Diese Biographie ist nicht zufällig so umfangreich: Sie behandelt ein nicht nur langes, sondern auch in vieler Hinsicht außergewöhnliches Leben, in dem sich ein ganzes Jahrhundert deutscher, speziell protestantischer Geschichte spiegelt. Es geht um Martin Niemöller (1892–1984), westfälischer Pfarrerssohn, zunächst Marineoffizier, dann Pfarrer in Münster und Berlin-Dahlem, führender Exponent der „Bekennenden Kirche“ während des Nationalsozialismus, dann „Persönlicher Gefangener des Führers“ in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Dachau, nach dem Krieg 17 Jahre lang Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau.
Der im englischen Sheffield lehrende Benjamin Ziemann arbeitet die Spannungen und Ambivalenzen auf den unterschiedlichen Lebensstationen von Niemöller deutlich heraus, sei es in seiner Stellung zum Nationalsozialismus, sei es in seiner Haltung gegenüber der bundesdeutschen Demokratie und ihren Mechanismen. Ziemann zeigt, wie sehr der ehemalige Offizier von einer durchgängigen nationalprotestantischen Grundhaltung geprägt war, wie sie seinerzeit weite Teile des deutschen Protestantismus und seiner Pfarrerschaft kennzeichnete. Als blinden Fleck von Niemöllers Weltbild weist er auf dessen persönliches antisemitisches Ressentiment, dessen „habituell tief verwurzelte gesellschaftlich-kulturelle Judenfeindschaft“ hin. Ambivalenzen gab es nicht zuletzt in Niemöllers Verhältnis zum Katholizismus: Während er nach dem Zweiten Weltkrieg die vermeintlich zu „katholische“ Bundesrepublik heftig kritisierte, hatte er in seiner Zeit im Konzentrationslager über Jahre hinweg eine Konversion zum Katholizismus ernsthaft erwogen, aus einem tiefen Unbehagen an Defiziten im zersplitterten und bürokratisierten Protestantismus heraus.
Am Ende von Niemöllers langem Leben, so konstatiert Ziemann, hätten sich die evangelischen Kirchen in einem von „Kirchenkrisen, religiösem Pluralismus und neuen Formen der Sinnsuche“ geprägten Umfeld bewegt. Damit sind Herausforderungen benannt, die sich weder aus der Tradition des Nationalprotestantismus noch durch eine neue katholische Engstirnigkeit und Phantasielosigkeit beim Thema Kirche und Mission sinnvoll angehen lassen. Ulrich Ruh