, die es vielleicht nie gegeben hat, das sind alles Inspirationen, die heute in einer Welt der verteilten Intelligenz, der anschmiegsamen Smartphones und der gemischten Genres sehr hilfreich sind.
Kann dieser Bezug auf die Wirklichkeit aufgefasst werden als eine Rückbesinnung auf ein Naturrecht, eine Struktur, die unhintergehbar wäre? Oder stößt sich das mit dem Freiheitsbegriff?
Bude: Es gibt sicher eine verhängnisvolle Vorstellung von Struktur oder gegebener Wirklichkeit als die Verhinderung von Freiheit oder Ausschluss von Möglichkeiten. Aber Struktur ist in der Welt die Ermöglichung von Freiheit. Das ist wichtig für die Weiterentwicklung eines Denkens, das nicht von selbstreflexiven Schließungen, sondern von transformativen Öffnungen her denkt, das sich nicht im Kreis, sondern im Oval erfüllt sieht.
In den aktuellen kirchlichen Debatten werden gerade die hergebrachten Strukturen hinterfragt. Muss die hierarchische Struktur der katholischen Kirche überwunden werden?
Bude: Es gibt im Zweiten Vatikanischen Konzil die große Auseinandersetzung zwischen der Idee der Kirche als Societas perfecta und der Idee der Kirche als Volk Gottes. Diese Debatte war extrem wichtig, die zweite Vorstellung hat sich durchgesetzt. Aber was bedeutet Volk Gottes heute? Das ist für mich noch eine theologische Leerstelle. Es reicht nicht, nur die Hierarchie zu überwinden.
Welche Schwierigkeiten sehen Sie beim Begriff Volk Gottes?
Bude: Die Herausforderung für diese Metaphorik der Kirche ist die Frage nach der Einheit und Gemeinschaft. Die Kirche bleibt eben hinter ihren Möglichkeiten zurück, wenn sie sich nicht zuständig fühlt für diese große Frage, wie die Einheit der Welt heute zu denken ist. Das lässt sich weder im engen Sinne nur demokratisch – also mit Mehrheitsentscheidungen – als auch nicht nur durch schlichte Akzeptanz von Pluralität organisieren.
Wie sehen Sie dann das Papstamt?
Bude: Vielleicht ist der Papst in einer neuen Ordnung nicht in einem hierarchischen Sinne derjenige, der oben steht, sondern in einem prozessualen Sinne derjenige, der nach vorne geht, der voranschreitet. Es ist das Bild des Moses. Der Papst ist der, der öffnet, Wege ermöglicht, vorangeht für das Volk Gottes. Das Volk Gottes kann sich wiederum sehen in einer langen Dauer mit einem großen Erbe. Das ist die Treue, die ich mir wünsche, die Treue auch zu dieser langen Dauer und diese Treue zur Idee der Einheit der Welt.
Lässt sich die Idee einer Einheit der Kirche aufrechterhalten angesichts so divergierender Vorstellungen etwa zur Homosexualität, zur Rolle der Frau oder auch dem Amtsverständnis des Klerus?
Bude: Es hilft nichts, die Kirche ist dazu verpflichtet, um die Einheit zu ringen, wie beim Zweiten Vatikanischen Konzil, als sich Helder Camara und Karol Wojtyla verständigen konnten. Das war ja eine großartige Begegnung der Kirche mit sich selbst als Weltkirche. Die Weltkirche muss in ihrer Vielfältigkeit in der römische Kurie repräsentiert sein. Dieser römische Pluralismus ermöglicht dann die Einheit der Kirche und ist überdies ein Modell für die Idee der Einheit der Welt. Es braucht eben doch ein Zwischenmodell zwischen Societas perfecta und Volk Gottes, weil ohne den Ankerpunkt das Volk sich leicht zerstreuen kann. Ohne Einheitsidee gibt es aber keine katholische Kirchenidee.
Papst Franziskus verfolgt ja eher die Idee regionaler Lösungen und einer Zurücknahme der römischen Dominanz.
