Schon lange spricht man davon, dass das Christentum in Staaten mit scharfer Christenverfolgung nur in Hauskirchen überleben könne, und hat dabei im Hinterkopf: jedenfalls besser als in einer zentralisiert-hierarchischen, womöglich staatsgelenkten Kirche. Hauskirchen haben vor allem im freikirchlichen Umfeld Erfolg und sind dort als kirchenbildendes Prinzip anerkannt. Auch im katholischen Umfeld gelten sie hie und da als pastorales Modell. Man beruft sich hierfür auf die Anfänge der Kirche. In allen Handbüchern und Lexika, ob evangelisch oder katholisch, ist zu lesen: Das früheste Christentum habe sich auf seinem missionarischen Weg in Hauskirchen ausgebreitet. Davon habe es viele in jeder Stadt gegeben, je größer die Stadt, desto mehr.
Diese Vorstellung, wonach der Glaube in städtischen Wohnhäusern reicher Hausbesitzer begonnen habe, in denen sich Christen – in den Verfolgungen heimlich! – versammelten, wo der Hausvater oder die Hausmutter der Eucharistie vorsaß und wo man das Bibelwort miteinander teilte, ist außerordentlich suggestiv. Damit verbunden ist die Idee, am Anfang habe es kein einheitliches Christentum gegeben, sondern ein polyzentrisches, tolerantes, inklusives Christentum: Christentümer im Plural. Jede Hauskirche habe ihr eigenes Christusbild und ihre eigene Liturgie gepflegt, mal „konservativer“, mal „liberaler“. Die später als Sekten verunglimpften Markioniten, Valentinianer oder Kerdonianer seien in Wahrheit legitime Vertreter von Hauskirchen gewesen. In der Immigrantenstadt Rom habe es nach Ethnien und Sympathien getrennt die Hauskirchen der griechischen Judenchristen, der kleinasiatischen Quartodezimaner, der Valentinianer und so weiter gegeben. Diese pluralistische Welt sei erst durch das Aufkommen des Monepiskopats (die Leitung einer Ortsgemeinde durch einen Bischof) unter Kontrolle gebracht und in die Einheit gezwungen worden. Bischöfe hätten den Hausvätern und -müttern ihre Autonomie entwunden und die Hauskirchenkultur zerstört.
Ein solches Narrativ passt ausgezeichnet in die heutige Tendenz, Gesellschaft und Kirche zu denken. Aber im Grunde genommen bewegt man sich damit im Bereich der Legende, und zwar wortwörtlich. Denn das romantische Bild der Hauskirchen wurde von den römischen Märtyrerlegenden des 5. und 6. Jahrhunderts erfunden, und zwar so erfolgreich, dass es bis heute nachwirkt. Da nehmen etwa die Aristokratinnen Pudentiana und Praxedis die verfolgten Christen in ihrer Stadtvilla auf und feiern mit ihnen zusammen heimlich Gebetsgottesdienste. Viele andere Beispiele könnte man nennen. Es sind dieselben Legenden, die auch die „Kirche der Katakomben“ erfunden haben, so als ob sich während der Verfolgungen die Christen in Katakomben versteckt hätten.
Ist der Mythos der „Kirche der Katakomben“ längst wissenschaftlich entlarvt worden, so kann man das von den Hauskirchen noch nicht behaupten. Sie ins Reich der Legenden zu schicken, wo sie hingehören, stößt auf breiten Widerstand. Manche christlichen Richtungen halten nämlich die hierarchische Bischofskirche für unbiblisch, sehen hingegen in den Hauskirchen das biblisch verbürgte Gegenmodell. Sie verweisen auf die angebliche „Hauskirchenformel“, die Paulus zwei Jahrzehnte nach Ostern in seinen Briefen gleich viermal verwende (Röm 16,5; 1 Kor 16,19; Kol 4,15; Phlm 2). Aber hier ist Vorsicht geboten. Denn schon das Wort „Hauskirchenformel“ ist tendenziös: Es suggeriert einen Fachbegriff für einen erwiesenen Sachverhalt. In Wirklichkeit gibt es weder bei Paulus noch sonst wo eine „Hauskirchenformel“.
