Es ist interessant“, sinniert Papst Franziskus 2013 in seinem Apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“, „dass die Offenbarung uns sagt, dass die Erfüllung der Menschheit und der Geschichte sich in einer Stadt verwirklicht.“ (71) Gemeint ist das neue Jerusalem, das am Ende der Zeit von Gott her aus dem Himmel herabkommt. Eine funkelnde Megacity aus Edelsteinen, Gold und Perlen (vgl. Offb 21,2). Keine Rede also von Gott in der Natur, der Stille oder Weite. Die messianische Apokalypse hat die Form des Urbanen. Was könnte angesichts des rasanten Städtewachstums und der weltweit voranschreitenden Urbanisierung – Kofi Annan nannte das dritte Jahrtausend das „Jahrtausend der Städte“ – zeitgemäßer sein, als das Bild eines städtischen Weltfinales?
Und doch ist es gerade die Stadt, die den Kirchenleuten in Ländern christlicher Prägung Sorge bereitet. Während Tradition und soziale Strukturen „auf dem Land“ – so die landläufige Meinung – noch christliche Wertestrukturen und ein religiös-christliches Grundwissen sicherstellen, so scheint das Christliche in den Städten vielerorts bereits den Sonderfall darzustellen. Berlins Erzbischof Heiner Koch betonte zuletzt: „In unserer Stadt gibt es zehn Prozent Katholiken. Dazu kommen 15 Prozent Evangelische. Dann noch einige Moslems. Der Rest der Menschen glaubt an nichts.“ Das Christentum wird zum Exotentum. So berichtete ein Münchner Prälat unlängst, er sei während einer liturgischen Prozession anlässlich eines Marienfestes im Münchner Zentrum von einem Passanten gefragt worden, ob „hier gerade ein Film gedreht“ werde. Angesichts der Verdunstung des Christlichen gerade im Urbanen, wundert es nicht, dass die Stadt seit einiger Zeit verstärkt ins Bewusstsein pastoraler Überlegungen tritt. Papst Johannes Paul II. mahnte bereits 1990 in seiner Enzyklika „Redemptoris Missio“: „Heutzutage verändert sich das Bild der Mission ad gentes zusehends: zu den bevorzugten Orten müssten die Großstädte werden“ (37).
Urbane Räume kennzeichnen neben einer hohen Bebauungsdichte Faktoren wie Mobilität, soziale und kulturelle Diversität, Konsumorientierung, Schnelligkeit, Individualisierung und Digitalisierung. Solche Gegebenheiten fordern die Kirche zunächst formal heraus. Die Logik des Marktes beherrscht das Urbane. Für die Kirche in der Stadt bedeutet dies vor allem: Professionalisierung ihrer Kommunikation. Verkündigung heißt dann Marketing, Zeugen Influencer und Gemeinschaft Community. Weit schwieriger jedoch ist der inhaltliche Brückenschlag in die moderne Stadt. Denn die Stadt ist unverbindlich, das Christliche nicht. Das existenzielle Panorama eines Stadtmenschen prägen Multiperspektivität und Multioptionalität – und Einsamkeit. Mit der Vielzahl von Perspektiven und Optionen ist allerdings weniger gemeint, dass sich der einzelne Stadtmensch ständig neu erfindet – jeder mag durchaus seine Überzeugungen haben –, sondern vielmehr eine grundlegende Atmosphäre der Vielheit und Bewegung, in der alles gilt, solange es nicht allzu verbindlich ist. Das betrifft die Logik des Zusammenlebens (Patchwork) und die Logik der Arbeit (Agilität) ebenso wie die Logik der Moral (Subjektivität, Relativität). Es wundert deshalb auch nicht, dass das Paradigma der Unverbindlichkeit besonders im urbanen Raum zur Einsamkeit des Individuums führt. Fast die Hälfte der Deutschen lebt allein. In der Stadt bedeutet das meist: Tür an Tür mit zigtausend anderen. Jedes Jahr, so berichtet der Tagesspiegel, sterben in Berlin 300 Menschen unbemerkt in ihrer Wohnung und werden oft nur durch Zufall gefunden. Die Rechtsmediziner, so der Tagesspiegel, sprächen von einem zunehmenden Fäulnisgrad. Heißt: Die Toten liegen länger. Wie bedeutsam der soziale Faktor Einsamkeit geworden ist, zeigt Großbritannien: Dort richtete die Regierung im vergangenen Jahr einen eigenen Ministerposten für Einsamkeit ein.