Bude: Franziskus hat Recht, wenn er den Papst ins Bischofskollegium stellt, um so der Vielfalt Raum zu geben. Aber er hat auch gesehen, dass die Kirche sich nicht in der Gesellschaft erschöpft. In „Laudato Si“ hat er die Atmosphäre, den Weltraum in die Verantwortung der Kirche gestellt und damit zum Ausdruck gebracht, dass die Einheit der Welt weiter geht und auch, mit Donna Haraway gesprochen, die anders-als-nur-menschlichen Wesen mit einbeziehen muss.
Was bedeutet das konkret für die Reformanliegen? Soll alles so bleiben, wie es ist, oder nicht?
Bude: Es geht eben nicht um ein Entweder-oder. Die Kirche wird derzeit von zwei Fraktionen in Spannung gehalten. Da sind auf der einen Seite die Ästhetizisten, die Papst Benedikt nachtrauern und dem vollkommenen und schönen Bild einer idealen Kirche anhängen. Auf der anderen Seite sind diejenigen, die sagen, das Katholische zeigt sich eigentlich voll in der Hinwendung zu den Armen und Bedrängten. Diese Polarisierung in der gegenwärtigen Lage zerstört die Tradition des katholischen Denkens, welches sich nicht von den Extremen und Ausschließlichkeiten her definiert. Die Benedikt-Ästhetizisten wollen zurück in die Katakomben oder zumindest hinter den Lettner in den Chorraum. Die anderen wollen nur noch auf der Straße Kirche sein. Beides scheint mir falsch zu sein.
Sie sind Mitglied in einer Arbeitsgruppe des synodalen Wegs der deutschen Kirche. Themen sind Machtstrukturen, Priesteramt, Sexualmoral und Rolle der Frau. Was erhoffen Sie sich?
Bude: Ich erhoffe mir eine Stärkung der Kirche an der richtigen Stelle. Darüber müssen wir reden: Wo muss die Kirche stärker werden – und an welchen Stellen kann sie sich auch von Dingen verabschieden? In Fragen von Sitte und Moral kann sie sich deutlich stärker zurückziehen. In ihrem Proprium aber muss sie deutlich stärker werden. Also in gewisser Weise Rückkehr zum magischen Kerngeschäft.
Was meinen Sie denn mit diesem Begriff magisch? Katholiken sind doch vernünftig und wissen, dass es keinen Zauber gibt!
Bude: Der Kern des Katholischen ist und bleibt magisch, das können Sie bei Max Weber nachlesen. Und wenn das Wort zu missverständlich ist, bleiben Sie beim Begriff Mystik oder beim Wort Sakramente oder nennen Sie es „perfomative Akte“. Und diese gibt es nicht nur in der Religion. Wenn der Richter sagt „Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil“, dann ist das, wenn Sie so wollen, auch ein magischer Akt. Der Richter spricht dann nicht als physisches Individuum, sondern in seinem zweiten Körper, der ihm ermöglicht, so einen eigentlich ungeheuren Satz zu sagen. Das ist performative Magie der Staatlichkeit. Ich muss auch nicht irgendwie magisch veranlagt sein und meinen Verstand nicht aufgeben, um diese Magie der Kirche zu erkennen.
Wo sehen Sie konkret Reformbedarf in der Kirche?
Bude: Wenn die Pfarreien immer größer werden und die Kirche mit ihrem Angebot immer weiter wegrückt, rührt das an den Wesenskern der kirchlichen Vergemeinschaftung. Der kultische Vollzug muss gleichwohl gewährleistet bleiben. Insbesondere bei den Sakramenten. Dafür braucht es geweihtes Personal. Das kann man in der Gemeinde nicht reihum praktizieren. Die priesterliche Person braucht in ihrer kultischen Funktion eine gewisse Heiligkeit. Ich bin allerdings nicht der Meinung, dass man dieses Priesteramt allein Männern vorbehalten muss.
Wie stehen Sie zur Zölibatsverpflichtung für Priester?