Von den vier Stellen mag Kol 4,15 als Beispiel dienen. Paulus schreibt an die Christen in Kolossä: „Grüßt (…) auch Nympha und die Gemeinde in ihrem Haus.“ Irreführend ist hier schon die Einheitsübersetzung, wenn sie das griechische Wort ekklesía mit „Gemeinde“ überträgt. Da denkt man an Pfarrgemeinde. Aber Pfarrgemeinden gab es im ganzen ersten Jahrtausend nicht, schon gar nicht bei Paulus. Die richtige Übersetzung muss lauten: „Grüßt (…) auch Nympha und ihre Hausgemeinschaft.“ Paulus spricht das ganz gewöhnliche Umgangsgriechisch seiner Zeit, und da kann das Wort ekklesía einfach eine Gemeinschaft von Menschen bedeuten. In diesem Sinne grüßt er höflicherweise am Ende seines Briefes die Gemeinschaft des Hauses der reichen Nympha, zu der gewiss auch Nichtchristen gehörten. Eine Hausgemeinschaft umfasste nämlich die Familie, Sklaven und Klienten. Wieso sollte Paulus diese eine Hausgemeinschaft der Nympha als „Kirche“ bezeichnen? Dafür gibt es gar keinen Grund. Auch alle drei anderen Hauskirchenformeln sind normale Briefgrüße, in denen es um Höflichkeit unter befreundeten Menschen geht. Dieser Sachverhalt, der sich mit jedem Schullexikon der Gräzität belegen ließe, ist meines Wissens noch keinem Bibelwissenschaftler aufgefallen.
Wenn Paulus ansonsten das Wort ekklesía in einem spezifisch christlichen Sinn verwendet, dann ausschließlich für alle Christen einer Stadt, also nicht etwa für eine „Gemeinde“, sondern für die Ortskirche – beispielweise, wenn er seinen 1. Korintherbrief an die „Kirche Gottes, die in Korinth ist“ (1 Kor 1,2) adressiert. Dagegen wird ins Feld geführt, Paulus richte seinen Römerbrief „an alle in Rom“ (Röm 1,7), ohne die Christen als „Kirche“ im Singular zu bezeichnen und somit ohne eine zentrale Versammlung vorauszusetzen – eben weil es in Rom mehrere „Kirchen“ gegeben habe.
Eine solche Argumentation verwundert. Denn wie soll der Brief „alle in Rom“ erreichen, wenn nicht durch die Verlesung in der Gemeindeversammlung? Man traf sich zum gemeinsamen Gottesdienst, und zwar jeden Sonntag, sodass der Brief in Abschnitten verlesen und ausgelegt werden konnte. Angesichts seines Umfangs – er hat für damalige Verhältnisse Buchlänge – dauerte das Monate. Dass er stattdessen wie ein Zirkularschreiben in Hauskirchen kursiert wäre, ist undenkbar, weil sich so die Verlesung über viele Jahre erstreckt hätte.
Um das zu beschleunigen, hätte man den Brief für jede Hauskirche kopieren müssen, aber wer hatte dafür die Zeit und das Geld? Und weiter: Ein so kapitaler Brief wie der Römerbrief wäre angesichts einer weitgehend analphabetischen Bevölkerung vergebene Liebesmüh, wenn er nicht in kleinen Häppchen verlesen und sogleich erläutert würde. Soll man denn annehmen, dass in jeder Hauskirche einer da war, der lesen konnte, und dann auch noch ein anderer, der so theologisch gebildet war, dass er den Brief auslegen konnte? Wie viele Theologen gab es denn in Rom? Soll man wirklich glauben, dass die Verkündigung und Auslegung eines Apostelbriefs irgendwelchen Hausvätern und -müttern überlassen blieb? Ein solcher Brief aus der Hand des Apostels selbst war doch die Sensation schlechthin, eine ungeheure Ehre für Rom. Er erforderte die gesammelte Aufmerksamkeit aller, und niemand wollte die Verlesung dieses Briefs verpassen. Hätte der Brief von Hauskirche zu Hauskirche kursieren sollen, warum erwähnt Paulus das nicht ausdrücklich?
Fallen jedenfalls die vier Paulusstellen weg, stürzt die gesamte Hauskirchen-Theorie zusammen. Denn: Nicht eine einzige andere Stelle im Neuen Testament spricht davon, dass sich bestimmte Christengruppen einer Stadt dauerhaft in den Häusern reicher Eigentümer zur Eucharistie getroffen hätten. Natürlich erwähnt die Apostelgeschichte an vielen Stellen „Häuser“, in denen sich Christen trafen. Aber auch hier unterstützt die Einheitsübersetzung die Idee einer Vielzahl von Hausgemeinden mit Eucharistiefeier. Apg 2,46 wird so übersetzt: „(Die Christen in Jerusalem) brachen in ihren Häusern das Brot.“ Der griechische Text sagt aber nur: „sie (...) brachen in einem Haus (kat’oikon) Brot“. Da ist nur von Brotverteilung und gemeinsamem Mahl in einem Haus die Rede. Alles andere ist Interpretation. Nirgends in der Apostelgeschichte lässt sich ein in verschiedene Hausgemeinden zerfallendes Christentum nachweisen. Im Gegenteil: Die Einheit des Gottesdienstes aller Christen eines Stadtgebiets wird stets betont (Apg 2,44).
