Interview mit Rabbiner Andreas Nachama„Besorgte Gelassenheit“

Nach dem Anschlag in Halle warnt Andreas Nachama vor einem „Nachtwächterstaat“, der die Bedrohung der liberalen Gesellschaft nicht ernst nimmt. Zugleich mahnt er zu Gelassenheit und sagt, die jüdische Gemeinschaft dürfe sich nicht nur „von ihren Gegnern her“ definieren. Die Fragen stellte Volker Resing.

Wann haben Sie persönlich Antisemitismus erlebt?

Andreas Nachama: Ich habe in meinem Leben eigentlich wenig Antisemitismus persönlich erlebt. Ich bin in einem sehr jüdischen und zugleich antifaschistischen Umfeld in Berlin aufgewachsen. Ich ging in Berlin in eine staatliche Schule, die Direktorin war katholische Widerstandskämpferin und unter den Lehrern waren auch die meisten gegen die Nazis gewesen. Da hatte ich Glück, so waren unter den Mitschülern etwa die Kinder von Hans Rosenthal. Ich bin auf einer ziemlich glücklichen Insel in West-Berlin aufgewachsen.

Haben Sie in der Nachkriegszeit nicht auch als Heranwachsender die Schatten der Vergangenheit gespürt?

Nachama: Ich erinnere mich an eine besondere Begegnung unweit meiner Schule am Innsbrucker Platz. In der Nähe mussten mehrere Häuser für die damals entstehende Stadtautobahn gesprengt werden. Für die Schülerzeitung wollte ich damals den Sprengmeister interviewen. Ich habe mich mit ihm verabredet und ihn gefragt: Wie wird man Sprengmeister? Er berichtete, er habe im Zweiten Weltkrieg während des Warschauer Aufstandes 1944 unzählige Häuser niedergelegt, habe also große Erfahrung im Sprengen von Häusern. Zuhause hat mir meine Mutter natürlich sofort verboten, über den Nazi, wie sie sagte, in der Schülerzeitung zu berichten. Das leuchtete mir ein. Es blieb die Erfahrung, dass jemand im Alltag sich plötzlich als eine Art Mittäter entpuppte, obwohl er mir gegenüber ziemlich arglos von seiner Tätigkeit im Krieg berichtet hatte. Es war eigentlich ein relativ harmloser Fall, für mich als Schüler aber sehr eindrücklich.

Wo begegnen Sie heute Antisemitismus?

Nachama: Tatsächlich erlebe ich persönlich eher keine Anfeindungen, sondern habe eine sekundäre Erfahrung durch Berichte in den Medien über Angriffe etwa auf Rabbiner oder Erzählungen aus der jüdischen Gemeinde. Und außerdem gibt es bei mir teilweise ein diffuses Unbehagen. Ich wurde beispielsweise in die Antisemitismuskommission des Bundestages berufen, weil man dort festgestellt hatte, dass sie unter den Mitgliedern noch keinen Juden hatten. Als Quotenjude habe ich mich da sehr unwohl gefühlt.

Was läuft falsch in unserem Antisemitismusdiskurs?

Nachama: Falsch läuft, dass alle am Diskurs Beteiligten von sich selbst überzeugt sind, dass sie keine Antisemiten sein können. Hinter dem Phänomen des Antisemitismus stehen aber immer Ausgrenzungsstrukturen, die offengelegt werden müssen. Über solche Strukturen sind sich aber viele Wohlmeinende im Diskurs gar nicht im Klaren. Beim Rassismus sind solche Ausgrenzungsstrukturen oft sichtbarer, aber im Grunde ist Antisemitismus eben nur eine Spielart des Rassismus. Sich dies deutlicher vor Augen zu führen, ist dringend nötig. Viele in unserem Antisemitismusdiskurs glauben, sie können selbst keine Antisemiten sein, weil sie keine sein wollen. Aber am Ende schleichen sich in ihren Äußerungen und Taten dann doch Ausgrenzungsmuster ein, die eben sehr wohl auch Juden treffen können. Wenn in einem Gremium gegen Antisemitismus der Jude etwas Besonderes und Andersartiges ist, kann nicht wirklich etwas Gutes daraus werden.

Inzwischen gibt es einen Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung. Hilft das?