Bude: Für mich ist der Zölibat ein Modell eines radikalen Lebens. Es ist eben eine Antwort auf die große Frage, wie die Welt sich auf Gott ausrichten kann. Im Zölibat weiht sich ein Mensch Gott. Dafür können die Christen, die ihr Christentum im Alltag so wie alle anderen leben, der Person des Priesters durchaus dankbar sein. Etwas anderes ist natürlich die Rekrutierung des Personals. Wer wird heute Priester? Jedenfalls kaum mehr der Spross einer alten Familie oder der talentierte Junge aus kleinen Verhältnissen, den sein Ehrgeiz nach ganz oben tragen soll.
Wie sehen Sie die Kritik am Pflichtzölibat gerade infolge der Missbrauchskrise?
Bude: In der Tat ist das in der gegenwärtigen Debatte ein wichtiges Argument, dass diese Exklusivität des Priesterkörpers bei manchen zu einer Art magischem Hochmut und einer Selbstverkennung geführt hat. Missbrauch wurde dann nicht als Verbrechen wahrgenommen. Der Zölibat wurde so zu einer Legitimation eines Machtmissbrauchs, das müssen wir klar sehen. Und deshalb braucht es wohl ein spezifisches Assessment bei der Auswahl der Priesteramtskandidaten. Die Kirche sollte sich aber deswegen nicht generell vom Zölibat als einer radikalen Lebensform verabschieden.
Verheiratete Priester und Frauenpriestertum sind geeignet, die Weltkirche zu spalten. Wie kann die Reform gelingen?
Bude: Es geht um die Präzisierung der Rolle. Was ist das kultische Rollensegment, was das seelsorgerische, wie vermittelt sich die geistliche Orientierung, worin besteht die spezifische Organisationsleistung eines Priesters? Es wäre weltkirchlich schon viel gewonnen, wenn alle Priester als Person einen Begriff ihrer zwei Körper hätten, die nicht so einfach fusioniert werden können.
Der Priester ist aber eingebunden in eine hierarchische Machtstruktur mit Bischöfen und dem Papst. Gerade diese Strukturen sind in der Missbrauchskrise auch als Schwachstellen identifiziert worden. Wollen Sie das ändern?
Bude: Die Kirche weist heute eine enorme Differenzierung der pastoralen Leistungen auf. Das kann man leicht an der Mitarbeitertafel eines Gemeindezentrums ablesen. Hier ist eine Kompetenz entstanden, der ein entsprechender Status verweigert wird. Der klassisch hierarchische Strukturaufbau lässt sich als allein organisatorisch nicht aufrechterhalten. Wissen und Können braucht Partizipation und Legitimation. Die Frage ist nur, ob sich aus der Verwaltung des Heils nicht auch eine institutionelle Ordnung ergibt, die nicht so einfach zu horizontalisieren ist. Handauflegung, Salbung, Segnung – das sind performative Akte, die eine Ordnung im Ganzen haben müssen.
Die evangelische Kirche hat eine synodale Struktur. Ist das eine Alternative?
Bude: Die evangelische Kirche hat es da mit einem allgemeinen Priestertum aller Getauften einfacher und schwieriger zugleich. Eine rein synodale Verfasstheit wie in der evangelischen Kirche halte ich für die katholische Kirche für unangebracht. Das spezifisch Katholische darf ruhig erhalten bleiben, die konfessionelle Verschiedenheit hat ihre Berechtigung und eine irgendwie gleichgemachte Christlichkeit führt an den unterschiedlichen Charakteristika vorbei.
Haben wir nicht auch im Katholischen zu Recht den persönlichen Glauben gegenüber diesen kirchlich-formalen Vollzügen in den Vordergrund gerückt?