Wenn sich hingegen der christliche Glaube, wie behauptet wird, standardmäßig in vielen Hauskirchen ausgebreitet (und kirchlich organisiert) hätte, wieso gibt es dann dafür kein eigenes Wort, weder im Griechischen noch im Lateinischen? Wenn überhaupt, ist im 3. Jahrhundert von der domus ecclesiae oder dem oikos tes ekklesías die Rede, aber das meint das Kirchengebäude beziehungsweise das Gebäude der Kirchenversammlung und bestimmt keine Hauskirche. Es gibt auch keinen einzigen archäologischen Hinweis auf Hauskirchen, weder in Rom noch sonst wo. Gern wird an dieser Stelle auf Dura Europos verwiesen, jene vollständig ausgegrabene Stadt am Euphrat, die in der Mitte des 3. Jahrhunderts aufgegeben wurde. Dort hat man ein ehemaliges Wohnhaus ausgegraben, das christlich genutzt wurde, was aber exakt gegen die Hauskirchen-Theorie spricht. Denn in der gesamten Stadt gab es nur diesen einen Gottesdienstort (wie auch nur eine einzige Synagoge). Das betreffende Haus wurde auch nicht mehr bewohnt, sondern diente ausschließlich als bischöflicher Kirchenkomplex mit einem Eucharistie- und Taufraum. Alle Christen der Stadt kamen dort zur Eucharistiefeier zusammen.
Eine Stadt, ein Bischof, eine Eucharistie
Damit ist ein wichtiger Hinweis gewonnen, wie man sich die Anfänge des Christentums ohne legendäre Hauskirchen vorstellen muss. Geht man sämtliche Textquellen durch, so stellt man fest, dass sich bis ins 4. Jahrhundert in keiner einzigen Stadt des christlichen Erdkreises mehr als ein Eucharistieort nachweisen lässt. In allen Texten ist immer nur von einer Kirche beziehungsweise einer Eucharistieversammlung in einer Stadt die Rede. Justin der Märtyrer (um 160) sagt ausdrücklich, dass sich alle Christen der Städte und der Vorstädte an ein und demselben Ort zur Sonntagseucharistie treffen; dort kommen alle zusammen. Es gibt keine geheimen, dezentralen Gottesdienste, sondern alles spielt sich in der städtischen Öffentlichkeit ab. Selbst Rom bildet hier keine Ausnahme. Allerdings gab es zumindest in Rom weitere Treffpunkte diverser „philosophischer“ Christengruppen, mehr oder weniger elitärer Zirkel. Aber auch sie kamen zur gemeinsamen Eucharistie mit dem „Vorsteher“.
Ebenso wichtig wie Justin ist Ignatius von Antiochia (Anfang 2. Jh.), der in seinen Briefen an die Christen in mehreren kleinasiatischen Städten betont, dass sich dort jeweils alle Christen mit dem Bischof und dem Presbyterium um den einen Altar versammeln. Manche Gelehrte bemühen sich, diese Briefe als Fälschung zu erweisen, bislang ohne Erfolg. Es gibt kaum authentischere Briefe als die des Ignatius, auch wenn die Datierung in den ersten Jahrzehnten des 2. Jahrhunderts nicht präzise bestimmt werden kann. Ignatius spricht das aus, was faktisch überall die Regel war: Es gibt in jeder Stadt nur eine einzige Eucharistiefeier, welcher das Presbyterium beziehungsweise der Bischof vorsteht. Erstaunlich ist, dass der engagierte Christ Hermas (um 140), der selber ein Stadthaus in Rom besitzt, keine eigene Hauskirche leitet! Vielmehr kennt auch er nur die gemeinsame Eucharistie der Presbyter. Auch sonst geben weder die Apostolischen Väter, noch die Apologeten, weder ein Hippolyt noch ein Origenes oder sonst ein Schriftsteller des 2. und 3. Jahrhunderts irgendeinen brauchbaren Hinweis auf die Existenz von Hauskirchen.
