Es war das Glück, den erträumten Rückzug geschafft zu haben, das mich nicht schlafen ließ. Ich war, dachte ich, in die Emigration gegangen, ohne das Land das mich hielt, verlassen zu haben“ (158). In „Vierzig Jahre“, dem zweiten Teil seiner großen Autobiografie, schildert Günter de Bruyn, wie er nach monatelangem Kampf mit Bauschutt und Bürokratie in seinem baufälligen Haus keinen Schlaf finden kann – denn er ist erfüllt von einem ungeheuren Glücksgefühl, dem Obrigkeitsstaat mitten in der Mark Brandenburg entkommen zu sein.
Aber der Traum vom Rückzug in die „Waldeinsamkeit“ erweist sich als Fiktion. Bereits in der ersten Nacht dringt ein Panzerspähwagen in de Bruyns Paradies ein; aus einem nahen Militärgebiet rücken Bewaffnete mit Motorengedröhn bis in den Garten vor; Scheinwerfer werden auf das Haus gerichtet: „Genossen, schrie eine Kommandostimme auf sächsisch, unsere Marschrichtung war falsch“ (159).
De Bruyns Werdegang lässt sich knapp zusammenfassen: geboren 1926, katholisch geprägte Kindheit in der Berliner Diaspora, Flakhelfer, schwere Verwundung, Gefangenschaft, Berufseinstieg als Neulehrer, später Ausbildung zum Bibliothekar mit wissenschaftlicher Tätigkeit in der Berliner Staatsbibliothek – ehe es ihm gelang, sich ein neues Leben aufzubauen. Damit glückte dem Autor, eine Existenz als „freier Schriftsteller“ zu begründen.
Dass de Bruyn darauf beharrte, sich Glaubensfragen und Gewissenszweifel nicht verbieten zu lassen, sondern Brüche, Spannungen und Konflikte der DDR-Gesellschaft mit Witz und Ironie zu benennen, machte ihn seit „Buridans Esel“ (1968) zu einem vielbeachteten Autor, verschaffte ihm bei der Zensur jedoch das Markenzeichen, ein „Individualist“ und „literarischer Einzelgänger“ zu sein.
Mit dem Erscheinen von „Neue Herrlichkeit“ sahen viele Funktionäre ihr Misstrauen vollauf bestätigt. Denn der Roman über ein Landrefugium für Parteikader in der Mark Brandenburg, das unweit einer Müllkippe angesiedelt ist, erschien den Oberzensoren aufgrund der dargestellten gesellschaftlichen Entfremdung so unerhört, dass die bereits gedruckte Erstauflage von 20.000 Exemplaren makuliert wurde. Erst nachdem das Buch 1984 in der Bundesrepublik publiziert worden war, durfte der Band ein Jahr später auch im Osten erscheinen.
Auf jene Endzeitparabel, die Angst vor der ökologischen Katastrophe mit Kritik an quasifeudalen Gesellschaftsverhältnissen verband, lässt der 92-jährige Autor nun – drei Jahrzehnte später! – mit „Der neunzigste Geburtstag. Ein ländliches Idyll“ jetzt eine beeindruckend-antiidyllische Geschichte folgen. In einem ländlichen Kosmos dreht sich alles um eine Krise der „Ökologie“, die umfassend zu sein scheint. Benedikt XVI., der wie de Bruyn und Günter Grass der „Flakhelfergeneration“ angehört, hat diesen Sachverhalt 2011 bei seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag folgendermaßen charakterisiert: „Es gibt auch eine Ökologie des Menschen. Auch der Mensch hat eine Natur, die er achten muss“.
Dass Diktaturerfahrungen älterer und jüngerer Zeit Spuren hinterlassen haben, ist für den Romanautor eine Tatsache. Die auf ihre alten Tage im elterlichen Haus „wiedervereinten“ Geschwister Hedwig und Leonhardt Leydenfrost schildert er jedoch als ein Gegensatzpaar, das die Fähigkeit besitzt, mit den Widersprüchen gemeinsam-geteilter Geschichte ironisch und human umzugehen. Hedwig, die im Westen sozialisierte Kinderärztin und „Aktivistin der außerparlamentarischen Opposition“, sowie ihr jüngerer Bruder, der in Ostdeutschland als Bibliothekar arbeitete, liefern sich Wortgefechte, in denen Leos Ressentiment (drohender Islamismus; Sprachverfall; Genderwahn) durch die Weltläufigkeit der Schwester gemildert wird. Die Idee, Hedwigs 90. Geburtstag durch eine Spendenaktion für Flüchtlingskinder zu würdigen und eine „Aktion neue Heimat“ ins Leben zu rufen, erfährt eine sehr charakteristische Abwandlung: Alte und neue Seilschaften schmieden daraus den Plan, ein lukratives „Holiday Resort Seeblick“ zu eröffnen – ein Projekt, bei dem Stasileute und Investoren Hand in Hand arbeiten. Eine wirkliche Win-win-Situation für die brandenburgische Provinz?
Dass der neue ‚Pastor „Ein feste Burg ist unser Gott“ nicht mehr über die Lippen bringe (268), teilt Leo „seiner“ von ihm schmerzlich vermissten Pfarrerin Anna in einem Brief am Ende des Romans mit: Wo die christliche Botschaft ihre Sperrigkeit verliert, schreibt der Autor den Kirchen damit ins Stammbuch, hat Glaube – anders wie noch zu Zeiten des Mauerfalls, als der christlich inspirierte Ruf „Keine Gewalt!“ zum Sieg der Friedlichen Revolution beitrug – keine Chance mehr, das Leben der Menschen zu prägen.
Thomas Brose