Nachama: Die Idee ist gut, die Ausführung hilft leider so nicht wirklich. Der Wehrbeauftragte ist nicht beim Bundesverteidigungsministerium angesiedelt, sondern er ist unabhängig. Der Antisemitismusbeauftragte aber sitzt im Bundesinnenministerium und ist kein Politiker, sondern ein Beamter. Das schwächt natürlich seine Durchsetzungskraft. Das ist falsch gedacht. Letztlich ist der Kampf gegen Antisemitismus auch in der Justiz oft noch zu halbherzig, wie man an der Freilassung des Attentäters auf das Centrum Judaicum vor wenigen Tagen sieht.

Wie erleben Sie denn die Entwicklung der Bedrohung jüdischen Alltags in den zurückliegenden 30 Jahren?

Nachama: Es gab auch schon früher Angriffe auf Juden oder auch Rabbiner, wie wir sie zuletzt wieder erlebt haben. Es gab auch früher Angriffe auf Synagogen wie jetzt in Halle. Insofern ist es nicht richtig, von einer völlig neuen Qualität des Antisemitismus zu sprechen. Aber es gibt leider in einem bestimmten Sockel von Antisemitismus unterschiedliche Konjunkturen, wenn man es so sagen will, und da erleben wir gerade wieder einmal einen gewissen Anstieg der Fälle.

Wie bewerten Sie denn die Gefahr durch den sogenannten „eingewanderten“ Antisemitismus?

Nachama: Tatsächlich wird der braune Sumpf größer durch den importierten Antisemitismus. Die Neonazis in Deutschland und der neue Antisemitismus sind aber in der Qualität der Bedrohung kaum zu unterscheiden. Möglicherweise verstärkt er sich auch wechselseitig. Tatsächlich gibt es bei beiden Gefahren eine gewisse Beschwichtigung, weil man sich Einzelfälle schönredet und nicht die Gesamtheit der Bedrohung bewertet. Nehmen Sie den jüngsten Fall des Messerattentats in der Neuen Synagoge in Berlin, wo die Justiz eine Strafverfolgung bisher abgelehnt hat. Manchmal habe ich die Sorge vor einem Nachtwächterstaat, der blind ist für die Gefahren. Da gebe ich Matthias Döpfner, dem Vorstandsvorsitzenden der Axel Springer SE, Recht, der dies neulich in der „Welt“ ähnlich beschrieben hat.

Was ist also Ihre Lehre aus dem Anschlag in Halle?

Nachama: Es geht nicht nur um Politik. Es geht auch darum, dass jeder in sich schaut und seinen eigenen verborgenen Antisemitismus und auch generell seine unentdeckten Ressentiments erkennt und bekämpft. Dazu kann es übrigens helfen, mal zu schauen, wo die nächste Synagoge zu finden ist, und diese einfach mal zu besuchen. Dazu kann es Zusammenarbeit geben von christlichen, jüdischen und muslimischen Gemeinden. Das gegenseitige Verstehen und Achten kann weder der Bundespräsident noch die Bundeskanzlerin anordnen, das muss wachsen.

Sie haben vor einem Jahr noch zu einer gewissen Gelassenheit angesichts der Entwicklung der AfD aufgerufen. Und heute?

Nachama: Ich würde auch heute dringend zu Gelassenheit aufrufen. Die antisemitischen Vorfälle sind immer inakzeptabel und zutiefst erschreckend. Aber wir als jüdische Gemeinschaft in Deutschland lassen uns nicht dadurch davon abhalten, unser jüdisches Leben möglichst normal zu leben, dass es Feinde gibt. Dass es in vielen Teilen Europas und Deutschlands immer noch problematisch sein kann, eine Kippa zu tragen, ist und bleibt eine bedauerliche Tatsache. Ich lehne einen Alarmismus genauso ab wie natürlich auch eine Gleichgültigkeit. Wir dürfen uns nicht von unseren Gegnern her definieren.

Wie sehen Sie den Antisemitismus, der sich in einer gewissen Israel-Kritik verbergen kann?