Öffentlicher Kultus
Ist einmal der Mythos der Hauskirchen gefallen, hat das Konsequenzen für die Kirchengeschichte. Ein Christentum, das sich über private Stadtresidenzen ausgebreitet hätte, hätte sich vorrangig auf reiche Bürger gestützt, die sich solche Häuser leisten konnten. Ein solches Christentum wäre als Eliten- und Reichenreligion wohl bald verschwunden. Eine Hauskirchenkirche wäre exklusiv gewesen, nur die bischöfliche Einheitskirche gewährleistet Inklusion. Am Anfang stand tatsächlich die Gottesdiensteinheit: Reiche und Arme, Weiße und Schwarze, Frauen und Männer, Griechen und Lateiner, Hellenisten und Judaisten: Alle bildeten die eine Gemeinschaft, und gerade deshalb kam es auch zu Spannungen, die man aushalten musste. Schon die Eucharistiegemeinschaft in Korinth, der Paulus seinen Brief schreibt, umfasste alle Christen der Stadt (1 Kor 11,18; 14,23). Sie fand gerade nicht „zuhause“, in einem Wohnhaus, statt (1 Kor 11,22). Weil vielmehr alle von zuhause in den gemeinsamen Gottesdienstsaal gekommen waren, gab es Streitigkeiten (1 Kor 11,18). Paulus sagt nicht: Wem das hier zu konservativ ist, der könne doch in eine andere Hauskirche wechseln. Denn solche Ausweichmöglichkeiten gibt es nicht! Es gibt immer nur die eine (Orts-)Kirche Jesu Christi, keine Privatkirche der Nympha, des Aquila, der Priska oder sonstiger Hausbesitzer.
Es ist von größter Bedeutung für die frühchristliche Liturgieentwicklung, dass mit dem Wegfall der Hauskirchen auch die Idee obsolet wird, es habe Privatgottesdienste gegeben, bei der jeder pater familias nach Vermögen seine Liturgie kreierte. Wenn Romano Penna meint, für Paulus sei der einzige Kirchen- und Kultort das Haus und der christliche Kult sei ein Haus- und Familienkult oder schlechterdings kein Kult, so ist dem energisch zu widersprechen. Natürlich haben die Christen zuhause gebetet, aber sie haben nie beansprucht, damit die bischöfliche Gemeinschaftsliturgie ersetzen zu können. Grundprinzipien christlicher Liturgie sind vielmehr ihre Bischöflichkeit und Öffentlichkeit. Die christliche Liturgie in ihrer Hochform der Tauf- und Eucharistiefeier steht in der Tradition des öffentlichen Kults, nicht der Mysterienfeiern. Sie hat sich nicht aus privaten Hausgemeinschaften heraus entwickelt, sondern besitzt von Anfang an ein starkes Einheitselement, insofern es in einer Stadt immer nur einen Kult und damit auch eine einzige Art der Liturgie gibt.
Das Klischee einer Katakomben- und Hauskirchenkirche, die sich in privaten Zirkeln versteckte, muss endgültig aus dem Repertoire der Historiker verschwinden. Jeder konnte wissen, wo die Christen sich trafen und was sie taten. Justin sagt um 150 an die Adresse der Heiden, dass in jeder Stadt nur ein Kultort bestehe und dort immer dieselbe Liturgie gefeiert werde, die er dann in Hinsicht auf Eucharistie und Taufe beschreibt. Wie konnte er das wissen, wenn unzählige Hauskirchen mit entsprechend vielen Spielarten von Gottesdienst existierten? Aber Justin konnte sehr wohl erfahren, dass die Gottesdienste, die er in den Städten Palästinas, Kleinasiens und Italiens erlebt hatte, immer gleich waren. Eine zentrale Liturgiefeier entwickelt schnell repräsentative Formen und benötigt ein ausdifferenziertes Kultpersonal. Die Personalstruktur der Ortskirche in den Stufen Diakon-Presbyter-Bischof entwickelt sich vom zentralen Kult her und ist im zweiten Jahrhundert voll entfaltet.
Die Einheit der städtischen Gottesdienstgemeinde, die Beschränkung auf einen einzigen Ort und Altar sind ferner wichtige Instrumente der Autoritätssicherung des Presbyteriums und des Bischofs einer Stadt. Ihr Interesse ist nicht eine Stadtviertelpastoral durch ein immer größer werdendes Netz von Kirchen, sondern im Gegenteil das Beharren auf der einen Kirchenversammlung an dem einen Altar. Der bereits im zweiten Jahrhundert etablierte Monepiskopat definiert sich topographisch: In einer Stadt gibt es nur einen Bischof, ja es darf nur einen Bischof geben (Konzil von Nizäa, can. 8). Konkret bedeutet dies: Die Jurisdiktion des Bischofs umfasst das Stadtgebiet (samt Vorstadt). Interessanterweise spielt dafür die Größe der Stadt keine Rolle: Nicht einmal in Rom gibt es mehrere Bischöfe, obwohl man sich dafür sogar auf zwei Apostel (Petrus und Paulus) hätte berufen können. Wenn aber die Einheitsregel für die Bischöfe gilt, wieso sollte es dann mit den Gottesdienstorten und Altären anders sein? Erst mit der unerwarteten Taufwelle nach der konstantinischen Wende wurde es in größeren Städten nötig, weitere Kirchen mit eigenem Klerus, aber in strikter Abhängigkeit vom Ortsbischof, zu errichten.