Welche Optionen hat die Kirche, um den zugleich einsamen wie vermassten Menschen der Stadt zu erreichen? Neben tausend Veranstaltungen pro Tag und Nacht sind die Gottesdienste und Bildungsevents der Kirche längst nicht mehr als eine Randnotiz für eine weitere Special-Interest-Gruppe. Die relativ junge Disziplin der Citypastoral ist es, die nach neuen Begegnungsorten mit den Städtern sucht. Und weil das in Berlin die gleiche Herausforderung ist wie in Bukarest und Prag, stand der 23. Kongress der Solidaritätsaktion Renovabis (11. und 12. September 2019) unter dem Motto: „Kirche in der Großstadt – Herausforderungen für die Pastoral in Ost und West“.
Berlins Erzbischof Heiner Koch formulierte zu Beginn der Konferenz das allgemeine Desiderat: „Wir müssen Gott in der Stadt entdecken!“ Und er meine das wörtlich: Gott „ent-decken“, „die Decke wegziehen“, sichtbar machen. Aber wie? Für die Suche nach Lösungen definierte der Bischof von Plzeň/Pilsen (Tschechische Republik), Tomáš Holub, Leitplanken: „Wir brauchen vor allem zwei Dinge: Fantasie und die persönliche Beziehung zu Christus. Nur Fantasie – das führt in die Katastrophe.“ Pointiert spitzte Holub zu: „Wir müssen Christus mehr verkündigen als kirchliche Strukturen.“ Auch der Erzbischof von Chicago, Kardinal Blase JosephCupich, betonte die Voraussetzung des persönlichen lebendigen Glaubens: „Das Wichtigste ist das eigene Bewusstsein für die Taufe“.
Und dann spürte man auf dem Kongress das Kreisen des kirchlichen Echolots: Wie tief sind die säkularen Wasser der Stadt? Wo anknüpfen? „Bei allem, was ihnen bekannt ist und wahr, gut und schön ist“, so Holub, „Auch wenn es nicht von uns ist.“ Koch ergänzte: Wir dürften „nicht warten, bis die Leute zu uns kommen, sondern müssen hingehen zu ihnen.“ Markus Hermann von der Katholischen Arbeitsstelle für missionarische Pastoral (KAMP) in Erfurt, wies das Urbane ausdrücklich als „Laboratorium der Evangelisierung“ aus. Dabei müsse man sich auch auf „pastorale Risikofelder“ und „Experimente“ einlassen. Als Beispiel nannte er das in Erfurt praktizierte Weihnachtslob, bei dem im Anschluss an die Christmette ein Wortgottesdienst angeboten werde, der liturgisch „abgespeckt“ und damit wesentlich niederschwelliger sei. Das ziehe kirchenferne Menschen an.
Koch berichtete vom Weihnachtssingen im Stadion des 1. FC Union Berlin, das seit einigen Jahren am 23. Dezember mit 30.000 Fans stattfinde. Dies sei keine kirchliche Veranstaltung, betonte Koch. „Wir sind als Kirche dazu eingeladen worden.“ Als weitere Beispiele wurden genannt: ein Theaterprojekt der Citypastoral Berlin, bei dem da Vincis Abendmahl von 13 Laiendarstellern auf öffentlichen Plätzen nachgestellt wurde. Oder das internationale Kunstprojekt Before I die, bei dem Passanten ihre Lebenswünsche mit Kreide auf schwarze Tafelwände schreiben können. Die Reihe der Beispiele lässt sich fortsetzen. So werden etwa in München shopping-gehetzten Passanten in Fußgängerzonen Atempausen angeboten und im Rahmen der Langen Nacht der Münchner Museen lädt eine Lichtinstallation mit Entschleunigungsteppich Eventhungrige zu Achtsamkeit und Besinnung ein.
