Nachdem sich in diesem Herbst buchstäblich Millionen von Menschen gefragt hatten, was nun schon wieder mit Kanye West los ist, gab der Rapper dem britischen Talkmaster James Corden vor wenigen Wochen in einem Flugzeug ein ausführliches Interview. Er habe eben eines Tages, als er wieder einmal im Krankenhaus lag, den inneren Ruf gehört, eine Kirchengemeinde an seinem Wohnort Calabasas, Kalifornien zu gründen. Und danach sei die Sache einfach immer größer geworden: „Ich will es so bescheiden ausdrücken wie möglich“, sagte Kanye: „Gott benutzt mich, um anzugeben.“
Kanye (sprich: „Kanje“) West, 42, ist einer der einflussreichsten Männer der Popkultur und einer der erfolgreichsten Rapper aller Zeiten. Seine internationale Bekanntheit (er taucht auch regelmäßig in der Reality-Fernsehshow „Keeping Up with the Kardashians“ seiner Ehefrau Kim Kardashian auf) ist vergleichbar mit derjenigen der Beatles in den Sechzigerjahren, als John Lennons berühmtes Diktum „Wir sind gerade populärer als Jesus“ fiel. Zugleich ist Kanye aber auch die Verkörperung aller Schattenseiten, die das Dasein als Megastar in der digitalen Mediengesellschaft mit sich bringen kann. Mit seinen Alkoholabstürzen (Hennessy-Flaschen-Auftritt bei den MTV-Videoawards 2009), mit verwirrten politischen Botschaften (400 Jahre Sklaverei in Amerika klängen für ihn „nach eigener Wahl“ der Schwarzen, sagte er 2018), mit psychischen Zusammenbrüchen (Diagnose: bipolare Störung) und Klinikaufenthalten.
Entsprechend überrascht reagierte sein Publikum, als es Anfang dieses Jahres hieß, Kanye West habe ein christliches Erweckungserlebnis gehabt und veranstalte neuerdings Sonntagsgottesdiente. Ende Oktober erschien nun das passende Album dazu: Es heißt „Jesus Is King“. Kanye selbst spricht von seinem ersten Gospelalbum, was allerdings leicht in die Irre führt: Abgesehen von einigen Einsätzen seines Gospelchors und einigen gesungenen Passagen handelt es sich musikalisch gesehen einfach um Rap.
Umso stärker zeigt sich der Gospel-Charakter in den Texten, die sich ausschließlich mit seiner neuen Liebe zu Jesus befassen. Kanye erzählt von seiner früheren Einsamkeit, von Erlösungsbedürftigkeit und himmlischem Licht, lässt Judas, Abraham oder Isebel auftreten und zitiert die Psalmen. Der Glaube erscheint dabei nicht zuletzt als Befreiung aus dem endlosen Spaß der Konsumgesellschaft: „Erziehe unsere Söhne, bring ihnen den Glauben bei. / Lass sie wachsam sein in aller Anfechtung / Mach, dass sie Jesus folgen, auf ihn hören, ihm gehorchen / Schluss mit dem Leben für die Kultur; wir sind niemandes Sklaven.“
Seitdem „Jesus Is King“ erschienen ist, diskutieren die Fans mit großer Leidenschaft, was von solchen Tönen zu halten ist: Der verrückte Kanye West, plötzlich ein frommer Prediger? Schnell kam der Verdacht eines PR-Stunts auf: Kanyes Ansehen hat gerade in der schwarzen Bevölkerung der USA schwer gelitten, seit sich der Rapper als Fan Donald Trumps zu erkennen gegeben hat und ihn mit rotem „Make America Great Again“-Cap im Weißen Haus besuchte („I love this guy“). Nun, mit seinem christlichen Schwenk, könnte Kanye einfach seinen Ruf wieder aufpolieren wollen, vermuten Kritiker.
Wie dem auch sei, klar ist erstens: Durch „Jesus Is King“ kommen derzeit massenhaft auch solche Menschen mit der christlichen Botschaft in Berührung, die von den Kirchen nicht erreicht werden. Und zweitens: Die Kombination von Hip-Hop mit Spiritualität ist keineswegs weit hergeholt. Rap, dessen Entstehung unter anderem auf den deklamierenden Sprechduktus afroamerikanischer Prediger zurückgeführt wird, hat schon immer religiöse Einflüsse aufgenommen. So wie viele Gründungsgestalten des Hip-Hop gerade auch muslimischen Bürgerrechtsbewegungen nahestanden – Afrika Bambaataa, Public Enemy –, bekannten sich auch immer wieder erfolgreiche Rapper zum Christentum, bis heute: Kendrick Lamar etwa, der als wichtigster Rapper unserer Zeit gilt, kommt auf keinem seiner Alben ohne Gott aus.
Entsprechend hat sich auch Kanye West stets als Erbe der schwarzen Soultradition und ihrer christlichen Wurzeln gesehen und auch auf früheren Alben bereits hin und wieder mit entsprechenden Texten experimentiert. Einer dieser Songs heißt „Jesus Walks“ und erschien 2004. Darin hieß es: „Ich möchte zu Gott sprechen, aber ich habe Angst davor. Weil wir schon sehr, sehr lange nicht mehr gesprochen haben.“ Heute ist Kanye West zumindest schon mal einen Schritt weiter.
Lucas Wiegelmann