Nachama: Zunächst leben wir in einem freien Land und sind es zu Recht gewöhnt, Kritik an anderen Staaten zu üben. Von Erdoğan bis Trump, da wird auch teilweise harte Kritik und bisweilen sogar scharfe Schelte etwa an der Türkei oder den USA zum Ausdruck gebracht. Für mich beginnt unstatthafte Israel-Kritik, wo man mit zweierlei Maß misst. Meiner Meinung nach gibt es vom Bosporus bis zur Straße von Gibraltar an der südlichen Küste des Mittelmeeres keine Achtung der Menschenrechte – außer in Israel. Wo genießen Frauen Gleichberechtigung, wo herrscht Religionsfreiheit und wo freie Wahlen? Wenn man das aber bei seiner Bewertung Israels völlig ausblendet, kommt man zu kruden, im Kern antisemitischen Schlussfolgerungen. In den Tageszeitungen Israels wird die Regierung oder die Politik Israels scharf kritisiert und diskutiert. Natürlich ist auch in Deutschland alles, was auch in Israel in einer Zeitung stehen könnte, legitime Kritik und nicht antisemitisch.

Der Vorwurf lautet, die Israel-Kritik gehe zu weit, etwa im Umgang und Bewertung mit der Kampagne „Boycot, Divestment and Sanctions“ (BDS)?

Nachama: Es ist für mich auch wichtig, eine gewisse Größe zu haben und bestimmte Anfeindungen ertragen zu können, sonst macht man seine Gegner zu wichtig. Ich kann auch mit Personen umgehen, die mir gegenüber unliebsame Meinungen vertreten. Gefährlich wird es, wenn verallgemeinert wird, wenn von „den Juden“ und „den Israelis“ gesprochen wird, wenn „die Juden“ generell für die Politik des Staates Israel verantwortlich gemacht werden.

Die AfD ist die stärkste Oppositionspartei im Bundestag. Ist die AfD eine antisemitische Partei?

Nachama: Das ist sehr schwer abschließend zu beurteilen. Im Parteiprogramm sind etwa mit Blick auf das Schächten Toleranzgrenzen sehr eng gesetzt oder auch überschritten. Deutlich erschreckender sind demgegenüber bestimmte Äußerungen, wie etwa die von Alexander Gauland zum „Vogelschiss“. Ich habe allerdings auch ein großes Vertrauen in die deutsche Öffentlichkeit, die solche Aussagen zu Recht scharf verurteilt und den Skandal dahinter sichtbar werden lässt. Deswegen kann sich die AfD auch nicht den Anschein einer bürgerlichen Partei geben, weil sie keinesfalls entschieden gegen solche Entgleisungen vorgeht.

Sie haben die NSDAP einmal als damals moderne Partei beschrieben. Wie ähnlich ist die „Alternative für Deutschland“ der NSDAP?

Nachama: Die AfD hat überhaupt nicht die Stärke, um eine Volkspartei zu sein. Eine Volkspartei schafft es, von der Ärzteschaft bis zum Bauernverband eine Gesellschaft zu durchdringen. Das war das Toxische, dass dies der NSDAP damals gelungen ist. Bei der AfD sehe ich das nicht. Sie ist eine Klientelpartei, der es auch keineswegs in der Mitgliedschaft gelingt, breite Bevölkerungsschichten abzubilden. Das ist ja das Drama der SPD, dass sie genau diese Breite verliert und zerbröselt. Dass die AfD jetzt hier und da mal auf 20 Prozent kommt, ist erschreckend, macht sie aber noch nicht zu einer Volkspartei. Eine gewisse besorgte Gelassenheit ist deswegen auch hier angezeigt.

Über 30 Jahre lang haben Sie sich als Historiker mit der Erinnerung an das Nazi-Verbrechen beschäftigt. Was ist die wichtigste Veränderung in der Erinnerungskultur?