Erste Erfolge also. Und doch will sich in der Kirche – wie auch auf dem Kongress – keine allgemeine Begeisterung einstellen. Warum? Aus zwei Gründen: Erstens, weil diese neuen Dialoge des Christlichen mit der säkularen Stadtgesellschaft eben den Preis des Niederschwelligen zahlen. Man kann getrost rechnen: Je niederschwelliger das kirchliche Angebot, desto größer die Akzeptanz in der säkularen Öffentlichkeit und umgekehrt. Der Wunsch nach dem Erfolg von stadtpastoralen Maßnahmen birgt deshalb die Gefahr einer Umkehrung des missionarischen Anliegens: Man will mit der pastoralen Aktion der säkularen Zielgruppe mehr beweisen, wie sehr man als Kirche in deren Kategorien, den säkularen eben, agieren kann, als dass man noch den Wunsch hat, ihnen Christus als den Sinn des Lebens zu verkündigen. Die Folgen sind zufriedene Neu-Heiden, die der Kirche wohlwollend zunicken: „Wir sehen, ihr habt euch bekehrt“.
Vom Erstkontakt zur Kirchengemeinschaft
Das zweite Problem lautet: Gesetzt, ein Mensch wird durch eine stadtpastorale Maßnahme, sei es eine Kunstaktion, ein Gesprächsangebot oder einen Event, angesprochen und auf den Glauben aufmerksam. Wohin dann mit ihm? Findet dieser Mensch von selbst den Weg in eine Pfarreigemeinschaft? Will er das überhaupt? Und käme er dort klar, wenn er auf eine Welt aus Sonntagsgottesdiensten, Pfarrgemeinderatssitzungen und Erstkommunionvorbereitungen trifft? Die Frage nach dem Wohin ist existenziell. Einen Menschen mit dem Evangelium in Berührung zu bringen, ohne ihm dann die Hand zu reichen, um ihm die nächsten Schritte hinein in die kirchliche Gemeinschaft anzubieten, ist nicht respektvoll, sondern lieblos. Der Glaube bedarf, um wachsen zu können, einer Einführung, einer Hinführung und einer Weggemeinschaft. Es wäre schade, wenn die Kirche sich auf pastorale Maßnahmen konzentrierte, die – theologisch gesprochen – zwar den Samen des Wortes aussäen, dann aber keine Räume für das Wachstum anbietet.
So waren denn auch auf dem Renovabis-Kongress Töne zu hören, wenn auch leise, die das fehlende Bindeglied zwischen pastoralem Erstkontakt und Kirchengemeinschaft identifizierten. „Wo geht es danach hin? Wo ist die kleine Gemeinschaft, wo die hinkönnen?“, fragte Koch. Und auch Hermann forderte zum Nachdenken auf: „Welche anderen Formate kirchlicher Vergemeinschaftung gibt es?“ Fazit: Der Dialog der Kirche mit der säkularen Großstadt darf sich nicht in der Gabe von Informationen oder effekthascherischen Inszenierungen erschöpfen, ohne tiefergehende Angebote der christlichen Initiation zu machen. Wäre dem so, dann fehlte der „soziale Inhalt des Kerygmas“, den Papst Franziskus in „Evangelii Gaudium“ betont (177): „Vom Kern des Evangeliums her erkennen wir die enge Verbindung zwischen Evangelisierung und menschlicher Förderung, die sich notwendig in allem missionarischen Handeln ausdrücken und entfalten muss.“ (178)