Bude: Natürlich ist diese Hinwendung zum Individuum theologisch nachvollziehbar und auch richtig. Aber es hat zu einer Verkürzung und in dieser Einseitigkeit teilweise mit zur Kirchenkrise geführt. Die basalen performativen Akte der Kirche müssen erhalten bleiben, sonst verliert die Kirche ihren Sinn. Im Kultischen liegt das Wesen des Katholischen. Und diese kirchlichen Vollzüge dürfen eben nicht psychologisiert werden. Es muss bei dem magischen Areal der Kirche bleiben.
Ist mit oder ohne Reformen der generellen Entwicklung der Entkirchlichung und Säkularisierung, etwa abzulesen an den Kirchenaustrittszahlen, überhaupt beizukommen?
Bude: Ich warne vor einer Dramatisierung dieser Entwicklung. Man darf keineswegs Kirchlichkeit auf Zahlen von Kirchenbesuchsfrequenz oder formaler Mitgliedschaft beschränken. Das ist schon der Grundgedanke bei Thomas Luckmann und seinem einflussreichen Werk „Die unsichtbare Religion“. Wenn man Religiosität auf Kirchenbesuch reduziert, dann hat man nichts verstanden. Die Krise besteht doch darin, dass die Kirche keine starken Begründungen mehr liefert für die große Besonderheit der priesterlichen Akte. Es fehlt an der eigenen Überzeugung der Kirche, an den starken Begründungen für die performativen Akte, von Taufe über Eheschließung bis zur Beerdigung. Die Menschen brauchen diese Rituale, die Kirche ist die Verwalterin dieser Rituale, aber sie verwaltet sie bisweilen nur sehr schlecht.
Aber sehen Sie nicht einen Glaubensverlust in der Gesellschaft, einen Rückgang des christlichen Bekenntnisses?
Bude: Den Religionsverlust generell sehe ich eben nicht. Der Katholizismus ist eigentlich relativ konfessionsarm. Sie müssen gar nicht so furchtbar viel als Glauben bekennen und Innerliches preisgeben. Das Katholische hat eine Religiosität der Praktiken, der praktischen Vollzüge, die einleuchten, die einen über Schwellen gehen lassen. Auch die Rede von der Endlichkeit an meinem Krankenbett war so eine pastorale Praktik, die mich auf etwas Anderes verwiesen hat. Es ging da nicht um gläubig oder nicht-gläubig, um Bekenntnis oder Nicht-Bekenntnis.
Sie sehen weiter einen Bedarf, eine Suche nach Religion in der Gesellschaft?
Bude: Das Begehren nach Spiritualität ist bei uns mit Händen zu greifen, das können Sie auch in verschiedenen kulturellen Bereichen bis hin zur Popkultur beobachten. Die postsäkulare Gesellschaft ist eine extrem spirituelle Gesellschaft. Der große Vorteil der Kirche ist, dass sie eine Rationalisierung dieser wabernden Spiritualität vornehmen kann. Die Rationalisierung der Magie ist die große Leistung der Kirche. In all ihrer historischen Vielschichtigkeit und Pluralität, mit mystischen und monastischen Bewegungen, mit Dogmatisierungsprozessen und theologischen Debatten ist das ein Schatz.
Spirituelle Suche und Sehnsucht nach Einheit, wie gehört das zusammen?
Bude: Beides kommt gerade aus der rationalisierten, funktional differenzierten und komplexen Lebenswirklichkeit, in der es wichtig wird, Einheit denken zu können, Übergänge zwischen den Welten und Schwellen zu finden. Mit dem Philosophen Dieter Henrich kann man sagen: Eine Philosophie, die die platonische Idee der Einheit der Welt aufgibt, ist keine Philosophie mehr. Eine Soziologie, die die Idee von einer Einheit der Gesellschaft aufgibt, ist keine Soziologie mehr. Und eine Kirche, die die Frage der Einheit der Kirche aufgibt, ist keine Kirche mehr.
Zum Abschluss: Spiritualität und Kirche – wo bündelt sich das für Sie konkret? Wo ist für Sie persönlich der schönste Kirchenraum?
Bude: Keine Frage: der Aachener Dom.
Eine Erklärung?
Bude: Wenn Gott auf der Erde zu finden ist, dann dort.