Nachama: Erinnerungskultur und Erinnerungspraxis sind wichtig, aber im Letzten gut und ausreichend sind sie natürlich nie. Da muss man sich auch vor falscher Idealisierung hüten. Die Geschichte, über die wir hier nachdenken, ist so grausam und so irreversibel, dass der Diskurs am Ende immer ein unvollständiger bleibt. Man kann diese 12 Jahre, 3 Monate und 8 Tage der Nazi-Zeit nicht irgendwie wieder gut machen. Und es ist auch wichtig festzuhalten, dass es am 8. Mai 1945 eigentlich kein Auge in ganz Europa gab, das nicht geweint hat. Das Leid hat den ganzen Kontinent erfasst, eigentlich nahezu jeden Menschen. Am Ende kann Erinnerung das immer nur ansatzweise erfassen. Wir können uns mit dem Schicksal der europäischen Juden, dem Leid der Sinti und Roma, dem Verbrechen gegen die Homosexuellen beschäftigen – und doch immer nur bruchstückhaft, exemplarisch und näherungsweise. Das muss uns klar sein. Es kann keine vollkommene Erinnerungskultur geben, da können die Mahnmale noch so groß sein. Und deswegen muss zwangsläufig auch die Erinnerung und das Wissen etwa der jungen Generation lückenhaft und bruchstückhaft bleiben. Es ist richtig, immer noch ein Mehr an Erinnerungsarbeit zu fordern, genauso richtig bleibt, dass es nie genug sein kann.

Judentum in Deutschland wird in den zurückliegenden Jahren stärker nicht nur über die Geschichte, sondern auch als heutige Religionsgemeinschaft wahrgenommen. Wie entwickelt sich jüdisches Leben in Deutschland?

Nachama: Es gibt ein lebendiges jüdisches Leben in Deutschland. Etwa in Halle, dort betete die Gemeinde an Jom Kippur, es war bis zu dem Anschlag fast alles gut. Das heißt aber auch, die ständige Bedrohung durch Nazis, aber auch durch den internationalen Terrorismus, ist Normalität. Darauf hat sich die jüdische Gemeinschaft eingestellt. Wichtig ist, dass die Feinde nicht Macht bekommen über die Art, wie wir als Juden leben. Jüdisches Leben ist möglich mit diesem ewigen „Dennoch“, wie es Leo Baeck gesagt hat, das aber ist über die Jahrtausende europäisch-jüdischer Geschichte in unterschiedlicher Schärfe eine Konstante.

Sind die Juden heute frommer als in den Siebziger- und Achtzigerjahren?

Nachama: Das Judentum in Deutschland war auch vor 1933 sehr stark vom Säkularismus geprägt, das hat sich nicht so entscheidend geändert. Aber das Erscheinungsbild hat sich seit den Achtzigerjahren auch durch Zuwanderung noch einmal stark gewandelt. Die jüdische Gemeinschaft ist heute viel bunter geworden. Nach Krieg und Holocaust gab es zunächst in West-Deutschland nur noch einen weniger öffentlich sichtbaren konservativ-orthodoxen Mainstream. Heute gibt es von Reform-Gemeinden und liberalen Gruppierungen bis hin zu chassidisch-orthodoxen Strömungen ein vielfältiges Erscheinungsbild an Ausprägungen des Jüdischseins in Deutschland. Das ist eine Form von Lebendigkeit, die insgesamt stärker das Judentum als Religionsgemeinschaft ins Bewusstsein rückt. Heute ähnelt das Judentum in Deutschland deswegen mehr dem Judentum in New York. Die vielen Strömungen sind, wenn auch klein, jetzt wieder in Deutschland angekommen.

Sie bauen in Berlin zusammen mit Muslimen und Christen mit am „House of One“. Katholiken sind nicht dabei, auch nicht der Mehrheitsislam. Ein Problem?

Nachama: Jetzt ist es noch kein Problem, weil es zunächst darum geht, eine Kirche, eine Moschee und eine Synagoge, verbunden in einem Gebäude, zu errichten. Wenn das Haus fertig ist, muss es aber potentiell ein Ort sein, der auch von Protestanten wie Katholiken und unterschiedlichen muslimischen und jüdischen Richtungen genutzt werden kann. Wenn es später einmal, wenn das Haus seine Türen geöffnet hat, nicht gelingt, möglichst viele konfessionelle Richtungen zum Mitmachen zu bewegen, haben wir einen Fehler gemacht. Aber ich bin sehr zuversichtlich, dass wir ganz unterschiedliche Gruppen einladen können, um so zu zeigen, dass das Miteinander ein viel größeres ist, als man es jetzt sehen kann. Dazu braucht es aber Zeit und Geduld.

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